Verunkomplizierung und Dialog

Remote Truck, ca. 1950 - Als Shannon an einer Fernsteuerung für radargestützte Raketen arbeitete, rüstete er in seiner Heimwerkstatt kurzerhand einen roten Spielzeuglaster zum ersten ferngesteuerten Fahrzeug um. Bild: (c) Jan Braun / Heinz Nixdorf MuseumsForum Paderborn

Unter dem Motto "Kennen Sie Shannon?" steht eine Ausstellung des Heinz-Nixdorf-Museumsforum, die seit kurzem im Berliner Museum für Kommunikation gastiert

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"Es ist unglaublich: Kein Mensch kennt Shannon!", so Jochen Viehoff, der Kurator der deutschen Ausstellung, die sich dem Mathematiker und Informationstheoretiker Claude E. Shannon widmet. Damit sich dies ändere, aber auch damit die Arbeiten Shannons jenseits von akademischer Technikgeschichte und Mathematik anwendbar werden, hat er Shannons Spielzeuge aus den USA nach Deutschland geholt.

Eröffnungsveranstaltung im Museum für Kommunikation (Berlin) - Bild: Stefan Höltgen

Bei diesen Spielzeugen handelt es sich um technische Apparate, die auf den ersten Blick nur wenig mit Shannons wissenschaftlicher Arbeit zu tun haben: Jonglier-Maschinen, Geräte zum Lösen des Zauberwürfels, eine mechanische Maus, die selbstständig aus einem Labyrinth findet und sich den Weg auch noch merkt, eine Maschine, die Gedanken liest, einen (den ersten!) tragbaren Analog-Computer, der vorhersagt, wo eine Roulette-Kugel zum liegen kommt und ähnliches. Gerahmt wird die Ausstellung von Videos und Spielzeugen zum Anfassen und Selber-spielen sowie einigen ungewöhnlichen Artefakten aus dem Leben des "Einsteins der Informationstheorie": Sein Einrad, mit dem er jonglierend die Flure des MIT entlang gefahren sein soll, oder seinem den damaligen Jongliermeistern gewidmetes Jonglier-Diorama.

Geheime Geschichten

Entdeckt wurden die Ausstellungsobjekte von Viehoff zufällig bei einem Besuch des MIT-Museums - dort standen sie versammelt in einem Schaufenster. Dass die jetzt ausgestellten Artefakte nur die Spitze des Eisbergs darstellen und sich etliche Automaten und Spiele Shannons noch im Besitz von dessen Familie oder weltweit verstreut in verschiedenen Museen finden, davon erfuhr man kürzlich in der zweiten Auflage des Buches "Claude E. Shannon: Spielzeug, Leben und die geheime Geschichte seiner Theorie der Information" von Axel Roch, das pünktlich zum Ausstellungsbeginn in einer zweiten, erweiterten Auflage erschienen war.

Junge löst Zauberwürfel auf der Eröffnungsveranstaltung - Bild: Stefan Höltgen

Ob Shannon wirklich gänzlich unbekannt geblieben ist, daran hat zumindest die Eröffnungsfeier im Berliner Museum für Kommunikation Zweifel aufkommen lassen: etwa 250 interessierte Besucher waren erschienen und haben - getreu dem Motto der Ausstellung - ein buntes Programm präsentiert bekommen: Neben Vorträgen zum Leben und Wirken Shannons und über seine Spielzeuge, gab eine bunt gekleidete Jonglier-Meisterin eine Vorstellung ihres Könnens und ein Junge löste in Windeseile und sogar mit verbundenen Augen Zauberwürfel. Man könnte denken: Für einen Mathematiker, der die informationstheoretischen Grundlagen der modernen Computertechnologie entwickelt hat, ist das ein vielleicht etwas zu buntes Treiben gewesen. Bei genauerer Betrachtung dessen, was seine Apparate repräsentieren, zeigt sich jedoch, dass jeder andere Zugang zu seinen Spielzeugen unangebracht wäre.

Jongleurin auf der Eröffnungsveranstaltung - Bild: Stefan Höltgen

Shannon und die Medien

Denn ein vor kurzem stattgefundenes Symposium mit dem Thema "Claude Shannon und die Medien" thematisierte vor allem, dass auch die Popularisierung komplexer und komplizierter informationstheoretischer Phänomene ein wichtiges Anliegen Shannons gewesen sein könnte, bei dem seine Spielmaschinen regelrecht als Katalysator gedient haben könnten - und immer noch dienen. Es ist bei weitem nicht nur die breite Öffentlichkeit, der dieser Zugang ermöglicht werden soll, sondern auch fachfremde akademische Diskurse, die sich bislang mit der Oberfläche und der Praxis der Medien auseinandersetzen, müssen ihre eigenen Theorien mit denen aus Shannons Metier kompatibel und kommunikabel machen, um sich nicht im Solipsismus zu verlieren.

