Verölte Wahrheit

Wissenschaftler versuchen, die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zu bilanzieren

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Das Bohrloch in der Tiefsee unter der ehemaligen Ölplattform Deepwater Horizon ist inzwischen versiegelt, aber wie groß der Schaden durch das Wochen lang ausströmende Rohöl tatsächlich ist, bleibt umstritten. Wissenschaftler schließen nun aus Videobildern auf die Menge des schwarzen Goldes, die seit 22. April ins Meer floss.

Öl auf einer Welle im offenen Meer, unweit der Stelle, wo die Plattform Deepwater Horizon explodierte. Foto: NOAA

Es geschah am 20. April 2010: Die Ölplattform Deepwater Horizon vor den Küsten Lousianas brennt nach einer Explosion lichterloh, elf Arbeiter kommen bei dem Unfall ums Leben. Zwei Tage später versinkt die brennende künstliche Insel, deren Bohrer sich in einer Tiefe von 1.500 Meter in den Meeresboden gesenkt hatten, um das Macando-Ölvorkommen 252 für den Energiekonzern BP zu erschließen.

Was genau geschah und wer dafür verantwortlich war, ist noch nicht endgültig geklärt. BP weist in einem eigenen Untersuchungsbericht die Alleinschuld von sich – es wird wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis Gerichte geklärt haben, wie es zu der Explosion und dem Untergang der Deepwater Horizon kam.

Gleich nach dem Unfall wird dagegen klar, dass aus dem tiefen Loch mitten im Meer jede Menge Öl und Gas hervor schießt. Der BP-Chef Tony Hayward versichert der Öffentlichkeit unverzüglich:

Wir sind entschlossen, alles in unserer Macht stehende zu tun, um die Ölkatastrophe einzudämmen und die Situation so schnell, sicher und effektiv unter Kontrolle zu bringen wie möglich. Wir haben Ausrüstung, Ressourcen und fachliche Kompetenz von Weltklasse vereint und können noch mehr herbeischaffen falls nötig. Es sollte keinen Zweifel geben, dass wir das Austreten von Öl weitgehend verhindern, und die Umwelt sowohl im Meer als auch an der Küste vor Schäden schützen werden.

Große Worte mit wenig dahinter, wie die folgenden Wochen zeigen. Schon am 26. April treibt an der Unfallstelle ein riesiger Ölteppich auf der Meeresoberfläche, und erst Mitte Juli gelingt es, das Loch tief unter den Wellen des Golfs von Mexiko zu stopfen. Seit 19. September gilt die Ölquelle offiziell als „tot“ (vgl. "Es ist überhaupt nicht vorbei, noch lange nicht!")

Planlos und irreführend

Sehr schnell zeigte sich, dass BP keinen brauchbaren Plan hatte, wie sie das tausende Meter unter den Meeresboden reichende Leck im Meeresboden abdichten sollte. Drei Monate lang jagte ein Versuch den anderen, darunter eine Stahlglocke, oder das Einpumpen von Schlamm unter so schönen Namen wie „Top Kill“ und „Static Kill“ – letztlich war „Bottom Kill“ die Abdichtung der Ölquelle mit Zement von Erfolg gekrönt (vgl. Methods That Have Been Tried to Stop the Leaking Oil).

BP hatte vorher schon eine Vielzahl von Unfällen (vor allem auf Kosten von Arbeitern) in der Unternehmensgeschichte zu verzeichnen, die jedes Mal mit einer öffentlichen Entschuldigung sowie feierlichem Gelöbnis der Besserung zu den Akten gelegt wurden. Für die Tiefsee-Bohrung im Golf von Mexiko hatte der Multi keinen echten Notfallplan – genau wie alle anderen Öl-Konzerne, wie sich vor dem Untersuchungsausschuss des US-Senats erwies, wo alle schlicht das gleiche ungenügende Papier vorlegten, wie eine kürzlich (leider zu später Stunde) gesendete ZDF-Dokumentation zeigt (siehe Video "Schmierige Geschäfte. Amerika und die Öl-Katastrophe").

Die Untersuchung der Vorgänge um den Untergang der Deepwater Horizon brachten auch noch einen anderen öliger Sumpf ans Licht: Die enge Verknüpfung der Energiekonzerne mit denen, die ihnen die Lizenzen erteilen und sie kontrollieren sollten. Erst jetzt wurden politische Konsequenzen gezogen und in der zuständigen US-Behörde die Lizenzvergabe von der Kontrollfunktion getrennt. Allgemein bekannt waren und sind die riesigen Spenden dieser Unternehmen für die Wahlkämpfe von US-Politikern.

