Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Das "Mahnmal gegen Kindesmissbrauch" in Berlin-Wuhlheide. Foto: Sandra Richter / CC-BY-4.0

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist Folter. Die Rechte der Schwächeren müssen gestärkt, Präventions- und Hilfsmaßnahmen ausgebaut und die Täter konsequenter bestraft werden

Der Bundestag hat es Ende März beschlossen, der Bundesrat muss dem Gesetzespaket noch zustimmen: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder soll in Zukunft grundsätzlich als Verbrechen eingestuft und dementsprechend härter bestraft werden.

Einen Anstieg erheblichen Anstieg der Fallzahlen hatte die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts (BKA) für das Jahr 2019 verzeichnet - entsprechende Zahlen für das "Corona-Jahr" 2020 liegen noch nicht vor.

13.670 Fälle sind zuletzt im Bereich "Sexueller Missbrauch von Kindern" aufgelistet worden - hier gab es einen Anstieg von 10,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 12.262 Fälle wurden im Bereich "Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornografischer Schriften" registriert - ein Anstieg von 64,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Sexualisierte Gewalt gegen Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren ist hier nicht mitgezählt - von ihnen wurden mehr als 2.000 laut PKS 2019 Opfer von Vergewaltigungen, sexuellen Nötigungen und sexuellen Übergriffen gemäß der §§ 177 und 178 - insgesamt waren die 8.525 registrierten Opfer vollendeter Taten dieser Deliktgruppe zu 93,9 Prozent weiblich, der Anteil der Jugendlichen betrug 23,5 Prozent.

Fachleute gehen jedoch von einer sehr hohen Dunkelziffer aus: So ergab die "Mikado-Studie", dass etwa jede zwölfte heute erwachsene Person als Kind oder Jugendliche Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Im Durchschnitt sitzen in jeder Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder - so die Einschätzung des Unabhängigen Beauftragen der Bundesregierung für "Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs". Die Täter - und auch Täterinnen - kommen aus allen sozialen Schichten, häufig aus dem nahen Umfeld der Betroffenen. Möglich werden diese Taten durch gesamtgesellschaftliches Versagen, wie das Beispiel der Taten zeigt, die jahrelang auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde stattgefunden haben.

Pädokriminelle sind international vernetzt

In die Kategorie "Sexualisierte Gewalt" fallen sowohl Anzüglichkeiten, Masturbation vor Kindern oder Jugendlichen, sexuelle Handlungen an den Betroffenen bis hin zu Vergewaltigung, Vermittlung von Kindern und Jugendlichen in die Prostitution, unter anderem Cybersex, oder Kinderpornographie. 25.911 Kinder und Jugendliche wurden laut PKS 2019 Opfer, davon 20.189 Mädchen und 5.722 Jungen. 15.701 der Betroffenen waren zur Tatzeit jünger als 14 Jahre. Gelistet sind die zur Anzeige gebrachten Fälle. Das sagt nichts darüber aus, ob die ermittelten Tatverdächtigen als schuldig vor Gericht verurteilt wurden, nicht einmal, ob es überhaupt zu einer Verhandlung kam.

Und es sagt nichts aus über das tatsächliche Ausmaß.Vor allem das Internet und die damit verbundene weltweite Vernetzung bietet pädokriminellen Netzwerken eine breite Palette von Möglichkeiten - und Anonymität. Doch selbst, wenn - wie in Lügde - die Taten vor den Augen der Nachbarschaft stattfinden, mehrere Hinweise bei Behörden und Polizei eingehen, passiert über Jahre - nichts. Weil nicht genau hingesehen wird, Hinweise nicht ernst genommen, Akten manipuliert oder einfach geschlossen und Beweise schlampig ermittelt werden oder gar auf Polizeidienststellen abhandenkommen.

Nach Angaben der Organisation "Innocence in Danger" war sogar jede oder jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland in der Kindheit oder Jugend Opfer sexualisierter Gewalt. 75 Prozent der Fälle finden im engsten Familien- oder Bekanntenkreis der Betroffenen statt; in 82 Prozent der Fälle sind Eltern oder nahe Angehörige Tatbeteiligte.