Symposium "Claude Shannon und die Medien" (v.l.n.r.): Jochen Viehoff, Axel Roch, Peter Berz, Wolfgang Ernst, Annette Bitsch - Bild: Stefan Höltgen

Demzufolge konzentrierte sich das Symposium auf die Spielzeuge als Medien, die Frage, auf welche Weise hinter ihrer Anwendung und ihrem Aufbau die theoretischen Leistungen Shannons zum Vorschein kommen und welche Impulse davon auf aktuelle medienwissenschaftliche Debatten ausgehen könnten. Dazu müsste von vielen der Apparate zunächst einmal der Aufbau geklärt sein, was schon keine triviale Aufgabe ist. Denn auseinander nehmen kann man die seltenen Unikate natürlich nicht. Und so stellte der Jenaer Mathematiker Thomas Fischer eine "nicht-invasive" Möglichkeit vor, Verbindungsspiele wie Shannons "Switching Game" und Hex-Game theoretisch zu beschreiben, um daraus dann auch Schlüsse über deren elektronischen Aufbau zu ziehen. In dieser Beschäftigung werden en passant spieltheoretische Überlegungen anwendbar und Fragen zur Lösbarkeit und Unlösbarkeit bzw. Formalisierbarkeit bestimmter Spiele angesprochen.

Von Mäusen und Menschen

Eines der bekanntesten Spielzeuge Shannons stellt die Maus "Theseus" dar, die - wie ihr sagenhafter Namensvetter - aus einem Labyrinth herauszufinden versucht. Sie benutzt dafür jedoch keinen Ariadnefaden, sondern eine unsichtbare Kraft: Unter dem Spielfeld läuft ein Elektromagnet entlang, dessen Bewegungen von Telefontransistoren gesteuert werden, die sich - je nach Erfolg oder Misserfolg einer Route - umschalten. In diesem Spielzeug ließe sich Bernard Geoghegan zufolge schon ein wesentlicher Sinn der Shannon'schen Spielautomaten finden: Sie verdoppeln die ihnen zugrunde liegenden theoretischen Prämissen (hier etwa: Relais als Speicher) spielerisch auf ihrer Oberfläche. Und selbst "Jokes über Kybernetik", wie die Ultimative Maschine, regen zur Diskussion um (programmierbares?) maschinelles Bewusstsein an: Schaltet der Mensch die Maschine ein oder leitet er durch Umlegen des Schalters ihren Ausschaltprozess ein? Wie kommunizieren Mensch und Maschine spielend miteinander?

Ausstellungsraum im Museum für Kommunikation (Berlin) - Bild: Stefan Höltgen

Der Spieler selbst wird also auch zum Thema des Spiels. Das zeigen ja nicht wenige Maschinen Shannons in aller Deutlichkeit, etwa die "Mind Reading Machine", die vorgibt zu antizipieren, für welche von zwei Möglichkeiten (Kopf/Zahl, Ja/Nein, Ein/Aus, 0/1) sich der menschliche Mitspieler entscheidet. Ihr helfen dabei abermals Relais, die speichern, wie der Spieler bislang gespielt hat, und so vielleicht seine ihm selbst unbewusste Heuristik dekodieren. Damit erhöht die "Mind Reading Machine" ihre 50:50-Chance, den nächsten Zug des Menschen korrekt zu erraten auf eine bis zu 70-prozentige Chance. Solche "denkenden Maschinen" sind nicht zuletzt ein Dauerthema der Kybernetik und Informatik (KI) und haben deren theoretische Überlegungen von Beginn an mitbestimmt.

Zeit und Sein

Claude Shannon selbst hat auch während seines Lebens immer wieder Kontakte zur "Außenwelt der Informationstheorie und Kybernetik" gesucht bzw. angeregt. So finden sich etwa bei den Überlegungen zum Verhältnis von Information und Sprache des Philosophen Martin Heidegger Bezüge, die durch Shannons Informationstheorie inspiriert gewesen sein könnten, wie der Kulturwissenschaftler Peter Berz darlegt. Und selbst der strukturalistische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat in Briefen dezidiert auf Apparate, wie sie Shannon mit der "Mind Reading Machine" konstruiert hat, hingewiesen und sein fachliches Interesse dafür bekundet: "Man kann nicht von einer Maschine sprechen, ohne an ihr herumgespielt zu haben", habe Lacan der Kulturwissenschaftlerin Annette Bitsch zufolge einmal seinen Studenten gegenüber geäußert. Den engen Kontakt zwischen Medienmaterialismus und Technik (wieder) herzustellen, ist auch das Projekt der Berliner Medien- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität verpflichtet, das - zumindest was die Ausführungen Berz' und Bitschs angeht - jedoch auf geteilte Zustimmung stößt.

