Vater, wo warst du?

Herr Jedermann war der Täter: Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt "Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung"

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Die Debatten sind kaum mehr zu zählen: Goldhagen oder Historikerstreit, die Walser-Bubis-Debatte oder Norman Finkelsteins Buch "Holocaust-Industrie" - um nur einige der letzten Jahre zu nennen. Noch immer erregt der Holocaust die Gemüter; und das über fünfzig Jahre nach Kriegsende. Dabei herrscht in zivilisierten Kreisen längst Einigkeit darüber, dass die von Staats wegen betriebene, bürokratisch organisierte und fabrikmäßig durchgeführte Ermordung von Millionen von Menschen die Menschheitskatastrophe schlechthin darstellt. Gerungen wird aber immer wieder darum, welche Lehren aus den nationalsozialistischen Untaten zu ziehen sind, welche Konsequenzen sie für das Heute haben.

Gegen Adornos berühmtes Diktum, die "Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei", habe die Grundlage jeder Erziehung zu sein, wird niemand etwas einzuwenden haben; ebenso wenig wie gegen die Feststellung des Historikers Heinrich August Winkler, der nationalsozialistische Völkermord sei "das denkbar stärkste Argument für Demokratie und Freiheit". Heftig umstritten sind aber Ansichten, wie die in der alten Bundesrepublik weit verbreitete, die Teilung Deutschlands sei die gerechte Strafe für Auschwitz gewesen. Oder dass die Verbrechen der Wehrmacht es verbieten, deutsche Soldaten in die Welt zu schicken. In solchen Diskussionen scheint der Holocaust instrumentalisiert zu werden. Oft fällt dann das wenig schöne Wort: "Auschwitz-Keule".

Zeit also sich dem Holocaust in einer Ausstellung zu widmen, die sich auch mit der Rezeptionsgeschichte, also mit der Auseinandersetzung mit den Verbrechen im Land der Täter nach 1945, beschäftigt. Das tut nun das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin: Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung. Dass dabei auch die nationalsozialistische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik gegenüber Juden und anderen Gruppen selbst ausführlich dargestellt wird, ist besonders dem Anlass, dem 60. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, geschuldet.

"Sie sprachen über Tötungsmethoden, über Liquidierung, über Vernichtung"

Es war eine Bürokratenrunde, die am 20. Januar 1942 in der idyllisch gelegenen Villa am Berliner Wannsee tagte. Unter der Leitung von Reinhard Heydrich, dem Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, koordinierten führende Repräsentanten des NS-Staates die "Endlösung der europäischen Judenfrage". Das Protokoll führte der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, "Judensachverständiger" im Reichssicherheitshauptamt. In dürren Sätzen vermerkt er das Ungeheuerliche: "Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen". Wie das genau zu geschehen hat, sagt das Protokoll nicht. Dort heißt es nur: "Abschließend wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen."

Jahre später, als er 1961 in Jerusalem vor Gericht stand, erinnerte sich Eichmann:

Ich weiß, dass die Herren beisammen gestanden und beisammen gesessen sind und da haben sie eben in sehr unverblümten Worten - nicht in den Worten, wie ich sie dann ins Protokoll geben musste - die Sache genannt, ohne sie zu kleiden ... Sie sprachen über Tötungsmethoden, über Liquidierung, über Vernichtung.