Laut der Mikado-Studie (Missbrauch von Kindern, Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer) liegt die Rate der Betroffenen bei durchschnittlich 8,5 Prozent - 11,6 Prozent bei Frauen und 5,1 Prozent bei Männern. Das durchschnittliche Alter, in dem zum ersten Mal sexualisierte Gewalt erfahren wurde, lag bei 9,5 Jahren. An der Studie, in deren Rahmen 28.000 Erwachsene und mehr als 2.000 Kinder und Jugendliche teilnahmen, waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, der Technischen Universität Dresden, des Universitätsklinikum Ulm und der Åbo Akademi-Universität aus Turku/ Finnland sowie verschiedene Opferschutzvereine beteiligt.

FBI kam Netzwerk mit Basis im Breisgau auf die Spur

Vielfach werden die Betroffenen Opfer mehrfacher Straftaten: So erleben sie sexualisierte Gewalt, die gefilmt und als Video vertrieben oder von einem Fremden via Webcam live verfolgt wird, sie werden gezwungen, sexuelle Handlungen an sich oder an anderen Kindern vorzunehmen, dabei ebenfalls gefilmt und die Videos im Internet vertrieben. Oder Aufnahmen von ihnen, zum Beispiel während sie vergewaltigt werden oder sexuelle Handlungen an sich oder anderen vornehmen müssen, werden als kinderpornographisches Material vertrieben. Aufnahmen von unbekleideten Kindern gelten als "Posing-Bilder", deren Besitz war bis vor kurzem nach deutschem Recht nicht strafbar.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Tatverdächtigen häufig Teil auch internationaler Händlerringe sind. So konnte ein Fall in Staufen im Breisgau aufgedeckt werden, nachdem die US-Bundespolizei FBI 2015 den Administrator einer Plattform für Pädokriminelle festgenommen und in Folge dessen mehr als 800 Nutzer festgenommen wurden. Ein Hinweis führte zu Christian L., der inzwischen eine Haftstrafe verbüßt, weil er den Sohn seiner Lebensgefährtin nicht nur selbst mehrfach vergewaltigte, sondern auch an weitere Personen vermittelte - jeweils unter aktiver Beteiligung der Mutter. Auch die kleine Tochter einer Bekannten wurde Opfer des Paares. Während des Prozesses konnten weitere Täter ermittelt werden, die Spuren führten bis nach Norddeutschland, in die Schweiz und Spanien.

Einer der Täter, Knut S., war Stabsfeldwebel bei der Bundeswehr. Ein anderer Täter, Daniel V., hatte sich mit Christian L. darüber unterhalten, den Jungen nach der Vergewaltigung zu ermorden. Er wurde auf dem Weg zu dem Kind festgenommen, laut shz.de mit Handschellen und Klebeband mit Tuch zum Knebeln im Gepäck. Es stellte sich heraus, dass er auch seinen eigenen dreijährigen Sohn an Pädokriminelle vermittelt hatte.

Auch ein Schweizer aus dem Kanton St. Gallen wurde wegen des Vorwurfs zu einer Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt, den Jungen drei Mal gegen Zahlung vergewaltigt zu haben. Insgesamt konnten acht Männer ermittelt werden, die das Kind gegen Zahlung an das Paar vergewaltigten, darunter auch ein Spanier. Dieser hatte laut einem Bericht der Badischen Zeitung dem Paar angeboten, ein Haus zu kaufen, in dem alle zusammen leben sollten, und ihnen 2.000 Euro monatlich zu zahlen, wenn er jederzeit über das Kind verfügen könne. Laut einem Bericht im Südkurier wurden bei ihm Videos gefunden, die auf einen Mord hinwiesen: In Belarus soll er demnach gemeinsam mit einem anderen Mann ein Mädchen vergewaltigt und erdrosselt haben.

Im März 2018 erhob die Staatsanwaltschaft Freiburg Anklage gegen Christian L. sowie Berrin T., der Mutter des Jungen. Der Mutter wurden demnach insgesamt 50 Taten vorgeworfen, ihrem Lebensgefährten 46 Taten. Ihnen wurden unter anderem schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, schwere Vergewaltigung, schwere Zwangsprostitution sowie Verbreitung, Besitz und Erwerb kinderpornografischer Schriften zur Last gelegt. Im August 2018 wurde Michaela Berrin T. zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt, Christian L. zu zwölf Jahren. Da er bereits einschlägig vorbestraft war, wurde für Christian L. die Sicherungsverwahrung angeordnet.