Link auf /tp/r4/bild/32/32777/32777_10x.html zu den Ausstellungsobjekten. Bilder: (c) Jan Braun / Heinz Nixdorf MuseumsForum Paderborn)

Während nämlich der Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst mit seinen Überlegungen zur Zeitlichkeit von Information und der Zeit selbst als Kanal recht eng an den Theorien (und Automaten) Shannons geblieben ist, um von dort ausgehend eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Geschichtsschreibung und zeitlichem Informationstransfer zu skizzieren, hat vor allem Annette Bitsch die Terminologie Shannons einer (postmodernistisch) dekonstruktiv-produktiven Aneignung unterzogen. Diese Herangehensweise - Konzepte und Begriffe aus den "hard sciences" für philosophische Theorien umzumünzen - wurde von naturwissenschaftlicher Seite bereits Mitte der 1990er-Jahre auf etwas überzogene Weise kritisiert. Aber auch heute noch ernten derartige, eher assoziative Aneignungen von Theorien wie "Entropie" und "Negentropie" durch nicht-technische oder -naturwissenschaftliche Disziplinen wie der Psychoanalyse Kritik, wie der vehemente Widerspruch Horst Völz', seines Zeichens Physiker und Informationswissenschaftler, auf dem Symposium verdeutlicht hat: Medien- und Kulturwissenschaft sollte sich mit der Informationstheorie in einen wechselseitigen, produktiven Dialog begeben und es nicht bei der Übernahme schillernder Technik-Metaphern belassen, so Völz.

Aus Spiel wird Krieg wird Spiel

Der emeritierte Völz lehrt selbst derzeit an der Berliner Humboldt-Universität Medienwissenschaft und verwirklicht dort genau diesen Dialog, der auch das Shannon-Symposium markiert: Eine auf technik-theoretischen Grundlagen praktizierte Medienwissenschaft. Claude Shannon hätte diesen Crossover sicherlich mehr als begrüßt! Indes wird es um den 2001 gestorbenen Shannon wohl noch einige Zeit nicht ruhig werden. Axel Roch, der Autor des oben erwähnten Shannon-Buches, veröffentlicht in wenigen Wochen eine zweite Publikation und verspricht darin den "bislang größten Shannon-per-Page-Anteil": Es handelt sich nämlich um bislang unveröffentlichte Gespräche, Informationen über Spielzeuge, Notizen und sogar Gedichte und Kurzgeschichten Shannons, die - handschriftlich faksimiliert und daneben lesbar übertragen - in die Debatte einfließen sollen.

Symposium "Claude Shannon und die Medien" Horst Völz - Bild: Stefan Höltgen

Auch literarisch hat Shannon nicht bloß ein anderes Betätigungsfeld betreten, sondern seine eigene Arbeit auf populäre Weise zu katalysieren versucht, wie Roch an Beispielen darlegt. In einer geht es darum, dass ein Vater mit seinem Sohn einen höchstmöglichen Turm aus Schachfiguren zu konstruieren versucht. Hinter dieser regelwidrigen Schachspielerei sieht Axel Roch einen ironischen Kommentar auf das Wettrüsten im Kalten Krieg, das 1972 in der Spassky-Fischer-Begegnung sogar auf dem Schachbrett Ausdruck fand. Aus dem Spiel war ein Systemkonflikt geworden. In der Schachgeschichte zeigt sich aber auch eine historische Synopse in Shannons Biografie: Seine eigene Beschäftigung mit Schach (er hatte 1949 den ersten digitalen Schachcomputer konstruiert) und seine Arbeit in der militärischen Kryptographie zur selben Zeit. Insofern scheint sich hinter jedem der Spiele und Geschichten immer auch ein gewisses Maß an Ernst zu verbergen - und nicht zuletzt auch etwas Spott, denkt man an jenes motorisierte Mobile aus Ehrendoktorhüten, das er seiner Tochter Peggy zufolge konstruiert haben soll.

Sie berichtete einiges Privates über ihren spielenden und Spielzeug-erfindenden Vater auf der Eröffnungsfeier der Paderborner Ausstellung. Ihre Rede, biografische und Ausstellungsinformationen sowie einige Filme über Shannons Spielzeuge und Jonglier-Automaten sind vom HNF zu einer DVD zusammengestellt worden. Am 16. Juni wird Axel Roch im Berliner Museum für Kommunikation einen Vortrag über Claude Shannons Spielzeuge als Metaphern für die Grundlagen seiner Theorie der Information halten.

Verunkomplizierung und Dialog (10 Bilder)

Link auf /tp/r4/bild/32/32777/32777_10x.html zu den Ausstellungsobjekten. Bilder: (c) Jan Braun / Heinz Nixdorf MuseumsForum Paderborn)