Ein NASA-Foto zeigt den Ölteppich am 17. Mai vor der Küste von Louisiana. Bild: NASA/JPL-Caltech/Dryden/USGS/UC Santa Barbara

Von Anfang an hat BP versucht, die Ölkatastrophe klein zu reden, zu beschönigen, und den öffentlichen Blick zu vernebeln. Für viel Geld wurde PR betrieben, gleichzeitig Journalisten nach Möglichkeit an einer kritischen Berichterstattung gehindert. Viele Leute an der Küste, die ihre Lebensgrundlage durch die Katastrophe verloren, stellte der Energieriese für die Aufräumarbeiten ein (vgl. Ölkommando statt Fischfang), lokale Gastronomen hatten darüber hinaus selbst ein Interesse, die Ölverschmutzung eher zu untertreiben, um bald wieder Touristen bewirten zu können. Dazu kommt, dass die Energieunternehmen an den betroffenen Küsten der US-Bundesstaaten Louisiana, Mississippi, Alabama und Florida viele Jobs auf den ungefähr 4.000 Öl- und Gasplattformen bietet, und an Land wiederum viele Arbeitsplätze davon abhängen.

Lokale Politiker und die Partei der Republikaner treten darüber hinaus offensiv für ein Ende des Moratoriums bezüglich Tiefseebohrungen im Golf von Mexiko ein. Es konstituierte sich ein breites Netzwerk, das kaum Interesse daran hat, die Ölkatastrophe in allen Details öffentlich zu machen (siehe Das Öl, die Interessen und das Meer).

Sprudelndes Öl und die Wissenschaft

Wissenschaftler beklagten bereits vor Monaten die mangelnde Transparenz, fehlende Informationen, und die Tatsache, dass BP selbst viele Studien in Auftrag gebe und bezahle – so sei unabhängige Forschung kaum möglich (vgl. Geheimnisumwitterte Ölpest und BP erkauft sich Schweigen). Ein Grossteil des auf den Wellen schwimmenden Öls wurde durch den Einsatz von Chemikalien tröpfchenweise zum Absinken gebracht und lagert sich jetzt möglicherweise als Asphaltteppich auf dem Meeresgrund ab.

Bakterien zersetzen das Öl, verbrauchen dabei aber eine Menge Sauerstoff – was zu Todeszonen unter Wasser führen könnte, weil eine Vielzahl von Lebewesen auf Sauerstoff angewiesen ist. Die staatliche National Oceanic and Athomspheric Administration (NOAA), die auch fast 90 Prozent der Fischereigebiete wieder frei gegeben hat, signalisierte Anfang September Entwarnung, denn nach ihren Untersuchungen gibt es im Golf von Mexiko keine derartigen Todeszonen.

Diese Feststellung halten andere Wissenschaftler zumindest für verfrüht, wenn nicht gar für falsch. Die Prognosen widersprechen sich, jede Forschungsarbeit über die Folgen der Ölpest führt zu heftigen Debatten. Wissenschaftler der University of Georgia fanden Ölschichten in Sedimentproben vom Meeresboden und halten sie für eine Folge der Katastrophe, andere deuten sie dagegen als natürliches Phänomen. Unklar ist selbst, wie viel Öl tatsächlich ausgesprudelt ist, und wie viel davon sich noch im Meer verbirgt.

Breites Rohöl-Band auf dem Meer Mitte Mai, fotografiert aus einem Flugzeug. Bild: NOAA

Viele Forscher beklagen, dass sie bislang kaum Daten bekommen – das Gebiet war während der Aufräumarbeiten faktisch eine Art Sperrgebiet, um die Bekämpfung der Ölschwaden nicht zu behindern.

Timothy J. Crone und Maya Tolstoy von der Columbia University in Palisades gingen deswegen einen ungewöhnlichen Weg: Sie analysierten Unterwasser-Videos des in der Tiefsee ausströmenden Öls. Ihre Ergebnisse veröffentlichen sie unter dem Titel "Magnitude of the 2010 Gulf of Mexico Oil Leak" in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science.

Sie nutzten eine neue, raffinierte Methode namens Optical Plume Velocimetry, die der marine Geophysiker Timothy Crone selbst entwickelte, um den heißen Ausfluss der Schwarzen Raucher, der Hydrothermalquellen in der Tiefsee, zu messen.

Dabei werden Verwirbelungen von Flüssigkeitsströmen anhand von hoch auflösenden Videoaufnahmen analysiert. Pixel für Pixel wird so klar, wie viel genau einer Quelle entweicht. Das Verfahren hat sich in der Grundlagenforschung über die Tiefseeraucher bewährt, und wird nun von den Wissenschaftlern verwendet, um die Menge des ins Meerwasser geströmten Rohöls zu bestimmen.