Lügde: Postkartenidyll mit tiefen Rissen

Der Fall aus Staufen schlug hohe Wellen in den Medien. Auch international. Kaum war dies abgeflaut, geriet ein Ort namens Lügde in die Schlagzeilen. Ein verschlafenes kleines Nest im Lippischen, Fachwerk und Kopfsteinpflaster prägen das Stadtbild. Die einstige "Festungsstadt" der Grafen von Pyrmont wurde einer Festungsmauer mit sieben Wehrtürmen umgeben. Die Mauer sowie zwei der Türme sind bis heute erhalten. Und offenbar auch die Trutzburg-Mentalität, denn anders ist nicht zu erklären, was sich auf dem Campingplatz "Eichswald" im Lügder Ortsteil Elbrinxen über Jahre abspielte.

Am 29. Januar 2019 gab die Staatsanwaltschaft Detmold offiziell die Festnahme von Andreas V. bekannt. Dieser lebte seit mehr als 30 Jahren als Dauercamper auf dem Campingplatz, seit 2016 mit einem damals sechsjährigen Mädchen als Pflegetochter. Andreas V. und ein weiterer Tatverdächtiger, Mario S., ebenfalls Dauercamper in Elbrinxen, wurden beschuldigt, Kindern sexualisierte Gewalt angetan und das gefilmt zu haben. Als Auftraggeber für die Videos gilt Heiko V. aus dem niedersächsischen Stade, der zwar nie vor Ort gewesen sein, aber das Geschehen via Computer beobachtet und orchestriert haben soll. Auch kinderpornographisches Material soll auf dem Campingplatz produziert worden sein.

Wie der NDR berichtete, stellte sich im Lauf des Verfahrens heraus, dass Dauercamper Andreas V. über den Zeitraum von etwa einem Jahrzehnt Kinder sexualisierter Folter ausgesetzt und sie dabei gefilmt haben soll. Die Rede ist von 40 mutmaßlichen Opfern und zwölf Verdachtsfällen. In diesem Jahrzehnt soll ein schier unvorstellbares Ausmaß an kinderpornographischem Material entstanden und mehrere Mittäter daran beteiligt gewesen sein. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte demnach, dass die strafrechtliche Aufarbeitung des tausendfachen Kindesmissbrauchs wegen der Menge an Beweismaterial kaum zu bewältigen sei. "Wir stehen vor Bergen von Daten, Bildern und Filmen, die da zusammenkommen", sagte Reul demnach.

Laut einem Bericht der Lippischen Zeitung mussten fast 3,3 Millionen Bilddateien und mehr als 86.000 Videodateien ausgewertet werden. 31 Kinder - 27 Mädchen und vier Jungen - das jüngste gerade einmal vier Jahre alt, sollen die Opfer gewesen sein. Rund 1.000 Taten in zehn Jahren. Am Ende wurde nicht nur gegen die Männer ermittelt, sondern auch gegen verschiedene Jugendämter und zwei Polizeibeamte. Sowohl ein Vater zweier Töchter als auch eine Mitarbeiterin des Jobcenters, bei dem Andreas V. unter Leistungsbezug war, wandten sich unabhängig voneinander an das Jugendamt Blomberg und die zuständige Polizeidienststelle.

Egal, weil sowieso "verwahrlost"?

Besagter Vater, Jens R., wandte sich an die Polizei mit dem Vorwurf, Andreas V. habe seine beiden Töchter unsittlich berührt. Außerdem informierte er das Jugendamt und den Kinderschutzbund. Auch die Polizei leitete den Hinweis an das Jugendamt Blomberg weiter. Die Sachbearbeiterin des Jobcenters wandte sich dem Spiegel zufolge ebenfalls an das Jugendamt Blomberg, wegen des Verdachts der Verwahrlosung des Mädchens. In einer Stellungnahme des Jugendamtes wurde nur der Vorwurf der Verwahrlosung erwähnt, nicht aber der Hinweis auf sexualisierte Gewalt. Bei einer Überprüfung der Lebensumstände des Kindes sei zwar keine Verwahrlosung, wohl aber eine "latente Kindeswohlgefährdung" festgestellt worden. Zuständig für das Kind war allerdings das Jugendamt im niedersächsischen Hameln, da dort die Mutter lebte, auf deren Wunsch das Mädchen zu Andreas V. auf den Campingplatz zog.

