Vertane Chancen: Raus aus dem europäischen Haus, rein in den Ukraine-Krieg

Seite 2: Putins Quadratur des Kreises

Es war die Verbindung von Geheimdienstmacht im Kreml und die in der Regel gewaltsame Bereicherung russischer Ressourcen durch Geheimdienst und Oligarchen auf der Basis der in Petersburg in der Zusammenarbeit mit der organisierten Kriminalität erfahrenen Machtmethodik.

Putin hatte den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Demütigung durch den Sieg der Vereinigten Staaten und des Westens als Katastrophe gesehen und seine Politik in den Dienst der Aufgabe gestellt, die Anerkennung Russlands als ernst zu nehmende Großmacht wiederherzustellen. Dabei war ihm die respektvolle Anerkennung der anderen Großmacht, der Vereinigten Staaten offenkundig zentral.

Als machterprobter KGB-ler hatte Wladimir Putin mit einer von Anfang an brutalen Politik, die er in einem der Tschetschenien-Kriege zeigte, die Macht an sich gerissen und Russland mit seinen Ressourcen autoritär und autokratisch zu verteidigen gesucht.

Es ist wichtig an diese, brutale und autokratische Politik Putins seit 2000 zu erinnern, die man allerdings in der internationalen Politik gerade auch sicherheitspolitisch, aber auch ökonomisch und politisch hätte einhegen müssen, zumal es anfänglich hierzu Angebote der russischen Führung unter Putin gegeben hatte.

"Die einzige Weltmacht"

Antje Vollmer beschreibt in "Mein politisches Vorbild", wie Egon Bahr die Lage von Wladimir Putin am Ende der Neunziger Jahre angesichts eines drohenden Staatsverfalls Russlands – von kalten Kriegern wie Brzezinski - herbeigesehnt – sah:

Bahr war der Erste, der das höchst komplizierte oligarchische System, das im Russland der Jelzin-Ära krakenartig entstanden war, so zu erklären verstand, dass ich begriff, was für eine Herkulesaufgabe vor einem Wladimir Putin lag, als er einen völligen Staatszerfall Russlands Ende der Neunzigerjahre verhindern wollte. In dieser Auseinandersetzung gab es keine Chance auf Sieg, nur auf Begrenzung – so Egons Meinung (Vollmer 2022:88).

Die Strategie einer Dominanz und der damit verbundenen westlichen Arroganz war es, Russland - als "Mittelmacht" (Obama) - unter Kontrolle zu halten und hierzu ohne Federlesens die Nato bis an die Grenze Russlands auszudehnen, wie dies der Gotteskrieger Bush junior in Bukarest 2008 gegen den halbherzigen Widerstand Angela Merkels und des französischen Präsidenten durchzusetzen versucht hatte.

Vor allem dadurch, der Ukraine eine Perspektive auf Nato-Mitgliedschaft zu eröffnen, wenn auch nicht schon damals. Es war in dieser Zeit, vielleicht einige Jahre später, als für die russische Führung ein ohnehin bestehendes Misstrauen zu einer Umkehr, nämlich zu einer immer aggressiveren Sicherung der Einflusssphäre führte, die schließlich zwischen dem Westen und dem Osten immer weiter, nicht zuletzt durch die Aufrüstung der Ukraine eskalierte wurde und mit der Annexion der Krim nach den Maidan-Unruhen begann - in immer offeneren Formen ein neuer (kalter) Krieg um die Ukraine.

Ohne dass der Westen trotz Minsk I und II sowie den Steinmeier-Formeln noch eine Strategie der Entspannung erfolgreich in der nötigen scharfen Auseinandersetzung mit Putin getestet hätte: Das von Putin nachhaltig formulierte Interesse an einer breiten sicherheitspolitischen Kooperation ist vom Westen nicht wirksam getestet worden. Die Logik der Dominanz aber tendiert zu Freund-Feind-Dynamiken und letztlich zu kriegerischen Spannungen wie gegenwärtig und zukünftig um China.