Die Berechungen ergaben, dass insgesamt rund 5,2 Millionen Barrel Öl aussprudelten, das sind knapp 827 Millionen Liter. Das entspricht in etwa den Schätzungen der US-Regierung und anderer Experten, allerdings waren deren Quellen und angewandte Verfahren bislang eher unklar.

Wir wollten eine unabhängige Abschätzung erstellen, denn es herrscht allgemein der Eindruck, dass die bisher verfügbaren Zahlen nicht zwingend korrekt sind.

Timothy Crone

Mehr als eine Schätzung kann er mit den für ihn verfügbaren Daten auch nicht erstellen. Er hatte nur zwei kurze Videosequenzen (20 bis 30 Sekunden lang), die eine ausreichend hoch auflösende Qualität aufweisen, praktisch das einzige entsprechende von BP und der Regierung veröffentlichte Material, das ihm von Kongressmitgliedern zur Verfügung gestellt wurde. Die ständig im Netz verfügbaren Bilder der Webcam an der Quelle sind wegen ihrer geringen Auflösung für das Verfahren unbrauchbar.

Die beiden Wissenschaftler gehen davon aus, dass von 22. April bis 3. Juni (bis zur Beseitigung des Steigstutzens) täglich 56.000 Barrel oder rund 8,9 Millionen Liter Öl ausströmten, danach pro Tag 68.000 Barrel bzw. rund 10,8 Millionen Liter. BP hat nach eigenen Angaben 805.000 Barrel (knapp 128 Millionen Liter) abgeschöpft. Demnach schwappten 4,4 Millionen Barrel Öl ins Meer und verblieben dort, das sind 700 Millionen Liter.

Crone betont, dass sie mit dem zugänglichen, geeigneten Material nicht mehr als eine grobe Schätzung erstellen konnten, denn es gab es noch weitere kleine Lecks der Quelle, die sich zunehmend vergrößert haben sollen, und zudem könnte der Ölfluss aus dem Hauptloch stärker variiert haben. Aber immerhin legen hier zwei Wissenschaftler endlich eine Analyse vor, die ein Peer-Review hinter sich hat. Maya Tolstoy stellt klar:

Das ist nicht das letzte Wort zum Thema. Aber es ist das erste Wort, das eine Begutachtung durch andere Wissenschaftler erfahren hat. Und wir denken, es handelt sich um eine richtig gute Schätzung.

Jetzt hoffen die beiden auf die Veröffentlichung von mehr brauchbaren Videomaterial und anderer Daten, damit zunehmend unabhängige Forschung stattfinden kann.

Schwarzes Gold

Es geht um Geld, um sehr viel Geld. Bislang hat BP nach eigenen Angaben bereits 9,5 Milliarden Dollar für die Folgen des Deepwater Horizon-Untergangs ausgegeben, insgesamt 20 Milliarden wurden auf Druck von Präsident Obama hin in einen Entschädigungsfonds eingezahlt. Der Konzern schätzt aktuell, dass der direkte finanzielle Schaden 32 Milliarden Dollar betragen wird.

Dazu kommt die Reaktion der Börsen: Das Unternehmen BP verlor seit Ende April mindestens 70 Milliarden Dollar an Wert. Und der Imageschaden: Als Spitze des Eisbergs tritt Tony Hayward nicht ganz freiwillig als Folge seines katastrophalen Krisenmanagements Anfang Oktober als Vorstandsvorsitzender zurück. Die Kosten für die Schäden an Wirtschaft und Umwelt im Golf von Mexiko, die BP bezahlen muss, hängen nicht zuletzt davon ab, was Wissenschaftler ermitteln. Der Konzern kann also nur hoffen, dass nicht allzu viel unumstritten nachgewiesen wird.

Dazu kommt – so pervers es klingt – das die gerade versiegelte Macando-Ölquelle 252 durch die Bohrung der untergegangenen Deepwater Horizon und das ausströmende Öl ihre Ergiebigkeit bewiesen hat. Schon jetzt spekuliert die Wirtschaftspresse, dass noch 90 Prozent des Öls im Wert von mehr als drei Milliarden Dollar dort auf dem Grund des Golfs von Mexiko ruht und seiner Ausbeutung harrt – vielleicht durch die Partner von BP.

Eigentlich glaubt niemand wirklich daran, dass das Moratorium der US-Regierung lange Bestand haben wird, wahrscheinlich wird es im November auslaufen, und die Bohrungen im Golf von Mexiko werden wieder beginnen. Auch in Europa, wo zwischenzeitlich ein Stopp der Tiefseebohrungen im Nordatlantik diskutiert wurde, sieht es gar nicht nach einem Sieg der Befürworter aus (vgl. Gefahr Tiefsee-Öl: OSPAR verkennt den Ernst der Lage).