Das Amt in Blomberg empfahl den Kolleginnen und Kollegen in Hameln, sich nach einem anderen "Wohnumfeld" für das Mädchen umzuschauen. Die Niedersachsen ließen das Kind indes wo es war. Das war Ende 2016, erst nach einer weiteren Anzeige im November 2018 wurde das Mädchen in Obhut genommen und noch mehrere Wochen später, am 6. Dezember 2018, wurde Andreas V. verhaftet. Die Anzeige kam von der Mutter eines der betroffenen Mädchen.

Bereits im September 2016 hatte laut NDR eine Psychologin im Kindergarten des Pflegekindes die Vermutung geäußert, dass beim Pflegevater und späteren Hauptverdächtigen "Pädophilie im Spiel" sein könnte. Das Jugendamt des Landkreises Hameln-Pyrmont sah dafür keine Anhaltspunkte.

Serie von Pleiten, Pech und fragwürdigen Pannen

Die Staatsanwaltschaft Detmold ermittelte schlussendlich gegen beide Dienststellen wegen des "Verdachts auf Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht". Anfang Februar 2019 wurde bekannt, dass ein Mitarbeiter des Jugendamtes Hameln Akten manipuliert hatte. Wie der Spiegel berichtete, wurde zudem gegen eine weitere Person wegen des Verdachts der Datenlöschung ermittelt. Die beiden Polizeibeamten, gegen die ebenfalls ermittelt wurde, sollen den Vorgang im Mai 2017 ohne weitere Überprüfung einfach abgeschlossen haben.

Fünf Wochen nach der Verhaftung von Andreas V. wurde Mario S. verhaftet, der die Taten gemeinsam mit Andreas V. begangen haben soll. Abnehmer des kinderpornographischen Materials soll besagter Mann aus Stade gewesen sein. Insgesamt wurden dem BKA 13.000 Dateien übergeben. Alle produziert in einer selbstgebauten verfallen Holzhütte auf einem Campingplatz im Lippischen Lügde, und kaum jemand will etwas davon bemerkt haben.

Am 13. Dezember 2018 richtete die Kreispolizeibehörde Lippe die Sonderkommission "Camping" ein. Diese bestand zunächst aus vier, später aus acht, bzw. neun Beamten. Mitte Januar 2019 fiel auf, dass 155 Datenträger verschwunden waren. Diese waren am 20. Dezember 2018 das letzte Mal gesehen worden. Ein Kommissariatsanwärter soll eine Mappe mit 49 CDs und einen Alukoffer mit 106 CDs auf einem Schreibtisch liegen gelassen haben. Er war mit der Sichtung des Materials betraut gewesen. Gegen ihn wurde eine Untersuchung eingeleitet; der Leiter der Direktion Kriminalität der Kreispolizeibehörde Lippe wurde schließlich von seinen Aufgaben entbunden und versetzt, die Aufklärung wurde dem Polizeipräsidium Bielefeld übertragen.

In diesem Zusammenhang fiel dann auch auf, dass die beiden Polizeibeamten seinerzeit die Akte einfach geschlossen hatten. Gegen den ursprünglichen Leiter der Ermittlungskommission wurde später wegen eines anderes Falles Strafanzeige gestellt. Der LZ.de zufolge lautete der "Vorwurf: Strafvereitelung in einem anderen Sexualstrafverfahren und Siegelbruch in zwei weiteren Ermittlungsverfahren." Betroffen waren erwachsene Frauen. Wie die LZ-Autoren treffend formulierten, "glaubt nun auch in Detmold niemand mehr, dass die CDs nur ‚verlegt‘ worden sind".