Nato-Osterweiterung: "Täuschung" durch den Westen

In der Euphorie des Sieges im Kalten Krieg haben sowohl die Vereinigten Staaten wie Deutschland dem gegenüber der deutschen Einigung offenen Gorbatschow die Nichtausdehnung der Nato nach Osteuropa versprochen. Jüngst hatte dies noch einmal Andreas Zumach in der taz in allen Details belegt. Sowohl James Baker wie Hans-Dietrich Genscher hatten dies auf allen Ebenen gegenüber Michail Gorbatschow und seinem Außenminister Eduard Schewardnadse beglaubigt.

Andreas Zumach schrieb am 19. Januar 2022: "Am 6. Dezember 2021, dem Tag vor der Videokonferenz zwischen den Präsidenten Russlands und der USA, Wladimir Putin und Joe Biden, hatte ich in einem Kommentar in der taz unter der Überschrift 'Beide Seiten müssen deeskalieren' geschrieben:

'Entgegen dem im Westen weitverbreiteten Narrativ begann die Verschlechterung der Beziehungen nicht erst mit Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim im März 2014, sondern bereits mit der Nato-Osterweiterung, die ab 1996 vollzogen wurde.

Es wurde das Versprechen gebrochen, das US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow Anfang Februar 1990 nachweislich gegeben hatten. Die Osterweiterung war ein schwerer, historischer Fehler der Nato.'"

Schon 2009 hatte der Spiegel (in Der Spiegel 48/2009) belegt, dass die Nato-Osterweiterung gegen Zusagen, die 1990 in den Verhandlungen zur deutschen Ein- heit gegeben worden seien, verstößt. Danach stützen Dokumente aus westlichen Archiven den russischen Verdacht.

Noch 30 Jahre später hat der 90-jährige Gorbatschow genau dies als Täuschung seitens des US-amerikanischen Präsidenten und seines Außenministers bitter beklagt und als Machtarroganz des Westens verurteilt. Die Mächtigen im Westen Deutschlands und im Westen scherten sich nicht um einen fairen Ausgleich, erst recht nicht um ein faires Miteinander und schon gar nicht um eine friedliche Sicherheitskooperation zwischen dem Westen und dem neuen Osten.

1990 und die Folgen

Es hätte nach Ende des Kalten Kriegs nahegelegen, ein neues Sicherheitssystem jenseits von Nato und Warschauer Pakt zu verabreden. Immerhin war die Nato eine Reaktion auf die sowjetische Bedrohung. Sowohl Michael Gorbatschow wie Boris Jelzin sahen sich prowestlich eingestellt.

Es wäre eine ungeheure Chance einer ökonomischen wie politischen Neuordnung nach der Phase von Weltkrieg und Kaltem Krieg gewesen. Dies ist nicht geschehen: Weder Deutschland damals unter Kohl noch die Vereinigten Staaten waren daran interessiert. Es entsprach nicht deren Dominanzwünschen.

Parallel zum Auseinanderfallen der Sowjetunion ist auch Jugoslawien in Kriegen zerfallen. Auch hier hat sich der Westen nicht gerade positiv hervorgetan. Während die Franzosen und die Briten traditionell auf der Seite der serbischen Führung waren, hatte der deutsche Außenminister vergeblich versucht, durch eine schnelle Anerkennung Kroatiens den Krieg noch zu verhindern bzw. zu begrenzen, er erreichte das Gegenteil.

Trotz des Blauhelm-Mandats ließen die jeweils verantwortlichen Befehlshaber zu, dass es zu schweren genozidartigen Aggressionen extremer Serben und extremer Kroaten kam. Erst nach furchtbaren Blutbädern von dreieinhalb Jahren nach Beginn der Angriffe kam es 1994 unter dem Einfluss des damaligen US-Außenministers Christopher Warren zu ersten Versuchen, den Krieg einzudämmen.

