Vermögensungleichverteilung als Chance?

Seite 2: Wie lösen Vertreter der Theorie freier Märkte das Paradoxon der wachsenden Ungleichheit?

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Es gibt gegenwärtig Vertreter einer fortlaufend-steigenden (!) Vermögensungleichverteilung, die auch vehemente Vertreter der Theorie freier Märkte sind. Wie gehen diese Vertreter mit dem Paradox zwischen der theoretischen Annahme eines selbst regulierenden Vermögensausgleichs und der Realität fortlaufend-steigender Vermögensungleichverteilung um? Dabei gibt es eine umfassende Rabulistik von Relativierungen und Beschwichtigungen bzgl. dieses Paradoxons. Drei dieser Rabulistiken werden jetzt genannt.

1. Marktteilnehmer verhalten sich nicht marktkonform

Das erste Argument zur Relativierung des Paradoxons zwischen Theorie des selbst regulierenden Vermögensausgleichs und der fortlaufend-steigenden Vermögensungleichverteilung besagt, dass sich irgendwelche Teilnehmer am Wirtschaftsleben nicht marktkonform verhalten, wenn es zu einer fortlaufend-steigenden Vermögensungleichverteilung kommt. Folglich kann der Markt nicht reibungslos funktionieren und seinen impliziten Vermögensausgleich entfalten.

  • Gegenwärtig bekommen die Investmentbanker ihre Schelte. Sie sind, so der moralische Wortlaut, zu gierig und haben es übertrieben. Es soll zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Investmentbanker die Marktregeln und die moralische Integrität, die aus ihnen hervorgeht, wie Anständigkeit, Ehrlichkeit, Wirtschaftlichkeit, Verantwortungsbewusstsein; Bescheidenheit oder Sparsamkeit, verletzt. Die Investmentbanker haben also mit den Spekulationsgeschäften Anreize geschaffen, die die Kapital- und Vermögensströme eines "theoretisch" gesunden Marktes fehlgeleitet haben. In der öffentlichen Debatte zeigt sich diese Stigmatisierung der Investmentbanker durch ihren Vergleich mit dem moralischen Idealbild des "ehrlichen Kaufmanns" und der "schwäbischen Hausfrau".
  • Der zweite verantwortliche Schuldige für die Vermögensungleichverteilung ist der Staat. Er stört durch sein Eingreifen in den Wirtschaftsprozess die nach Ausgleich strebenden Kapital- und Vermögensströme. Zum Beispiel greift er durch seine Steuerungsinstrumente wie dem Mindestlohn oder die Mehrwertsteuer in das Wirtschaftsgeschehen ein und verzerrt damit die Preisbildungsmechanismen. Unternehmen schlagen diese Kosten wiederum auf die Güterpreise drauf, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit und letztlich der Preismechanismus des Marktes gestört werden. Wenn der Staat den Markt einfach in Ruhe lassen würde und sich alle Beteiligten den Spielregeln unterwerfen, so könnte sich der implizite Vermögensausgleich entfalten. Dass der Staat eine Ursache für die fortlaufend steigende Vermögensungleichverteilung sein kann, liegt nicht daran, dass er in das Wirtschaftsgeschehen eingreift, sondern an der Art und Weise, wie er eingreift. Wenn man bedenkt, dass die BRD zunehmend ein Verbrauchssteuerstaat geworden ist und die (in-)direkten Besteuerungen von Privatvermögen und Unternehmenssteuern gesenkt bzw. abgeschafft wurden, dann kommt es zwangsläufig zu einer stärkeren steuerlichen Belastung der unteren und mittleren Einkommensschichten, während obere Einkommensschichten entlastet werden.
  • Eine weitere Gruppe, die sich nicht marktkonform verhält und stigmatisiert wird, folglich verantwortlich für die Vermögensschere sein soll, sind die ärmeren Haushalte selbst. Es sind nicht die Vermögenden, die den Abstand nach unten hin vergrößern, sondern es sind die ärmeren Schichten, die die Unverfrorenheit besitzen, einfach aufzuhören reich werden zu wollen. Auch sie halten sich nicht an die moralischen Prinzipien des Marktes. Fleiß, Selbstverantwortung und Zielstrebigkeit werden diesen Schichten abgesprochen. Deswegen wird der Abstand zwischen Reich und Arm größer. Die Öffentlichkeit erkennt diese Feindseligkeit hinter solchen Begriffen, wie "Sozialschmarotzertum" oder "römische Dekadenz".
  • Eine letzte salonfähige Variante zur Identifizierung eines Schuldigen, der das Marktgeschehen aus dem Takt bringt, wird in rechtsnationalistischen Kreisen identifiziert. In diesem Diskussionskreis werden anpassungsunwillige Ausländer und Migranten als Ursache für das Scheitern des "Systems" ausgemacht. Auch hier wird gerne auf die moralischen Differenzen hingewiesen, die man zu eigen haben muss, damit alles reibungslos abläuft.

