"Verschwörungstheorien waren lange Zeit eine legitime Form des Wissens"

Seite 3: Als Verschwörungstheorien von orthodoxem zu heterodoxem Wissen wurden, wanderten sie an den Rand der Gesellschaft

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Reden wir über den Begriff der Verschwörungstheorie. Woher kommt er?

Michael Butter: Der Begriff Verschwörungstheorie kommt Ende des 19. Jahrhunderts auf als "conspiracy theory". Damals fand sich dieser Begriff in Zeitungsberichten, und da wird angeführt, dass die Polizei eine Selbstmord- und eine Verschwörungstheorie hat. Allerdings wurde der Begriff damals nicht so verstanden, wie wir ihn heute verstehen, was sicherlich etwas mit dem "Wissensstatus" zu tun hat. Verschwörungstheorien waren nämlich lange Zeit, bis in das 20. Jahrhundert hinein, eine legitime Form des Wissens. Die Leute haben sich damals wegen vermeintlichen Verschwörungen gesorgt und nicht wegen Verschwörungstheorien.

Und zeitlich noch früher angesetzt, also zu einer Zeit, zu der Begriff als solches noch gar nicht existiert hat, war es normal, Verschwörungstheoretiker zu sein. Verschwörungstheorien sahen damals auch noch anders aus. Sie wurden von Eliten formuliert und haben sich gegen marginalisierten Gruppen oder Leute von außen gerichtet.

Aber der Begriff hat auch eine moderne Bedeutung erfahren.

Michael Butter: In seiner modernen Form und seiner modernen Bedeutung wird der Begriff Verschwörungstheorie vermutlich von Karl Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde) geprägt, wo er nämlich von der Verschwörungstheorie der Gesellschaft schreibt. Und das ist genau der Moment, Mitte des 20. Jahrhunderts, wo in den USA die Delegitimation dieser Wissensform beginnt und diese immer weiter an den Rand rutscht. Von daher transportiert der Begriff der Verschwörungstheorie eigentlich von Anfang an diese delegitimierende Komponente.

Anders gesagt: In dem Moment, wo Verschwörungstheorien diesen Wissensstatus verlieren, wo sie von orthodoxem zu heterodoxem Wissen werden, passiert Folgendes: Verschwörungstheorien werden delegitimiert, sie wandern an den Rand der Gesellschaft und werden dann aber auch zu einem Mittel, das marginalisierte Gruppen nutzen oder Leute, die sich marginalisiert fühlen, um ihren eigenen Status und ihre eigenen Problem zu erklären.

Bei der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien muss doch auch beachtet werden, dass es reale Verschwörungen gibt, oder?

Michael Butter: Verschwörungen hat es immer gegeben und Verschwörungen wird es auch weiterhin geben. Das Interessante ist doch, wenn wir uns mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen, dass wir es dann meistens mit Gedanken und Visionen zu tun haben, wo man sehr, sehr schnell zeigen kann, dass da wenig dran ist. Von daher mögen reale Verschwörungen den Glauben an Verschwörungstheorien anheizen, aber es ist wirklich selten der Fall, dass etwas, was zunächst als Verschwörungstheorie zirkuliert, sich als wahr herausstellt.

Zunächst sollte man erkennen, dass Verschwörungstheorien zumindest einen realen Kern haben können.

Michael Butter: Was meinen Sie mit realem Kern?

Dass sie nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, sprich: reale Elemente beinhalten. Nehmen Sie als Beispiel die Bilderberg-Konferenzen.

Michael Butter: Sicher, die Bilderberg-Gruppe existiert, aber an den Verschwörungstheorien ist nichts dran. Der reale Kern wäre dann, dass die Verschwörungstheorie auf die Existenz der Gruppe aufmerksam macht, ja? Das finde ich problematisch, weil man dann ja sagen könnte, dass anti-semitische Verschwörungstheorien einen wahren Kern haben, weil es Juden gibt. Aber zurück zu Ihrem Beispiel: Ich glaube, wer sich seriös mit den Bilderbergern beschäftigt hat, wie die Treffen funktionieren usw., wie das zum Beispiel mein Kollege Thomas Gijswijt hier in Tübingen getan hat, der kann Ihnen sagen, dass diese Verschwörungstheorien keine Substanz haben.

