Verfälschte Selbstwahrnehmung

Ein prinzipielles Problem: Was der Mensch über sein Äußeres denkt, deckt sich oft nicht mit der Wirklichkeit

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Der Unterschied zwischen Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit wird zum Beispiel schnell offenbar, sobald sich doch einmal sommerliche Temperaturen durchsetzen. Dabei handelt es sich aber nicht immer um eine Frage mangelhaften Stilbewusstseins, systematischer Selbstüberschätzung oder gar eines krankhaft falschen Körperbildes, wie es Menschen mit Essstörungen entwickeln - vielmehr liegt ein prinzipielles Problem vor.

Das besteht grundsätzlich darin, dass dem Gehirn zu wenig Informationen darüber vorliegen, welcher Teil des Körpers sich in jeder Sekunde in welcher Ausdehnung an welchem Ort befindet. Es ist geradezu ein Wunder, dass die Hand eines Autofahrers oder einer -fahrerin tatsächlich fast die ganze Zeit auf dem Schaltknüppel zu lokalisieren ist - jedenfalls auch dann, wenn der oder die Betreffende gar nicht hinsieht. Dass dem so ist, dafür ist ein spezieller Sinn zuständig, der Positionssinn. Damit dieser funktioniert, benötigt das Gehirn zwei Arten von Daten.

Zum einen braucht es die aktuellen Ausrichtungen sämtlicher Muskeln und Gelenke - diese Details liefern ihm Nervenzellen, die im ganzen Körper verteilt sind. Und da die meisten Menschen außerdem aus Fett und Knochen bestehen, wird zusätzlich ein Modell gebraucht, das die Ausmaße aller Zwischenglieder kennt. Denn Informationen darüber kann das Gehirn nicht über das Nervensystem gewinnen; es gibt keinen zellulären Sensor, der die Länge des mittleren Fingerglieds angibt.

Wie dieses interne Körpermodell funktioniert, haben sich jetzt die britischen Neurologen Matthew Longo und Patrick Haggard genauer angesehen - ihre Ergebnisse beschreiben sie in den Veröffentlichungen der US-Akademie der Wissenschaften (PNAS). Dazu mussten sie zunächst das Körpermodell der Studienteilnehmer von ihrem erkennbaren Körperbild trennen. In diesem Fall verbargen die Probanden ihre rechte Hand unter einem undurchsichtigen Brett. Anschließend erhielten die Teilnehmer die Aufgabe, die Position jedes Gelenks und jeder Fingerspitze auf dem Brett zu markieren.

Bild: Matthew R. Longo/Patrick Haggard

Eine Kamera zeichnete die Antworten auf, um vergleichen zu können, wurde die Position der Hand bei entferntem Brett aufgezeichnet. Schließlich sollten die Probanden auch noch aus einer ganzen Reihe von Hand-Zeichnungen diejenige auswählen, die in Form und Größe ihrem eigenen Körperglied am nächsten käme.

Das Ergebnis: zum einen unterschätzten die Teilnehmer die Länge ihrer Fingerglieder deutlich und systematisch, und zwar um im Mittel knapp 27 Prozent. Der Fehler vergrößerte sich auf dem Weg vom Daumen zum kleinen Finger. Schon von einem Finger zum nächsten lagen die Probanden im Mittel um weitere 7,2 Prozent daneben. Anders verhielt es sich jedoch, wenn die Studienteilnehmer die Breite ihrer Hand schätzen sollten - in diesem Fall über den vertikalen Abstand zwischen zwei Fingergelenken. Hierbei lagen sie stets deutlich (und zwar durchschnittlich etwa zwei Drittel!) über dem wahren Wert - insgesamt hält der Mensch seine Hand also für breiter und kürzer als in Wirklichkeit.

Mögliche Ursache: taktile Sensoren

Eine mögliche Ursache fanden die Forscher, als sie die Wahrnehmungsfehler in Relation zur Sensor- beziehungsweise Nervendichte in den betreffenden Regionen setzten. Bei den für taktile Reize besonders empfindlichen Zeigefingern verschätzte sich das Gehirn zum Beispiel weit weniger als beim recht unempfindlichen kleinen Finger; das Prinzip ließ sich aber auch bei der kompletten Hand nachvollziehen. Die Ergebnisse blieben stabil, auch wenn die Forscher die Handposition umdrehten oder linke und rechte Hand tauschten. Dass manch Schlabber-Unterhemdenträger die Größe seines Bauches unterschätzt, könnte also ganz einfach daran liegen, dass der menschliche Bauch mit relativ wenigen taktilen Sensoren bestückt ist...

Die Forscher vermuten denn auch, dass das interne Körpermodell in seiner Verzerrung dem sensorischen Homunculus ähnelt, der jeden Körperteil entsprechend seiner nervlichen Kopplung im Gehirn präsentiert.