Verschwörungsangst und Viruswahn
Seite 2: Angst als kommunikatives Phänomen
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Der Punkt, der hier gemacht wird, ist, dass das "paranoiden Geraune" oder die Unfähigkeit "[mit] Ambivalenzen leben zu können", die nach Eisenberg zu der dualistischen Ansicht verleiten, "Irgendjemand steckt dahinter!" in der Pandemie kein Alleinstellungsmerkmal der Verschwörungstheoretiker oder Impfgegner sind.
Im Gegenteil: es sind gerade auch hartgesottene Impf-Apologeten in Politik, Medien und Wissenschaft, die mit rhetorischen Figuren wie einer vermeintlichen "Pandemie" oder "Tyrannei der Ungeimpften" Feindbilder reproduzieren. Damit einher geht die emotionale Übertragung von Angst, Wut bis hin zu Hass auf die entsprechende (fiktive) Gruppe der Impfgegner.
Das bringt uns zu der Einsicht, dass Angst ein weitaus komplexeres und dynamischeres kommunikatives Phänomen ist, als es Konstrukte wie "Verschwörungsmentalität" suggerieren und erfassen können. Der Soziologe Barry Glassner schrieb bereits 1999, "dass viele Ängste konstruiert werden, um vor anderen Ängsten zu schützen und auch vor Angst als solcher."2 Eisenberg versucht das für Chip-Implantat-Verschwörungstheorien sichtbar zu machen, wenn er mutmaßt, dass auch diese "eine Spur von Wahrheit" beinhalten würden, "nämlich die, dass wir alle mehr oder weniger fremdbestimmt leben und von anderen gesteuert werden."
An dieser Stelle unterlässt er es aber, den Hygienismus im Zusammenhang mit Kontrollwahn oder -zwang als weitere Verobjektivierung der kollektiven Angst- oder Ohnmachtserfahrung gegenüber dem grassierenden "unsichtbaren Feind" auf die Virusangst zu übertragen. Ist nicht die Virusangst das Komplement zur Verschwörungsangst?
Und "deponieren" wir nicht, wie Eisenberg selbst schreibt, in den Forderungen nach drastischeren Hygienemaßnahmen oder der Schuldzuweisung an die Impfgegner unsere "archaischen (Ab-)Spaltungen" in Viren bzw. ihre menschlichen Überträger als "böse Objekte"?
Und zuletzt: Dient nicht die aktuelle mediale Kampagne gegen Ungeimpfte, der Eisenberg mit seiner Psychologisierung indirekt Vorschub leistet, als Ablenkung von den, wie er selbst schreibt, "wahren Verursachern der Misere" (politisches Versagen, kapitalistische Ausbeutung im Medizin- und Pflegebereich) und der Verschiebung von "aggressiven Energien auf Ersatzobjekte" (Ungeimpfte)?
Angst als kommunikatives und soziales Phänomen zu begreifen, bedeutet auch zu sehen, wie sich Angst(-kommunikation) nicht nur intrapsychisch entwickelt, sondern vor allem auch, wie sie sich interaktiv zwischen Gruppen entfaltet und entsprechende Eskalations- oder Gewalt-Dynamiken entfesselt. Konkret könnte das für die Corona-Pandemie bedeuten, zu untersuchen, welche Angst-Diskurse in welchen Medien sich genealogisch wie entwickelten, welche (tieferen/latenten) Ängste mit ihnen verknüpft sein könnten und welche gesellschaftlichen Folgen ihre Kommunikation zeitigt.
"Gates kapert Deutschland"
In dem über drei Millionen mal geklickten Videoclip "Gates kapert Deutschland" stellt der erwähnte Medienmacher Ken Jebsen verschiedene Behauptungen auf. Unter anderem sagt er, dass die WHO von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) beherrscht würde, diese auch die Bundesregierung korrumpiert hätte und eine Impfpflicht vorbereiten würde, in der Menschen global mit einer Gesundheits-ID ausgestattet werden sollten, was zu einer totalen Überwachung führen würde. Das Video ist beispielhaft für die Verbreitung von Verschwörungstheorien sowie ihre "infodemische" Bekämpfung durch Faktenchecks aus Angst vor ihrer (gesundheits-)schädigenden Wirkung.