Doch damit nicht genug. Bei neuerlichen Durchsuchungen der Holzhütte und weiterer von Andreas V. privat genutzter Räumlichkeiten wurden im Februar 2019 weitere Beweismittel sichergestellt. U. a. wurde ein Datenträgerspürhund eingesetzt, der einen USB-Stick aufspürte. Beim Abriss der Holzhütte im April 2019 wurde weiteres Datenmaterial gefunden: drei CDs, zwei Disketten sowie zehn Videos.

Dann stellte sich heraus, dass die Polizei einen Schuppen übersehen hatte, der Andreas V. gehörte. Als die Polizei die Existenz des Schuppens zur Kenntnis nahm, war dieser von dem Abrissunternehmen bereits leer geräumt worden. In einer Pressemitteilung der Polizei wurde dieser Umstand laut NDR nicht erwähnt.

Alle haben weggesehen

Die Staatsanwaltschaft Detmold erhob im Mai 2019 Anklage gegen Andreas V. Der Vorwurf: 293 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Besitz von kinderpornografischem Material. Mario S., der sich 2010 eine Parzelle auf dem Campingplatz angemietet hatte, wurde wegen 162 Taten an 17 Kindern, denen er ebenfalls sexualisierte Gewalt angetan und sie dabei gefilmt haben soll, angeklagt. Nach Recherchen von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung, sollen fast 20 Jahren lang an verschiedenen Orten Kinder Opfer sexualisierter Gewalt durch diesen Täter geworden sein. In der lippischen Trutzburg konnte er ungestört weiter Kinder foltern.

Möglich wurde das, weil offenbar niemand so genau hinsah, oder es niemand sehen wollte. Laut NDR kam seine Affinität zu Kindern offenbar niemandem komisch vor. Im Gegenteil, so beschreibt es der norddeutsche Sender:

"Ein Bild, an das sich viele Camper im Nachhinein erinnern: Mario S., der auf einem Rasenmähertraktor über den weitläufigen Campingplatz fährt. Im Anhänger: fröhliche Mädchen und Jungen. Vor seiner Parzelle, sagen Zeugen, hätten immer Kinderräder in verschiedenen Größen geparkt. Eine Mutter beschreibt ihn als "Kindermagnet", immer seien Kinder um ihn gewesen.

Bevor er selbst eine Parzelle anmietete, habe sich Mario S. einen Wohnwagen mit einem langjährigen Freund geteilt. Auch dessen Enkelkinder sollen mehrfach zum Opfer von Mario S. geworden sein. Die anderen Jungen und Mädchen, die er missbrauchte, waren ebenfalls Kinder von Freunden, Bekannten und Camping-Nachbarn. Diese Kinder brachten nach einiger Zeit häufig ihre Geschwister oder Freunde mit - so fand Mario S. offenbar stets neue Opfer. Die Staatsanwaltschaft wirft S. auch den sexuellen Missbrauch eines geistig behinderten Jungen vor."

Möglich wurde das unfassbare Verbrechen von Lügde, weil Hinweise sowohl von den zuständigen Behörden und der Polizei nicht ernst genommen wurden, weil Kindern unhaltbare Zustände zugemutet werden, möglicherweise weil das weniger Arbeit macht als neue Unterbringungsmöglichkeiten zu suchen, und weil betroffene Kinder keine Anlaufstellen haben. Mit Süßigkeiten und Besuchen im Freibad wurden sie gefügig gemacht und bei Laune gehalten. Erst als ein Mädchen sich ihrer Mutter anvertraute und diese Anzeige erstattete, wurde die Pflegetochter gerettet. Bis Andreas V. verhaftet wurde, vergingen Wochen, fünf weitere, bis Mario S. verhaftet wurde. Niemand weiß, ob und falls ja, wie viele Kinder in dieser Zeit noch Opfer des Trios wurden. Da das ganze Ausmaß des Leids der Kinder erst 2019 ans Licht kam, sind diese Taten in der eingangs erwähnten PKS 2019 gelistet. Niemand kann sagen, wie viele Lügdes unentdeckt blieben und bleiben werden.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Sebastian Fiedler, Vorsitzender des "Bundes Deutscher Kriminalbeamter" erklärte im Juni 2020 in der ZDF-Sendung "Markus Lanz", dass inklusive Dunkelfeld von mehr als 100 Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder pro Tag ausgegangen werden müsse. Betroffene seien Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder und Jugendliche. Mittlerweile, so Fiedler, würden sogar Kinder in der Absicht gezeugt, ihnen sexualisierte Gewalt anzutun. Die Kinder und Jugendlichen würden häufig sediert, penetriert, ihnen würden Gegenstände in alle verfügbaren Körperöffnungen geschoben, von nahen Verwandten, den eigenen Vätern, häufig den Stiefvätern, sie würden an Außenstehende quasi zur freien Verfügung vermittelt. Nicht selten mit Wissen der Mütter.