An den Verschwörungstheorien zu Bilderberg, also im Sinne einer geheimen Weltregierung, ist sicher nichts dran. Aber das ist nicht der Punkt. Interessant ist doch, dass die Verschwörungstheorie, wonach die Bilderberger eine Art "Geheime Weltregierung" darstellen, auf ein grundsätzliches Problem verweist. Wenn wir die Verschwörungstheorie nicht einfach im Sinne ihrer Illegitimität auf die Seite wischen, weil sie uns auf den ersten Blick als völlig unrealistisch vorkommt, besteht die Möglichkeit, dass wir uns mit dem "Wissen", das in dieser Theorie zu finden ist, auseinandersetzen können, nämlich: Die Bilderberg-Gruppe ist real, so wie es viele andere real existierende politisch ausgerichtete Zirkel von Eliten und Machteliten gibt.

Und wenn wir das wahrnehmen, besteht die Möglichkeit zu einer für unsere Demokratie nicht ganz unwichtigen Erkenntnis zu kommen: Die Bilderberg-Treffen verweisen darauf, dass es zu einem vorgelagerten politischen Formierungsprozess von Machteliten kommt. Es geht um ein Agenda-Setting, es geht darum, Konsense zu schmieden. Sie verweisen darauf, dass Eliten in unserer Gesellschaft sich "ausdifferenzieren" hin zu privaten Zirkel der Macht, wo unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die großen gesellschaftlichen und politischen Themen unserer Zeit gesprochen wird. Aus demokratietheoretischer Sicht, darf man da seine Bedenken anmelden. Um es abzukürzen: Bis vor gar nicht allzu langer Zeit wurde teilweise die Existenz von Bilderberg noch mit dem Begriff Verschwörungstheorie abgetan.

Michael Butter: Dass die Existenz der Gruppe als Verschwörungstheorie abgetan wurde, kann ich mir kaum vorstellen. Die Verschwörungstheorien zu Bilderberg sind im Übrigen schon länger bekannt, in der amerikanischen Kultur zirkulieren sie schon seit Jahrzehnten.

Zu einem aktuellen Fall. Vor kurzem war Alice Schwarzer bei Markus Lanz zu Gast. Im Hinblick auf die Übergriffe von Köln und in anderen Orten an Silvester äußerte sie den Verdacht, es könnten Provokateure eingesetzt worden sein und sprach von einer möglichen Steuerung der Ereignisse. Der Philosoph Richard David Precht warf daraufhin den Begriff "Verschwörungstheorie" in die Runde.

Michael Butter: Das, was Schwarzer gesagt hat, kommt einer traditionellen Verschwörungstheorie schon sehr nah. Sie hat nicht nur gesagt, dass die Übergriffe in Köln organisiert gewesen waren, sondern auch behauptet, dass das in anderen europäischen Ländern zeitgleich organisiert wurde, und sie hat dann auch noch einen Schuldigen identifiziert, nämlich den Islamischen Staat, der angeblich dahinter steckt, um eine Langzeitstrategie zu verwirklichen.

Wie Precht den Begriff Verschwörungstheorie angeführt hat, zeigt, dass hier ein Kampfbegriff ins Feld geführt wird. Von Herrn Precht war es ein Versuch, den Argumentationsstrang von Schwarzer abzuschneiden. Allerdings habe ich Fälle erlebt, wo die Anführung des Begriffs Verschwörungstheorie deutlich unangebrachter gewesen ist als in diesem Fall. Hier kann man ihn durchaus verwenden.

Zum Abschluss noch: Wann rechnen Sie denn mit ersten Ergebnissen zu Ihrem Projekt?

Michael Butter: In den ersten zwei Jahren werden die Forscher ihre Erkenntnisse zusammentragen und dann dürften auch schon erste Ergebnisse zu erwarten sein. Wichtig wird in der Phase danach, dass man aus dem zusammengetragenen Wissen erkennt, welche Fragen überhaupt zu stellen sind. Das heißt: Was wissen wir überhaupt im Hinblick auf Verschwörungstheorien? Was sind sie? Wie funktionieren sie? Wo kommen sie her? Wie sollte man damit umgehen? Was wissen wir noch nicht?

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