Die "Schuld"-Debatten funktionieren im Kern alle nach dem gleichen Muster. Zuerst wird festgestellt, dass etwas im Wirtschaftsprozess nicht stimmt. Dann wird der normative Kern der Markttheorie als ordnungspolitische Größe überhöht und verlangt, die theoretischen Marktregeln verschärft durchzusetzen, um Abweichler wieder zu disziplinieren, die sich unmoralisch verhalten.

Diese Überhöhung des normativen Kerns der Theorie freier Märkte zeigt sich auch im akademischen Lehrmaterial. So schreibt Gerhard Mussel über die klassische Wirtschaftstheorie5:

Spätestens gegen Ende der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts (gemeint ist das 20gste; Anm. d. Verf.) schien jedoch die Weltwirtschaftskrise die Gültigkeit der klassischen Theorie zu wiederlegen. Die historische Entwicklung sollte indes nicht vorschnell dazu verleiten, die klassische Lehre als "falsch" abzutun. Vielmehr waren in den zwanziger Jahren die Prämissen der Klassik nicht erfüllt.

Dass die Märkte und ihre Teilnehmer u.a. nicht nach der Theorie funktionieren, liegt daran, dass diese das Verhalten der Marktteilnehmer unzutreffend beschreibt. Es gibt zum Beispiel nicht zu unterschätzende privatwirtschaftliche Machtstrategien, die wohlwissend steuernd und manipulativ in die Wettbewerbs- und in die Preisbildungsprozesse eingreifen. Mithilfe von Allianzen und Absprachen werden Chancen auf steigenden Absatz erhöht, Konkurrenten verdrängt, Kostensenkungspotentiale vereinbart und Risiken ausgelagert, minimiert oder umgangen.

Die Markttheoretiker übersehen, dass auch die Rolle des Staates dabei nicht einen Gegensatz zum Markt bildet, sondern er ist Teil dieser privatwirtschaftlichen Machtstrategien. Die Instrumentalisierung der Staatsgewalt zur Schaffung privatwirtschaftlich strategischer Vorteile war immer Teil der Konstitutionsgeschichte des Kapitalismus. Es ist von daher Alltag, sich nicht "marktkonform" zu verhalten, da seine theoretischen Verhaltensregeln schlicht und einfach nicht existieren. Das zeigen auf einem harmlosen Level der Einflussnahme die strategischen Aktivitäten aus den Marketingabteilungen, die nichts weiter im Sinn haben als die Lenkung und die Kontrolle des Marktgeschehens. Nicht mehr so harmlos, aber immer noch legal ist die gezielte Einflussnahme auf die Gesetzgebung und die Rechtsprechung, die zugunsten der eigenen wirtschaftlichen Aktivität ausfallen soll; allgemein bekannt als Lobbyismus.

Die Einflussnahme der Wirtschaft und die Instrumentalisierung der öffentlichen Hand hören aber auch auf dieser Ebene nicht auf. Die Beeinflussung von exekutiven oder judikativen Staatsentscheidungen kann sogar korrupte bis kriminelle Züge annehmen. Von der einfachen Vorteilnahme bis hin zur Bestechung reicht das Spektrum. Auch eine gezielte Außenpolitik - von Handelsabkommen bis hin zu kriegerischen Handlungen - kann Teil privatwirtschaftlicher Machtstrategien sein, die die Positionen der beteiligten Wirtschaftsakteure schützen und stärken. Einfluss nehmen ist eben "normal". Die Maxime ist denkbar einfach. Wirtschaftliche Vorteile müssen nicht im fairen Wettbewerb gesucht werden, sondern man muss sie sich verschaffen.

Von daher sind die Debatten, um die Abweichler, die die Marktdynamik stören, so irreführend und falsch. Sie verklären eher das Marktversagen und behindern eine sinnvolle Ursachenforschung bzgl. der Vermögensungleichverteilung (vgl "Gezielte Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme in Europa").