In Zeiten der weltweiten Vernetzung durch das Internet und den Fortschritt der technischen Möglichkeiten hat sexualisierte Folter an Kindern inzwischen pandemische Ausmaße angenommen. Mehr als 100 vermutete Fälle pro Tag allein in Deutschland lassen darauf schließen, dass wir es mit einem zeitgenössischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun haben. Die Folgen dieser Verbrechen werden wir erst in vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten zu spüren bekommen. Die Delikte reichen vom Anschauen von Bildern von Kindern und Jugendlichen, häufig unbekleidet, sogenannter Posings, bis hin zu brutaler Gewalt, die den Kindern angetan und gefilmt wird.

Zum Teil sind sie Opfer interaktiver Gewalttaten per Webcam. Das heißt, an einem Bildschirm sitzt eine erwachsene Person, meistens ein Mann, der einer anderen erwachsenen Person per Internet Anweisungen erteilt, wie das jeweilige Opfer zu quälen ist. Die andere Person führt die Handlungen aus und die erste Person ergötzt sich per Webcam daran. Dieser Form der sexualisierten Folter sind somit keine Grenzen gesetzt. Es ist dabei egal, ob die beiden Täter unmittelbare Nachbarn sind, oder einer von beiden in Stade vor seiner Webcam sitzt und ein anderer beispielsweise in Asien die Taten vor laufender Kamera ausführt - oder umgekehrt.

Kindeswohl - eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung

Laut Bundesregierung ist "die Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen und zentrale Aufgabe des Staates." Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) sind demnach "die Fallzahlen für die Delikte der Kinderpornografie im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr um rund 65 Prozent gestiegen. Für die Delikte des sexuellen Missbrauchs von Kindern weise die Statistik für 2019 einen Anstieg von rund elf Prozent im Vergleich zu 2018 aus".

Deshalb hat die Bundesregierung am 25. März 2021 einen Gesetzesentwurf "zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder" vorgelegt. Laut Bundesregierung soll damit "der bisherige Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Straftatbestände aufgespalten werden, um den Deliktsbereich übersichtlicher zu gestalten und entsprechend der jeweiligen Schwere der Delikte abgestufte Strafrahmen zu ermöglichen".

Künftig soll sexualisierte Gewalt gegen Kinder grundsätzlich als Verbrechen eingestuft und mit Haftstrafen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden. Bisher waren auch sechsmonatige Freiheitsstrafen möglich - mit mehr als zehn Jahren mussten die Täter nur rechen, wenn das Opfer infolge der Tat gestorben war.

Die Verbreitung, der Besitz und die Besitzverschaffung von Kinderpornografie sollen ebenfalls als Verbrechen eingestuft werden. Mit einer neuen Strafnorm soll zudem das Inverkehrbringen und der Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild unter Strafe gestellt werden. Zu den weitergehenden Ermittlungsbefugnissen der Strafverfolgungsbehörden gehören Anpassungen der Straftatenkataloge der Telekommunikationsüberwachung, der Online-Durchsuchung sowie bei der Erhebung von Verkehrsdaten.

Für die Verbreitung von Kinderpornografie sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren vor (bisher drei Monate bis fünf Jahre) vor. Das gewerbs- und bandenmäßige Verbreiten soll künftig mit Freiheitsstrafen von zwei bis 15 Jahren geahndet werden können (bisher sechs Monate bis zehn Jahre). Der Verkauf, Erwerb und Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild soll mit Geldstrafen oder bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Zur Begründung des Verbots heißt es, es bestehe die Gefahr, dass die Nutzung solcher Sexpuppen die Hemmschwelle zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder absenke.