Die Kritik an Bill Gates und seiner Stiftung wie auch andere Punkte in dem betreffenden Video ist hochgradig überspitzt, mit Fakten nimmt es der YouTuber nicht so genau. Die behauptete Zahl von 80 Prozent Spendenanteil der BMGF an der WHO ist unhaltbar, ebenso wie die Aussage, Gates und seine (Ex-)Ehefrau bestimmten den Corona-Kurs in Deutschland. Dennoch verweist diese Kritik auf blinde Flecken und Verwerfungen im Corona-Diskurs. So hat seit dem Frühjahr 2020 die kritische Berichterstattung über die "disruptiven" Praktiken der BMGF nahezu komplett ausgesetzt.
Während Faktenchecks vom WDR oder Focus behaupten, dass an dem KenFM-Video wesentliches oder gar "alles falsch" ist, kann man mit etwas Abstand auch zu einer anderen Einschätzung kommen.
Vor allem bei dem Punkt über die drohende "Impfpflicht durch die Hintertür", der vom Focus im Mai 2020 als "nicht den Tatsachen entsprechend" abgetan wurde. Über eineinhalb Jahre später ist diese De-facto-Impfpflicht Realität und sogar die offizielle "Impfpflicht durch die Vordertür" scheint derzeit nicht mehr ausgeschlossen.
Verschwörungstheorien haben nicht nur die Funktion, Emotionen zu kanalisieren oder Feindbilder zu reproduzieren, wie Eisenberg berechtigterweise schreibt. Sie können auch appellativ gelesen werden: als Hinweisgeber auf Probleme oder drohende Entwicklungen in der Zukunft. Die Angst, die sich in ihnen ausdrückt, ist insofern nicht notwendig regressiv, sie kann auch progressiv sein, wenn Verschwörungstheorien "ernst (…), aber nicht wörtlich"3 genommen werden.
Ohne Verschwörungstheorien gäbe es keine Erkenntnisfortschritte in Kriminalfällen wie dem Attentat auf John F. Kennedy, die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder den NSU-Komplex. Verschwörungstheorien können aber auch Desinformation oder Ideologien transportieren und in diesem Sinne sowohl Ursache wie Ausdruck von Besorgnis oder Ängsten sein. Angst wird unbewusst kommuniziert oder gezielt eingesetzt.
Angst als Schockstrategie
In der Pandemiepolitik und ihrer massenmedialen Verarbeitung waren sowohl Angstkommunikation durch Verschwörungstheorien und vor "Verschwörungstheorien" als auch gezielte Schock-Strategien ein ganz manifester Bestandteil, der sowohl das gesellschaftliche Klima wie ganz offenbar auch politische und medizinische Einstellungen und Entscheidungen (Impfskepsis bzw. Verschwörungsangst versus Impfapologie bzw. Virusangst) vieler Menschen beeinflusste.
Beispiele für solche Angst-Methoden bieten nicht nur Verschwörungstheorien über Bill Gates und Mikrochips. Auch offizielle politische Kommunikation nutzt diese in der Corona-Krise. So etwa das sogenannte "Panik-Papier" des deutschen Innenministeriums vom März 2020, in dem die Urangst vor dem Erstickungstod als wichtiges PR-Instrument empfohlen wurde oder die gezielte Angstmache der Bevölkerung, die im gleichen Zeitraum in der österreichischen Corona-Taskforce besprochen wurde.