Vom Umgang mit dem Grauen

"Nur, was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt in Erinnerung" - dieser Satz Friedrich Nietzsches weist auf die Gefahr hin, die eine wissenschaftliche Vergangenheitsaufarbeitung birgt. Sie führt zur Versachlichung und schafft eine Distanz, die Schmerz kaum noch aufkommen lässt. Besonders deutlich zeigt das die Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht, die gerade in Berlin zu Ende ging und demnächst in Bielefeld zu sehen sein wird. Während die erste, 1995 gestartete Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung auf den Schock setzte und auf die Macht der Bilder vertraute, kommt die revidierte Version wie ein aufgeschlagener Katalog daher. Sie präsentiert Texte, Karten, Aktenstücke und verbirgt dahinter geradezu das Grauen, den unmittelbaren Schrecken. Nur mühsam ist auf kleinen Fotos der Mensch in seinem Leid zu entdecken. Dominierten in der ersten Ausstellungsreihe, die 1999 wegen einiger falsch zugewiesener Fotos abgesetzt wurde, noch emotionale Kommentare die Besucherbücher - "Vater, wo warst Du?" -, steht dort nun in der um wissenschaftliche Absicherung bemühten zweiten Version verdächtig oft das Wort "interessant".

Das DHM hat einen anderen Weg gewählt. Es setzt den Massenmord ganz konkret ins Zentrum und demonstriert seinen Vollzug am einzelnen Menschen. Das von dem polnischen Bildhauer Mieczyslaw Stobierski geschaffene Modell des Krematoriums II in Auschwitz-Birkenau zeigt den perfiden Ablauf der Vernichtung: Man sieht, wie die Juden in die unterirdische Anlage gezwungen werden, sich dort ausziehen müssen, dann in die Enge der Gaskammern gepfercht werden. Gas strömt ein. Eine Ebene höher werden derweil die Leichen der letzten Vergasungsaktion zu den Öfen gekarrt und verbrannt. Hier wird gezeigt, was oft hinter der Rede von der "industriellen" Vernichtung in der "Todesfabrik" Auschwitz verloren geht. Die Betrachtung der kleinen Figuren, der Blick in ihre verzerrten Gesichter, ihre aufgesperrten Münder: Es tut weh.

Darüber hinaus sind es gerade Exponate persönlicher Natur, die den Besucher gefangen nehmen und verhindern, dass das individuelle Schicksal hinter den harten historischen Fakten verschwindet: Ob das Kinderakkordeon, das in Theresienstadt zurückblieb, als Ruth Chotzen nach Auschwitz deportiert wurde, die jüdischen Häftlingen geraubten Schmuckstücke oder das Notizbuch des Ingenieurs Erich Wüstinger, in das er nicht nur seine Beobachtungen zum Einsatz des Gases Zyklon B notierte, sondern auch jede auf einer Dienstreise verspeiste Wurst - sie sprechen von allein.

"Vergangenheitsbewältigung"

Dann steigt man empor in den zweiten Stock, in die Zeit nach 1945, als sich die deutsche Gesellschaft widerwillig an die "Vergangenheitsbewältigung" macht. Eine wirkliche Entnazifizierung scheiterte spätestens an der veränderten Weltlage, an Westbindung und Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik, die eine Integration der alten Eliten notwendig zu machen schien. Mit Hans Globke und Theodor Oberländer erlangten ehemalige Nazis Staatssekretär-, ja Ministerwürden. Währenddessen gab es wenige, zaghafte Versuche, jüdische Gemeinden wieder aufzubauen. Wer die Hölle der Verfolgung überlebt hatte, quälte sich nun mit endlosen Anträgen herum, um bescheidene Wiedergutmachungszahlungen zu erhalten.

Damals war der deutschen Bevölkerung nichts an der jüdischen Katastrophe gelegen, nur die deutsche interessierte sie. Wie hatte diese Kulturnation, das Land Goethes und Schillers, so tief fallen können? Nun, man dämonisierte Hitler und seine Kumpanen, sie hätten das deutsche Volk verführt und dessen Pflichtbewusstsein missbraucht. Während die DDR sich für das antifaschistische und "bessere" Deutschland hielt und jegliche Verantwortung für die Verbrechen verweigerte, übernahm Adenauer diese zwar, erklärte aber zugleich das "deutsche Volk" für unschuldig. 1951, im Zuge der Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel, sprach er vor dem deutschen Bundestag die Worte: "Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt."