2. Finanzsektor fördert Produktivittszuwächse

Eine weitere Argumentation zur Relativierung des Paradoxons zwischen der Theorie des selbst regulierenden Vermögensausgleichs und der fortlaufend-steigenden Vermögensungleichverteilung besagt, dass die Produktivitätszuwächse der Unternehmen durch die steigenden Vermögen im Finanzsektor befördert werden. Auf diese Weise wird das Wachstum beschleunigt und werden die Konsumgüter durch Fixkostendegression und Massenproduktion billiger.

Ziel dieser Argumentation ist es anzudeuten, dass eine Diskussion um fortlaufend steigende Vermögensungleichverteilung nicht notwendig ist, wenn die ärmeren Haushalte ihren materielles Hab und Gut mit allerlei Ramsch anreichern können. Die ärmeren Haushalte können sich dann mit Konsumgütern eindecken und ihren materiellen Wohlstand mit weniger Geld steigern. Das stimmt punktuell sogar. Nur ist das kein empirischer Nachweis für die Funktionsweise des Marktes und des stabilen Vermögensausgleichs. Die Überschwemmung mit Ramsch und Billigprodukten zeigt nur, dass sich die Produktivitätssteigerung durch den technischen Fortschritt und die daraus resultierende Konjunktur die Massenproduktion als Standardmodell des Marktwirtschaftens immer weiter durchsetzt. Sie hat aber nichts zu tun mit dem stabilen Vermögensausgleich. Diese Argumentation versucht eher der Dringlichkeit der Frage nach der Vermögensungleichverteilung auszuweichen.

3. Hohen Privatvermögen verdanken sich Finanzprofiten

Das nächste Argument zur Relativierung des Paradoxons zwischen der Theorie des selbst regulierenden Vermögensausgleichs und der fortlaufend-steigenden Vermögensungleichverteilung meint, dass die hohen Privatvermögen der letzten Jahre das Ergebnis der Rentabilität der Finanzprodukte gewesen ist. Fortlaufend steigende Privatvermögen aus dem Finanzsektor sind somit nicht gedeckt. Und so müssen sie früher oder später einfach an Wert verlieren und folglich abgeschrieben werden.

Damit erwarten die Verfechter einer fortlaufend steigenden Vermögensungleichverteilung ein marktbereinigendes Gewitter. Mit ihm löst der Markt selbstregulativ die Probleme fortlaufend steigender Vermögensungleichverteilung ganz von selbst. Damit wird angedeutet, dass die gegenwärtigen ökonomischen Fehlentwicklungen nur als Intermezzo der regulären Marktprozesse zu betrachten sind. Empirisch ist das nur sehr begrenzt zu beobachten. Der Aufbau der Spitzenvermögen wurde nach der Krise 2007 zwar abgeschwächt, aber von einer signifikanten Schließung der Vermögensschere kann überhaupt nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Spitzenvermögen haben alte Pegelstände gekonnt nach oben hin durchbrochen.

Die Problematik an der letzten Argumentation einer Entwertung ist, dass die Eigentümer von größeren Vermögen in der Lage sind, die realen Risiken einer Entwertung ihres investierten Vermögens von diesem abzukoppeln und an Dritte weiterzureichen. Damit sind hohe Vermögen wesentlich resistenter vor markebereinigenden "Entwertungen" gefeit als kleinere Vermögen, die zumal auch unter den wirtschaftlichen Entwertungsprozessen leiden.

Unter dem Strich zeigt die Geschichte der letzten 30 Jahre, dass sich die Vermögenungleichverteilung trotz zunehmender Wirtschaftskrisen und marktbereinigenden Entwertungen immer weiter vergrößert. Denn das Reinvermögen der privaten Haushalte nahm konsequent durch alle wirtschaftlichen Turbulenzen der letzten Jahre zu. Ein Blick auf die Entwicklung der Reinvermögen der BRD zeigt das deutlich. Ohne die geschickte Auslagerung von privatwirtschaftlichen Investitionsrisiken wäre das gar nicht machbar.

Statistisches Bundesamt und deutsche Bundesbank (2013): Sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen; Wiesbaden, Angaben in Mrd. Euro.

Und zugleich hat sich die Vermögensungleichverteilung zwischen den Haushalten nicht abgeschwächt.

