"Urlaub in Kurdistan"?
Seite 3: Kobani: Auferstanden aus Ruinen - Die "Einladung der Internationalen Anti-IS-Koalition"
- "Urlaub in Kurdistan"?
- Klimawandel hat auch Kurdistan erreicht
- Kobani: Auferstanden aus Ruinen - Die "Einladung der Internationalen Anti-IS-Koalition"
- Bei den eingeschlossenen Kurden im Norden von Aleppo
- Ein Besuch im Camp "Al-Hol - Kann der IS wieder "auferstehen"?
- "Keine Demokratie ohne alternative Medien und starke Opposition"
- Was ist mit Baschar-al-Assad?
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Über ar-Raqqa, einst die Hauptstadt des IS, und Ain Issa fuhren wir, Kim und ich, nach Kobani, um einer "Einladung der von den USA angeführten Internationalen ANTI-IS-Koalition" zur "Siegesfeier" über den IS nachzukommen.
In Ain Issa, welches zum Gouvernement ar-Raqqa gehört, befinden sich viele Behörden der "Autonomen Selbstverwaltung" in Nordsyrien. Nicht weit von hier sind auch amerikanische Truppen, darunter auch die Luftwaffe, die der Region einen gewissen Schutz vor dem IS, der Türkei, dem Iran und Assad bieten, stationiert.
Die Stadt ist mehrheitlich arabisch-sunnitisch. Im Juli 2015 sollen rund 15.000 Menschen, davon 15% Kurden, hier gelebt haben. Mit Tränen in den Augen traf ich hier einige Kurden, Geflüchtete aus Afrin. Darunter Hevi Mustafa, die kurdische Alevitin und bis März 2018 Präsidentin des Kantons Afrin. Als ich diese bekannten Gesichter aus Afrin sah, lief die ganze tragische Geschichte von Afrin wie ein Film vor meinen Augen ab. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich noch auf viele andere traurigen Gesichter aus Afrin stoßen werde.
Gegen 18 Uhr, am 8. April, begann die "Siegesfeier" über den IS in der legendären kurdischen Stadt Kobani. Die Einladung haben wir in Wirklichkeit von einem Vertreter der "Autonomen Selbstverwaltung" erhalten. Bei der Feier waren viele junge Frauen und Männer in Uniform zu sehen. Es waren Angehörige der kurdischen "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) und der anderen mit YPG Verbündeten arabischen oder assyro-aramäischen Milizen, die in dem von den USA unterstützten Militärverband der "Demokratischen Kräfte Syriens" (SDF) eingegliedert sind.
Rechts von der Bühne, in dem großen Saal, mit vielen runden und schön dekorierten Esstischen, waren die Nationalflaggen der USA, Großbritannien und Frankreich neben der Fahne der SDF sowie den Flaggen der einzelnen Milizen, aus denen die SDF bestehen, zu sehen. Anwesend waren US-amerikanische Offiziere, hochrangige kurdische, arabische, assyro-aramäische, christliche, yezidische Politiker sowie muslimische Geistliche aus Nordsyrien mit vielen Gästen aus aller Welt.
Unter den Gästen durfte ich Bernard Kouchner, den ehemaligen französischen Außenminister und Mitgründer von "Médecins sans Frontières" (Ärzte ohne Grenzen) begrüßen. Kouchner kenne ich seit 2014. Damals wurde er in Göttingen von der GfbV mit dem Victor-Gollancz-Preis ausgezeichnet. An den für Kobani schwersten Tagen setzte sich Kouchner für die Kurden und andere Minderheiten in Nordsyrien ein und plädierte an die Regierungen in Frankreich, den USA und Großbritannien, die Zivilbevölkerung in Nordsyrien vor den Angriffen des IS zu schützen.
Mit Unterstützung der USA gelang es den Kurden 2014, den IS in Kobani zu stoppen und bis Frühjahr 2019 aus der gesamten nordöstlichen Region Syriens, vom Euphrat bis zum Tigris zu vertreiben. Ob Kouchners Bemühungen für den Schutz der Kurden vor den Angriffen des NATO-Staates Türkei Erfolg haben werden, sei dahingestellt.
Weil die Türkei die Grenze zu Kobani nahezu vollständig geschlossen hat, war Kobani lange Zeit von der Außenwelt abgeschnitten. Die Kurden von Kobani mussten aus eigner Kraft und unter großen Schwierigkeiten ihre Stadt wiederaufbauen. In der Nacht vom 8. auf den 9. April sind wir mit dem Auto durch die ganze Stadt gefahren. Kobani war sicher, die Menschen, auch viele Frauen ohne Kopftuch, waren auf den Straßen.
Mit meinen Gedanken war ich plötzlich bei den Frauen und Männern von Kobani, die im Herbst 2014 um ihr Überleben gegen den IS kämpften. Kim, mein Begleiter, der eine Dose Bier der deutschen Marke "Henniger" in der Hand hielt, sagte lächelnd: "Tja, eigentlich wollten die Dschihadisten vom IS mit Hilfe der Türkei hier das islamische Scharia-Recht einführen. Sie sind gescheitert… sonst hätte ich hier kein Bier mehr trinken dürfen… Nosh!" (aus dem Kurd. Übersetzt: zum Wohl!)" "Freu dich bloß nicht zu früh, es könnte noch dazu kommen. In Afrin hat die Türkei es geschafft, faktisch das islamische Scharia-Recht einzuführen. Erdogan wird weiterhin versuchen, auch hier Gleiches tun…", antwortete ich dem immer gutgelaunten Freund Kim.
Als wir in unserem einfachen Hotel ankamen, konnte ich die Nacht nicht durchschlafen. Denn ich musste eine für mich schwierige Entscheidung treffen: "Soll ich mich auf eine gefährliche Reise in die Region Schahba, im Norden von Aleppo, zu den eingeschlossenen Kurden von Afrin einlassen oder sollte ich es besser lassen?" Die Fahrt zu den Kurden in Schahba, eine flächenmäßig kleine Region zwischen Aleppo und Afrin, die zum Teil von Kurden noch gehalten wird, war nämlich sehr gefährlich.
Der Reiseweg verläuft durch ein Gebiet, das nicht von Kurden, sondern von verschiedenen kurdenfeindlichen, von der Türkei oder pro-Assad Milizen kontrolliert wird. Irgendwann gegen 5 Uhr morgens wurde der Entschluss von mir gefasst: "Zu den eingeschlossenen Kurden von Afrin muss ich fahren, denn ich bin diesen Menschen verpflichtet. Schließlich sind sie meine Leute und meine Verwandten. Dort, in Afrin, bin ich auch geboren".
Erst dann konnte ich ein wenig schlafen. Gegen 7 Uhr standen wir auf. Nach der Rasur habe ich gründlich geduscht. Ich konnte ja ich nicht wissen, wann ich mich wieder rasieren und duschen kann. Als es soweit war, teilte ich Kim meinen Entschluss über die Fahrt zu den Kurden von Afrin mit.
Das Wichtigste und Notwendigste habe ich in einen Rucksack eingepackt. Dann rief ich eine Person, der ich vertraue und die die Reise organisieren sollte, an und sagte: "Ich fahre!". Mit ihm hatte ich längst alle Modalitäten besprochen.
Dieser wiederholte nur: "Sei bitte vorsichtig, folge den Anweisungen der Begleiter und melde dich auf sozialen Medien erst dann, wenn du wieder in Sicherheit bist…". "Das werde ich tun müssen, schließlich möchte ich wieder in meine Heimat, nach Deutschland…!", sagte ich.