Der Antrag wurde mit den Stimmen der Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD sowie der AfD-Abgeordneten angenommen. Die Abgeordneten der FDP, der Grünen und der Partei Die Linke enthielten sich. Ihnen war der Gesetzesentwurf nicht differenziert genug.

So erläuterte die Linke-Abgeordnete Gökay Akbulut in ihrer Rede im Bundestag:

"Bei einem Ziel sind wir uns alle einig: Im Kampf gegen sexualisierten Missbrauch von Kindern darf es absolut keine Toleranz geben. Bei der Bekämpfung dieser Taten gibt es Handlungsbedarf. Wir unterstützen die Zielsetzung der Bundesregierung und einige der Maßnahmen wie die Fortbildung der Richterinnen und Richter; aber die Umsetzung in diesem Gesetzentwurf weist immer noch verschiedene Mängel auf. (...)

Die Bundesregierung konzentriert sich auf die Strafverschärfung als Mittel zur Abschreckung. Es wurde jedoch in vielen Studien nachgewiesen, dass es hier keinen Zusammenhang gibt. Deutlich wirksamer wären präventive Maßnahmen wie umfangreicher Personalausbau in der Jugendarbeit, bei den Telefonhotlines, bei den Beratungsstellen, bei den Therapieplätzen und in den Frauenhäusern. Die Bundesregierung begründet ihre Strafverschärfung mit den schrecklichen Fällen aus Staufen, Münster, Bergisch Gladbach und Lügde. Dies macht jedoch wenig Sinn, da die sich schon unter der aktuellen Rechtslage als Verbrechen darstellen. (...)

Denn die pauschale Hochstufung zum Verbrechen und das Fehlen einer Regelung zu minderschweren Fällen führen dazu, dass die erforderlichen Differenzierungsmöglichkeiten nicht mehr gegeben sind. Beispielsweise ist verfahrensrechtlich mit der Verbrechenseinstufung bei sehr leichten Fällen eine Einstellung ausgeschlossen. Es muss dann immer bei allen Fällen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, die für die Opfer eine Belastung darstellt."

Akbulut ging im Anschluss auf Grenzfälle die junge Teenager und Beschuldigte im jungen Erwachsenenalter betreffen und nannte einen "einvernehmlichen Kuss" als Beispiel. Im Kern geht es aber um Fälle, in denen ein klares Täter-Opfer-Verhältnis besteht.

Zudem ist der Bundestag keine Sozialarbeitervereinigung, in der es darum geht, die Täter da abzuholen, wo sie stehen, sondern die gesetzgebende Instanz der Bundesrepublik. Gegen Präventionsprogramme, soziale und auch finanzielle Maßnahmen spricht nichts, aber dagegen, ein Verbrechen als Verbrechen einzustufen, auch nicht. Warum nicht das eine tun und das andere nicht lassen?

Auch Sebastian Fiedler fordert eine zentrale Stelle für Kinderschutz in jedem Bundesland, "eine Telefonnummer, eine E-Mail-Adresse", hinter der jeweils ein Team von Expertinnen und Experten aus allen relevanten Teile stehe und an die sich beispielweise Erzieherinnen oder Lehrer im Verdachtsfalle wenden könnten. Der BKA-Experte sieht eine enge Verknüpfung der sexualisierten Gewalt gegen Kinder mit Gewalt gegen diese ganz allgemein. Es müssten Maßnahmen getroffen werden, um diese Fälle nachvollziehbarer zu machen. Dazu gehöre, dass Kinderärztinnen und -ärzte die Möglichkeit bekämen, sich im Verdachtsfalle mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen, betonte er bei Lanz. Viele gewalttätige Eltern betrieben sogenanntes "Doktor-Hopping": Um zu verschleiern, dass ihr Kind Opfer häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt sei, werde immer eine andere Praxis aufgesucht.