Wie perfide Angst in der Pandemie politisch instrumentalisiert wurde, zeigt auch ein Bericht vom Mai 2021 im Telegraph. Darin kommt eine Reihe von wissenschaftlichen Mitgliedern zu Wort, die die britische Regierung im Frühjahr 2020 zu Fragen der Verhaltensbeeinflussung der Bevölkerung beraten hatte. Ein Insider des Beratungsgremiums berichtet rückblickend:
Im März (2020) war die Regierung sehr besorgt über die Folgebereitschaft in der Bevölkerung und sie dachten, die Bevölkerung wollte nicht (im Lockdown) eingesperrt werden. Es gab Diskussionen dazu, dass Angst benötigt werde um Zustimmung zu erzeugen. Und es wurden Entscheidungen darüber getroffen, wie die Angst gesteigert werden könnte. Die Art und Weise, wie wir Angst genutzt haben, ist dystopisch.
Weitere Mitglieder des Beratungsgremiums berichteten nachträglich gegenüber der Publizistin Laura Dodsworth, dass ihre Methoden der Angsterzeugung eine Art mind control und zutiefst "totalitär" gewesen seien. "Der Gebrauch von Angst war definitiv ethisch fragwürdig", heißt es von einer anderen beteiligten Person, die ebenfalls anonym bleibt: "Es war wie ein verrücktes Experiment. Letztlich ist es nach hinten losgegangen, weil die Menschen zu ängstlich wurden."
Paranoide Vernunft
Angst kann aber auch rational sein - nicht nur Virusangst, sondern auch Verschwörungsängste. In dem Sammelband Paranoia Within Reason. A Casebook on Conspiracy as Explanation von 1999 kommt der US-amerikanische Anthropologe George Marcus zu dem Schluss, dass paranoide Einstellungen in speziellen Kontexten Bestandteil der Vernunft bzw. sogar überlebenswichtig sind.
Paranoia wird dabei nicht klinisch-pathologisch verstanden, sondern als eine bestimmte Art von misstrauischer Subjektposition. Man könnte diese Einstellung auch "situational awareness" nennen, also einen Zustand der gesteigerten Wachsamkeit, in dem die Eindrücke der Umwelt aus pragmatischen Gründen genau und kritisch geprüft und möglichst lückenlos beobachtet werden.4
Im Schachspiel ist ein solches paranoides Setting strukturgebend, insofern nur diejenigen "überleben" (gewinnen), die möglichst misstrauisch sind - und das bedeutet hier: Entwicklungen, Pläne, Schachzüge des Gegners antizipieren, um nach Möglichkeit kontern zu können und gleichsam die eigenen Intentionen möglichst verbergen. Nur wer ein solches Verhalten kultiviert, die möglichen Täuschungsmanöver des Gegenübers antizipiert, kann in diesem Spiel bestehen.
In Kontexten, die von Unsicherheit, Krisen oder gar Krieg geprägt sind, meint Marcus, ist die paranoide Vernunft jedenfalls subjektbildend und insofern den Umständen angepasst und angemessen. Als Beispiel nennt er die Kultur des Kalten Krieges, vorwiegend in bestimmten Sicherheitsbereichen oder in Staaten, die durch imperiale Praktiken wie Interventionen oder Regime Changes geprägt waren. Die Post-9/11-Jahre haben diese Politik im War on Terror globalisiert. Die in dieser Zeit in bestimmten Bereichen sozialisierten Personen bildeten ein entsprechendes mindset aus5, das sie in Kontexten der Sicherheit überlebensfähig machte.
Während die Angst im Schach sich auf den Spielrahmen begrenzt, erfasst sie in Situationen existenzieller Unsicherheit die gesamte Persönlichkeit und prägt ihr Verhalten. Was in der erwähnten Forschung über Verschwörungstheorien oftmals als "Verschwörungsmentalität" konstruiert (und delegitimiert) wird, ist allgemeiner gesprochen eine paranoide Subjektposition6, die sich aus bestimmten Erfahrungen und Wissenshorizonten formt oder, um mit Michel Foucault zu sprechen, durch sie diszipliniert wird. Auch hierbei wird die Welt, in "gut" und "böse" bzw. Freund und Feind eingeteilt, wie Eisenberg zu Recht konstatiert - aber primär deshalb, weil diese "situational awareness" als zielführend bis überlebensnotwendig wahrgenommen wird.