Es lag dann an den Kommandostrukturen des UN-Einsatzes, u. a. der französischen Zuständigen, dass man nicht einmal das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 hat verhindern können. Erst danach, nach Angriffen auf Serbien, kam es 1995 zum Dayton Vertrag. (Vergleiche Funke/Rhotert: Unter unseren Augen. Berlin 1999)

Erste Erweiterungsrunde

Die Haltung der Vereinigten Staaten zeigte sich nicht nur darin, dass sie das gegebene Versprechen des damaligen US-Außenministers Baker und des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP), die Osterweiterung nicht über den Rahmen der des vereinigten Deutschlands hinaus zuzulassen, alsbald gebrochen und sich schon unter Bill Clinton 1994 zur ersten Erweiterungsrunde der Nato in Richtung Osteuropa entschieden haben.

Es war die Zeit, in der sehr ernsthaft von Konzeptionen gegenseitiger Sicherheit die Rede war. Schon damals war zu sehen und zu spüren, dass die leitende Nato-Macht, die Vereinigten Staaten, an Russland lediglich als Verlierermasse interessiert war. Mit einer Mischung von Druck und Entspannungspolitik hatte man im Kalten Krieg gesiegt und die Lehre vergessen, dass es zu Formen der Balance und der Friedenspolitik nach dem Ende auch eines kalten Kriegs hätte kommen müssen.

Dem waren Jahrzehnte höchster Spannungen - und von Entspannungsversuchen vorausgegangen. Die drohende Kriegsgefahr in der Kubakrise hatte bei beiden leitenden Persönlichkeiten - bei Chruschtschow einerseits und John F. Kennedy andererseits – zu einer ernsthaften Entspannungspolitik beigetragen.

Es kam zu einer erneuten drohenden atomaren Eskalation, mit einem Höhepunkt im Herbst 1983, ehe zwischen Ronald Reagan einerseits und dem für den Westen überraschend kooperativen Gorbatschow Rüstungskontrollabkommen vereinbart wurden. Wiederum zehn Jahre später – nach dem Sieg über den langjährigen Feind - war das Interesse an einer weiteren Entspannungspolitik offenkundig nicht mehr von Bedeutung.

Es war vor allem Helmut Kohl, der als Bundeskanzler die Osterweiterung der Nato mitbetrieb – zusammen mit Bill Clinton und anderen. 1997 George Kennan: Die Nato-Osterweiterung - der folgenschwerste Fehler Auf der Tagung der Nato am 8. und 9. Juli 1997 wurden Polen, Tschechien und Ungarn Beitrittsverhandlungen angeboten, die bis 1999 erfolgreich abgeschlossen worden sind.

Beim nächsten Nato Gipfel 1999 wurden gleich sieben Ländern, unter anderem Bulgarien, Lettland und Litauen Beitrittsverhandlungen angeboten, die bis 2004 erfolgreich abgeschlossen worden sind.

Mit der 1997 ins Auge genommenen Nato-Osterweiterung geschah der Bruch eines Gorbatschow gegebenen Versprechens. Der einflussreiche Historiker George Kennan erklärte damals:

Die Nato-Erweiterung wäre der folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges. Es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizt, einen neuen Kalten Krieg in den Ost-West Beziehungen auslöst und die russische Politik in eine Richtung drängt, die überhaupt nicht unseren Wünschen entspricht.


George Kennan: "A fateful error", The New York Times, 5. Februar 1997

Das Land Boris Jelzins, ohnehin Verlierer des Kalten Kriegs, hatte dafür zu zahlen. "The winner takes it all."

Prof. Dr. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler, Rechtsextremismus-Forscher und Autor mehrerer Bücher, darunter "Staatsaffäre NSU" sowie "AfD - Pegida - Gewaltnetze. Von Wutbürgern zu Brandstiftern und "Die Höcke-AfD".

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar sprach er sich zunächst für die militärische Unterstützung des angegriffenen Landes aus, knapp ein Jahr später unterzeichnete er das Manifest für Frieden.

Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel seiner Flugschrift "Ukraine. Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden" (Die Buchmacherei Berlin, 110 Seiten / ISBN 978-3-9825440-1-4)