Sexualisierte Gewalt und Kindesmisshandlung seien ärztliche Diagnoseschlüssel. Um aber eine sichere Diagnose stellen zu können, müsste der gesamte Krankheitsverlauf des Kindes bekannt sein. Das sei indes unmöglich, wenn immer eine andere Praxis aufgesucht würde und die behandelnden Fachärztinnen und -ärzte nicht voneinander und der vorhergehenden Behandlung wüssten. Die Autorinnen und Autoren der MIKADO-Studie fordern verpflichtende frühe Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen sowie ihren Bezugspersonen, die sexualisierte Gewalt berücksichtigt, Kinder und Jugendliche ernst zu nehmen, Betroffenen Schutz zu bieten, Jungen als Opfer und Frauen als Täterin stärker in den Blick zu nehmen.

Auch "harmlos" kann für Betroffene heftige Konsequenzen haben

Wie "harmlos" ein solches Delikt sein kann, das nach damaliger gängiger Rechtsprechung nicht einmal justiziabel war, zeigt das Beispiel Sebastian Edathy: Auch scheinbar "harmlose" Aufnahmen können Persönlichkeiten brechen, Familien und Existenzen zerstören - selbst dann, wenn die betroffenen Jungen gar nicht gemerkt haben, dass sie fotografiert wurden. Sebastian Edathy galt als integrer Politiker. Von Januar 2012 bis zum 10. Februar 2014 war er Vorsitzender des 2. Untersuchungsausschusses des 17. Deutschen Bundestages zum Thema "Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund" und Mitglied der entsprechenden Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion.

Edathy galt als engagiert, kompetent und nachdrücklich bestrebt, die vielen Ungereimtheiten im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum NSU aufzuklären. Das bescheinigten ihm ausnahmslos alle in dem Ausschuss vertretenen Politikerinnen und Politiker. Für seine Arbeit wurde er mit dem Genç-Preis für friedliches Miteinander ausgezeichnet. Er hatte indes eine ungewöhnliche "Sammelleidenschaft", wie er es nannte: Auf seinem Rechner wurden im Internet erwerbbare Fotos unbekleideter (männlicher) Kinder, sogenannter Posings, gefunden.

Diese wurden von einer kanadischen Firma "Azov Films" verbreitet. Dortige Medien fanden heraus, dass die Kinder zwar freiwillig für ihren Karatelehrer Markus Rudolph R. posiert, aber nicht gewusst hatten, dass dieser ihre Fotos an die kanadische Firma verkaufte, von der sie weltweit vermarktet wurden. Für einige der Jungen hatte das heftige Konsequenzen. Nachdem klar war, dass "Azov Films" die Aufnahmen weltweit vertrieb, wurden sie zum Teil stigmatisiert und aus ihren Cliquen ausgeschlossen. Sie trauten sich nicht mehr in die Schule, kapselten sich von Gleichaltrigen ab.

Mehrere Eltern erzählten, ihre Söhne hätten eine komplette Wandlung vollzogen. Die Mutter eines Jungen, den R. anderen Eltern als seinen Sohn vorgestellt hatte, um deren Vertrauen zu erschleichen, verließ mit ihrem Sohn den Wohnort. Der Junge wurde als "schwul" bezeichnet, in einer Gegend, in der Homophobie weit verbreitet ist. Auch wurden sie von anderen Eltern dafür verantwortlich gemacht, dass deren Söhne ebenfalls Opfer von R. geworden waren.

Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Koffer zu packen, und umzuziehen. Von Irgendwo nach Nirgendwo. Für wen also sollten diese Fotos "harmlos" sein? Für den Konsumenten, der sich "nur" daran aufgeilte? Für die Jungen, die "nur" für ihren Karatelehrer posierten? Für die kanadische Firma, die "nur" Fotos vertrieb? Für die Familie, die "nur" ihre Existenz verlor?

Wer also sollte im Zentrum der Rechtsprechung stehen? Die Jungen, die ahnungslos ausgebeutet wurden? Oder die Erwachsenen, vom Karatelehrer über die Vertriebsfirma bis zum Kunden? Letztere zu belangen, steht nicht im Widerspruch zu medizinischen, psychologischen und sozialen Hilfsangeboten für die Opfer. Vermutlich halten härtere Strafen Pädokriminelle nicht von ihren Taten ab, aber sie werden zumindest für einen gewissen Zeitraum aus dem Verkehr gezogen. Wenn es gut läuft, für immer.

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