Verschickte Kinder: Sadismus und langes Wegschauen
Misshandlungen hatten in "Erholungsheimen" System. Betroffene wurden dort gegeneinander ausgespielt. Was sie heute sagen. (Teil 2 und Schluss).
"Ich dachte immer, das sei nur mir passiert." Diesen Satz hat Detlef Lichtrauter hunderte Male gehört. Lichtrauter ist Erster Vorsitzender und Pressesprecher des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickung NRW (AKV-NRW), und er sagt, jedes Mal, wenn er sich öffentlich zum Thema geäußert habe, meldeten sich weitere Menschen, die selbst als Kinder auf in sogenannte Erholungsheime verschickt worden seien. Und dann sprächen sie diesen Satz aus.
"Nach einem Zeitungsartikel in der WAZ habe ich ungelogen anderthalb Tage täglich acht bis zehn Stunden mit Betroffenen telefoniert. Und das ist immer sehr ergreifend. 60-jährige Frauen und 80-jährige Männer sind in Tränen ausgebrochen", berichtet Lichtrauter. Weil er selbst ein Betroffener sei, spürten die Menschen, dass er auf Augenhöhe mit ihnen sei. Und dann sprächen sie.
"Der Standardsatz ist immer: ‚Ich dachte immer, das sei nur mir passiert.‘ Auch hunderte Male gehört habe ich den Satz: 'Ich dachte immer, ich sei selber schuld, irgendetwas stimmt nicht mit mir.' Oder: 'Die Betreuer sagten zu mir: 'Wenn du diese Lügengeschichten weiter erzählst, kommst du nie wieder nach Hause. Dann wollen deine Eltern dich nicht mehr sehen'."
Warum Verschickung?
Detlef Lichtrauter kam im Alter von zwölf Jahren in ein Verschickungsheim, das Kindersanatorium Haus Bernward in Bonn-Oberkassel. Er war damit relativ alt. "Darum habe ich sehr viele und detaillierte Erinnerungen."
Für eine Verschickung gab es unterschiedliche Gründe. Laut der Studie "Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945. Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen" von Prof. Dr. Marc von Miquel bezuschussten die Landesversicherungsanstalten in NRW Erholungskuren vor allem bei "Erkrankungen der Atemwege wie Bronchialasthma und Bronchitis. Hinzu kamen Herz-Kreislauferkrankungen und Haltungsschäden."
Lichtrauter berichtet, dass viele Kinder aufgrund der Ergebnisse ihrer Schuleingangsuntersuchung verschickt worden seien, darum waren die meisten so jung. Sein Fall lag etwas anders: "Bei mir gab es keine medizinische Indikation. Ich sollte aufgepäppelt werden", erzählt er.
Er war dünn – nicht der Einzige zu dieser Zeit: "In den Sechzigern bis Achtzigern hatte man kein Handy oder Tablet, sondern Fahrrad, Kettcar, einen Fußball, und wir spielten Fangen und Verstecken. Wir waren den ganzen Tag in Bewegung, da war niemand adipös, wir waren alle rank und schlank!"
Die Gesamtzahl der Verschickungskinder lässt sich nicht genau angeben, so die Miquel-Studie: "Gesicherte Angaben zu der Anzahl der verschickten Kinder nach 1945 sind auf der Grundlage des vorhandenen Datenmaterials nicht möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht erhoben wurde, wie viele Kinder mehrfach an Kurmaßnahmen teilnahmen."
Bundesweit dürften es Millionen Kinder gewesen sein, Miquel fasst eine Schätzung der Autorin und Betroffenen Anja Röhl aus "Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt" (Gießen, 2021) zusammen: "Um die Gesamtzahl der verschickten Kinder in der Bundesrepublik zu ermitteln, legt Röhl die für 1963 amtlich genannte Kapazität von 56.608 Plätzen für Kurkinder zugrunde."
Ausgehend von einer Belegung von fünf bis sieben Kureinheiten pro Einrichtung im Jahr schätzt Röhl die Anzahl der verschickten Kinder auf 300.000 bis 400.000 Kinder pro Jahr, für den Zeitraum von 20 Jahren von 1960 bis 1979 damit auf sechs bis acht Millionen.
Dies sei jedoch eine konservative Schätzung, während die Publikation von Folberth [Sepp Folberth (Hg.), Kinderheime, Kinderheilstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz: mit Textbeiträgen von K. Nitsch und H. Kleinschmidt, einem Verzeichnis der Heime, Heilstätten und Anstalten und sonstigen wichtigen Anschriften für die Kinderpraxis, München, 1. Auflage 1956, 2. Auflage 1964] auf eine höhere Zahl um 12 Millionen Kinder schließen lasse."
"Der Erfolg wurde in Kilos gemessen"
Kinder sollten aufgepäppelt werden, sie sollten gesund werden, das wollten jedenfalls ihre Eltern. In der Praxis allerdings litten die Kinder nur zu oft unter Zwängen und – man kann es nicht anders sagen – oft auch Bösartigkeit und Sadismus.
So erinnert sich Detlef Lichtrauter an seine Zeit: "Man wurde zum Essen gezwungen, in der ersten Woche gab es jeden Tag zwei Scheiben Brot, in der zweiten Woche drei, in der dritten Woche vier. Der Erfolg wurde in Kilos gemessen.
