Verfassungsschutz abschaffen? Hm, lieber doch nicht
Seite 2: Geheimer, als die Polizei erlaubt
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Polizei und Geheimdienste werden in Deutschland streng getrennt. Denn hierzulande hat man mit einer Geheimen Staatspolizei ähnlich schlechte Erfahrungen gemacht wie mit einem Ministerium für Staatssicherheit. Soweit die Trennung von Aufgaben und Zuständigkeiten die Terrorbekämpfung im Bereich des Islamismus behinderte, wurde dies durch Einrichtung des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ aufgefangen, das die Sicherheitsbehörden insoweit koordiniert. Soweit bekannt, hat das 2004 eingerichtete GTAZ keine nennenswerten Skandale produziert.
An Skandalen hatte der Verfassungsschutz in seinen über 70 Jahren keinen Mangel. Aber weder folgt hieraus, dass man dort aus Fehlern nichts gelernt hätte noch wäre ersichtlich, dass andere Behörden die Aufgaben überzeugender lösen. Ein übergriffiger Herr Haldenwang oder sein deutlich seltsamer Thüringer Amtskollege Kramer würden ihre Position auch an anderer Stelle strapazieren, ob man diese nun als Sonderabteilung in einem Innenministerium, als Staatsschutzabteilung bei der Polizei installiert oder als akademische Einrichtung zur Beobachtung des politischen Milieus.
Suchsland kritisiert konkret auch eine Beobachtung der "Fridays for Future"-Bewegung, deren teils extreme Mitglieder sich zu Selbstjustiz berechtigt sehen. Radikale Klimaschützer, die in sicherheitsrelevante Einrichtungen wie Flughäfen eindringen oder sich gegen die Polizei nahezu paramilitärisch organisieren, dürfen ruhig leise heulen, wenn man ihnen nunmehr etwas genauer auf die Finger sehen möchte.
Thema verfehlt
An der Praxis des Verfassungsschutzes gibt es tatsächlich viel zu kritisieren. So scheitern etwa etliche Klagen von Betroffenen daran, dass ein Geheimdienst seine Akten regelmäßig nicht öffnen muss oder nur Datenschutzbeauftragte und Richter Einsicht erhalten. Eine Fundamentalfrage, ob man einen Inlandsgeheimdienst benötigt, stellt sich aber gegenwärtig nicht wirklich. Das Aufwärmen dieser uralten wie fruchtlosen Diskussion lenkt allerdings vom eigentlich aktuellen Problem mit dem Verfassungsschutz ab:
Mehr als fragwürdig ist nämlich die neu beanspruchte Kompetenz des Verfassungsschutzes für sogenannte Delegitimierer. Darunter versteht Haldenwang ausdrücklich auch Personen, denen man das Etikett "Coronaleugner" anheftet. Bürger, die für die im Grundgesetz garantierte Gewährleistung ihrer körperlichen Unversehrtheit, Therapiefreiheit und Bewegungsfreiheit sowie Meinungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit eintraten.
Dass im Gegenteil der Rechtsstaat jedenfalls zu Beginn der Coronakrise dysfunktional war, ist inzwischen ein offenes Geheimnis. Der derzeit anscheinend nicht ausgelastete Verfassungsschutzpräsident Haldenwang könnte ja Politiker und Publizisten auf ihre Verfassungstreue überprüfen, die sogar die Internierung von Infizierten oder Verdachtsfällen erwogen hatten und dazu aufriefen, Menschen aufgrund anderer gesundheitspolitischer Überzeugung auszugrenzen.
Und wenn der Verfassungsschutz schon Zeit aufwendet, um sogenannten Propaganda-Delikten nachzugehen, könnte er ja genauso gut diejenigen Wortführer unter die Lupe nehmen, die Maßnahmen-Skeptikern mal eben die Menschenwürde abgesprochen haben. Der Schutz der Menschenwürde ist oberstes Staatsprinzip und damit der politische Kompass eines Verfassungsschützers.
Der Autor ist Rechtsanwalt und vertritt u.a. Ex-Geheimagenten und Terrorverdächtige. 2013 veröffentlichte er das Telepolis-eBook Cold War Leaks über Geheimdienstgeschichte(n) aus dem Kalten Krieg.
In seinen Politthrillern "Das Netzwerk" und "Innere Unsicherheit" hadert eine Präsidentin des Bundesamts für Verfassungsschutz mit ihrer Rolle.