Umso schockierender wirkte der 1963 in Frankfurt beginnende Auschwitz-Prozess, der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er zeigte, dass jene, die die "Todesfabrik" Auschwitz am Laufen hielten, keine bestialischen Monster waren, sondern ganz normale Bürger. Der Eichmann-Prozess führte zur selben Erkenntnis und Hannah Arendt prägte angesichts dieses Biedermanns das Wort von der "Banalität des Bösen": "Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese Vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind." Das aber war das zutiefst Verstörende, das ins allgemeine Bewusstsein trat. Hinter den Toren der Vernichtungslager, so der Frankfurter Richter begann "eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken" war - und der Täter war Herr Jedermann.

Erst in den siebziger Jahren rückten die Verbrechen an den Juden in den Mittelpunkt. Zuvor hatte in den Zeiten des Kalten Krieges und der damit einhergehenden Totalitarismustheorie die Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats im Vordergrund gestanden. Die Opfer tauchten nur am Rande auf. Das aber änderte sich nun. Im Westen etablierte die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" den Begriff. Seither hat das Thema in den Wissenschaften wie in den Medien eine so enorme Konjunktur, dass viele darin eine Trivialisierung fürchten. Böse Worte, wie "Gedenkstättentourismus" und "Holocaust-Industrie" machten die Runde.

Dass so etwas begierig in rechtsradikalen Kreisen goutiert wird, verschweigt die Ausstellung nicht. Jüngstes Beispiel dafür war der Streit um den missratenen Slogan "Den Holocaust hat es nie gegeben", mit dem Spenden für das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas eingeworben werden sollten. Mit hämischer Freude zitierte ihn die NPD auf ihren Wahlplakaten.

Wer ist schon gerne betroffen?

Besonders thesenfreudig ist die Ausstellung nicht. Dazu waren mit der Stiftung Topographie des Terrors, dem Haus der Wannsee-Konferenz, dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst und der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten zu viele Institutionen beteiligt.

Zudem präsentieren im Rahmen der Ausstellung das Museum Auschwitz-Birkenau, die Gedenkstätte Yad Vashem und das U.S. Holocaust Memorial Museum ihre Arbeit. Im DHM wird eine große Bestandsaufnahme geleistet. Debatten gibt es genug.

Und doch ist eines wirklich schade: Die meisten Besucher werden sich angesichts des monumentalen Modells des Krematoriums, das sechs mal neun Meter misst und nach Aussage des Kurators Burkhard Asmuss um die 3000 Personen zeigt, betroffen fühlen. Warum aber der Terminus "Betroffenheit" mittlerweile negativ besetzt ist, warum jemandem, der sich betroffen zeigt, ein gewisses Maß der Peinlichkeit anhaftet, erklärt die Ausstellung nicht.

Der Untertitel "Der Holocaust und die Motive seiner Erinnerung" führt daher ein wenig in die Irre. Nicht das kollektive Gedächtnis der Nachkriegsdeutschen wird hier auf die Couch gelegt - wohl aber seine Bilderwelt ausgebreitet. Von "Die Mörder sind unter uns" zu Anne Frank, vom Frankfurter Auschwitz-Prozess über Eichmann in Jerusalem hin zum Kniefall Willy Brandts vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos - diese Bilder sind in unsere Köpfe eingeschrieben. Nicht aber die jener Auschwitz-Überlebenden, die der bürokratischen Willkür der Versorgungsämter ausgesetzt waren, nicht jene der Zwangsarbeiter, die ein Leben lang auf eine ohnehin nicht mögliche Entschädigung warteten. Das zu analysieren, bleibt jedem Besucher selbst überlassen.

Die Ausstellung "Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung" zeigt das Deutsche Historische Museum im Kronprinzenpalais, Unter de Linden 3, 10117 Berlin, vom 17.1 bis zum 9.4.200, Eintritt frei. Die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" wird vom 29.1. bis zum 17.3.2002 im Historischen Museum der Stadt Bielefeld, Ravensberger Park 2, zu sehen sein.