Man musste so lange dasitzen, bis man aufgegessen hatte. Es herrschte Redeverbot, wenn man redete, wurde man angebrüllt, und wenn das nichts nützte, wurde die Tür zum Büro von Dr. Müller geöffnet. Und dann war es sofort totenstill."
Einmal habe es Linsensuppe gegeben, "da waren alle am Würgen, und mein Gegenüber erbrach sich in den Teller. Dann wurde er angeschnauzt und musste alles aufessen. Auch das Erbrochene", erinnert er sich.
Andererseits: Weil viele Kinder Bettnässer waren, habe man ab 17 Uhr nichts mehr trinken dürfen, "da wurde die Hauptwasserleitung abgestellt, im ganzen Haus."
Drakonische Strafen – Freundschaften kaum möglich
Die Kinder konnten sich nicht untereinander verbünden:
Es haben sich dort keine Freundschaften gebildet. Denn man war an einem Tag Opfer und am anderen Tag Täter. Das kam so: Es gab relativ viele Bettnässer und die wurden am nächsten Morgen vor der ganzen Gruppe bloßgestellt. Die sollten dann die Bettnässe auslachen. Als Kind entwickelt man schnell ein Gespür dafür, dass die Rollen schnell wechseln konnten.
Detlef Lichtrauter
Die Erwachsenen seien unberechenbar gewesen und die Strafen drakonisch: "Man wurde angepöbelt, oder man bekam nur Ohrfeige, oder eine Tracht Prügel." Einmal wurde er Zeuge einer "Prügelorgie" des leitenden Arztes Dr. Otto Müller: Drei oder vier Jungs waren nachts aufgestanden, wurden von der Schwester ertappt, die sagte dem Arzt Bescheid, "und der ist von Bett zu Bett gegangen, hat den Jungen die Bettdecke weg und die Hosen runtergezogen, und sie richtig verprügelt."
Das erlebte er noch im Jahr 1973! In diesem Jahr wurde die Prügelstrafe fast in der gesamten Bundesrepublik abgeschafft – lediglich Bayern verbot sie in der Schule erst im Jahr 1983. "Diese Verschickungsheime waren rechtsfreie Räume, verteilt über das ganze Bundesgebiet", sagt Lichtrauter.
Medizinische Gewalt: Sedierungen wegen Personalmangels
Diese "rechtsfreien Räume" betrafen nicht nur Prügel, sondern auch "medizinische Gewalt", wie Miquel es in der Studie (S. 45 ff) ausdrückt. Man müsse das ärztliche Handeln – meistens waren es Kinderärzte – auch daraufhin "untersuchen, inwiefern medizinische und therapeutische Gewalt eingesetzt und gerechtfertigt wurde.
Damit sind die Medikamentenversuche in der Kinderheilfürsorge mit zuweilen tödlichem Ausgang angesprochen, die mittlerweile in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt sind." (S. 46)
Auch Lichtrauter erinnert sich an diese spezifische Art von Gewalt: Jeden Abend nach dem Abendessen sei die Betreuerin mit einer halb durchsichtigen Plastikdose voller Tabletten durch die Reihen gegangen.
"Dann mussten die Kinder den Kopf in den Nacken legen und bekamen eine Tablette rein in den Mund. Die mussten sie trocken runterschlucken und danach wurde kontrolliert - Zunge links, Zunge rechts, Zunge hoch - ob die Tablette auch runtergeschluckt worden war."
Später erfuhr Lichtrauter, dass in dem Heim zwei Medikamente verabreicht wurden, Implicor und Protactyl: "Die Kinder wurden sediert, abends, denn es gab nur eine Nachtschwester für 60 bis 65 Kinder. Die saß da zwischen der Jungs- und der Mädchenetage."
Auch überliefert sei, dass besonders lebhafte Kinder mit einer Spritze sediert wurden. Und sein Nachbar sei Bettnässer gewesen, "der wurde jeden Morgen gefragt, ob er eingenässt hatte, dann wurde er in den Keller geführt und bekam jedes Mal eine Spritze in den Po." Dabei habe es sich um destilliertes Wasser gehandelt – der Zweck sei Angstmache und Strafe gewesen.
Keiner hörte zu
Miquel berichtet zudem, dass viele Eltern ihren Kindern nicht geglaubt hätten. Und wenn doch, wenn sich die Eltern dann an die Behörden wandten, hätten diese den Eltern nicht geglaubt – und wenn doch, dann hätten die Behörden nicht adäquat reagiert.
Detlef Lichtrauter erinnert sich, wie er als Kind zurückkehrte. Als seine Mutter fragte, wie es war, habe er gesagt: "Gut." Verdrängung, meint er. Erst als er über 30 Jahre alt war, mehr als 20 Jahre nach dem Heimaufenthalt, sprach er mit seiner Mutter darüber. Ein einziges Mal.
Er sagte ihr, wie schrecklich es war. "Meine Mutter, eigentlich eine sehr emotionale und empathische Frau, und eigentlich war ich ihr Ein und Alles, aber sie hat bloß gesagt 'Ach Detlef, war es denn wirklich so schlimm?‘"
Auch das, diese abwertende Reaktion der Eltern, ist nicht nur ihm passiert.
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