Im Folgenden werden ein paar Beispiele genannt, die aufzeigen, wie die Risiken von privatwirtschaftlichen Investitionen ausgelagert werden können, um auf diese Weise vor Entwertungen geschützt zu werden.

Für 2010 hat der FSB (Financial Stability Board; Anm d. Verf.) das Volumen des globalen Schattenbanksystems grob auf etwa 46 Billionen EUR geschätzt, während es 2002 noch 21 Billionen EUR betragen hatte. Dies entspricht 25-30 % des gesamten Finanzsystems und der Hälfte aller Bankaktiva. In den Vereinigten Staaten ist dieser Anteil sogar noch höher und liegt schätzungsweise zwischen 35 % und 40%.

  • Das erste Beispiel für die Auslagerung von Investitionsrisiken, die sich über den ganzen Globus ziehen können, war der Handel mit verbrieften faulen Krediten, mit dem die Immobilienkrise 2007 in den USA ihren Anfang nahm. Bevor die gekauften und risikobehafteten Papiere "Feuer" fangen, werden sie schnell weiter verkauft. So reicht man das Risiko einfach an den Nächsten. Problematisch wird es für denjenigen, der das Papier besitzt, während sich herausstellt, dass es nicht den Wert hat, den es haben sollte.
  • Ein weiteres Paradebeispiel für die Auslagerung von privatwirtschaftlichen Investitionsrisiken bilden die Geschäftspraktiken von Private-Equity-Gesellschaften, die solide finanzierte Unternehmen aufkaufen, hohes Fremdkapital aufnehmen und dieses in die Finanzstruktur des gekauften Unternehmens eingliedern. Dann werden die Unternehmen weiter verkauft und die Private-Equity-Gesellschaft lässt sich zwischenzeitlich fürstlich als neuer Eigentümer und für ihre Rolle als Unternehmensführung bezahlen. Nach dem Verkauf ist die Privat Equity Gesellschaft reicher und das abgestoßene Unternehmen steht mit einer schlechteren Finanzierungstruktur und einer schlechteren Wettbewerbsfähigkeit wieder auf dem Markt. Dann folgen die Umstrukturieren des Unternehmens, um die verschlechterte Finanzlage aufzufangen. Nicht selten werden den Arbeitnehmern dann die Löhne gekürzt.
  • Die gegenwärtigen Unternehmensformen lassen ohne Zweifel Eigentümerstrukturen zu, die durchaus Investitionsrisiken auf andere abwälzen können. In einer Unternehmensform steckt die Abspaltung der wirtschaftlichen Investitionsrisiken von Privatpersonen sogar im Namen; die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, kurz GmbH.
  • Auch das Konzept der "Bad Banks" ist nichts weiter als die Auslagerung von Unternehmensrisiken. Dass sich damit immer noch Geld verdienen lässt, zeigt auch das "Grünbuch Schattenbanksystem" der europäischen Kommission:

Es gibt unzählige weitere legale Tricks, Geschäftsmodelle, Eigentümerkonstruktionen und vertragliche Haftungsauschlüsse, die die Risiken privatwirtschaftlicher Investitionen auslagern und auf andere abwälzen. Ganze Berufszweige verdienen sich damit eine goldene Nase.

Die Marktheoretiker liegen also falsch, wenn sie meinen, die fortlaufend steigende Vermögensungleichheit würde sich einfach durch naive Marktbereinigungsprozesse wieder in einen stabilen Vermögensausgleich zurückverwandeln.6 Das Karlsruher Institut für Wirtschaftsforschung, das nach eigenen Angaben von öffentlichen Geldern bezahlt wird und sich auf Ludwig Erhards "Wohlstand für Alle" bezieht, sagt sogar, dass die Darstellung der Vermögensverteilung privater Haushalte, wie sie z.B. vom DIW vorgenommen wird, "eine maßlose Untertreibung"7 ist.

Die drei aufgezeigten Ansätze zur Relativierung des Paradoxons zwischen der Theorie des selbst regulierenden Vermögensausgleichs und der fortlaufend-steigenden Vermögensungleichverteilung zeigen eine gewisse geistige Verrohung und Realitätsferne. Man versucht mit Ach und Krach, die steigende Vermögensungleichverteilung nicht als grundsätzliche Störung im Wirtschaftskreislauf aufzufassen und zugleich die Theorie freier Märkte dabei heranzuziehen. Was schlicht und einfach logisch nicht funktioniert.

Teil 2 demnächst: Die Folgen zunehmender Vermögensungleichverteilung.