Vielleicht sind wir alle schon die Insassen eines Gesamt-Irrenhauses
Deutschlands bekanntester Krisentheoretiker, Robert Kurz, über die New Economy, den Fall der Profitmasse, den Finanzblasen-Kapitalismus und das Empire
Robert Kurz, Kapitalismus-Kritiker und Wert-Theoretiker, lebt als freier Publizist in Nürnberg, ist Mitherausgeber der Zeitschrift Krisis und schreibt regelmäßig für konkret. Seine bekanntesten Veröffentlichungen sind Der Kollaps der Modernisierung und das Schwarzbuch des Kapitalismus (Ein Leichnam regiert die Gesellschaft). Telepolis fragte den Fachmann für Krise und Zusammenbruch der Warenwirtschaft über die Lage des Kapitals im Allgemeinen und im Besonderen.
Ecom, LetsBuyIt.com, WorldCom ... wer derzeit Nachrichten liest, bekommt den Eindruck, dass die Tage des Worlddotcommunism gezählt sind (vgl. Streit um Insider-News im Internet). Wenn Sie an das Krankenlager des Kapitalismus treten, welche Diagnose stellen Sie? Wie viele Tage geben Sie ihm noch? Kann man den Leichnam eventuell konservieren oder gar die Mumie zu neuem Leben erwecken?
Robert Kurz: Als radikaler Kritiker der herrschenden Zumutungsgesellschaft trete ich nicht gerade als Arzt an das Krankenlager des Kapitalismus. Die Diagnose eines Exitus letalis bezieht sich darauf, dass in der dritten industriellen Revolution der Selbstwiderspruch dieser Produktionsweise historisch reif geworden ist: Einerseits beruht das System darauf, dass es menschliche Arbeitskraft für den irrationalen Selbstzweck der "Verwertung des Werts" in ständig erweitertem Umfang vernutzt; andererseits macht die von der Konkurrenz getriebene technologische Entwicklung menschliche Arbeitskraft in immer größerem Umfang überflüssig.
Kapitalismus wird realökonomisch zu einer weltgesellschaftlichen Minderheitsveranstaltung
An der Oberfläche des Weltmarkts stellt sich die absolute innere Schranke zunächst in zwei verschiedenen Formen dar. In den kapitalistischen Zentren entsteht ein neuer, mikroelektronisch aufgerüsteter Standard der Produktivität, der mit wachsender struktureller Massenarbeitslosigkeit einhergeht. Kaufkraft und Staatseinnahmen sinken, die Sozialsysteme und Infrastrukturen werden zurückgefahren. Die Binnenmärkte schrumpfen. Mangels Rentabilität finden deshalb immer weniger Realinvestitionen statt. Stattdessen globalisiert sich das Kapital: weniger durch Waren- und Kapitalexport als vielmehr durch eine transnationale Zerstreuung der Betriebswirtschaft (Ausnutzen des globalen Kostengefälles).
Kapitalismus wird realökonomisch zu einer weltgesellschaftlichen Minderheitsveranstaltung. Dieser Prozess geht einher mit einem Abheben der Finanzmärkte, die "fiktives Kapital" durch reine Steigerung der Kurswerte bilden. An die Stelle der Realakkumulation durch die erweiterte betriebswirtschaftliche Vernutzung von Arbeitskraft tritt ein Finanzblasen-Kapitalismus, der Kapitalakkumulation nur noch simuliert.
In der kapitalistischen Peripherie dagegen brechen schon in einem frühen Stadium des Krisenprozesses ganze Volkswirtschaften und Weltregionen zusammen, gerade weil sie die mikroelektronische Aufrüstung mangels Kapitalkraft nicht mitmachen können. Dort steigt die Massenarbeitslosigkeit viel schneller und in katastrophale Größenordnungen an. Denn die Arbeitskraft wird nicht in relativ langsamen Schritten technologisch freigesetzt, sondern in großen Schüben durch allgemeinen Bankrott der auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähigen Produktion. Den Rest reißen sich die transnationalen Konzerne für ihre globale Vernetzung unter den Nagel. In den Zusammenbruchsregionen tritt an die Stelle der Realakkumulation eine Plünderungsökonomie von Warlords, Banden usw. Dabei wird nur noch die reproduktive Substanz ausgeschlachtet bis zur völligen Zerstörung.
Finanzblasen-Kapitalismus und Plünderungsökonomie sind die zwei Seiten derselben Medaille. Dabei findet keine reale Wertschöpfung im volks- und weltwirtschaftlichen Maßstab mehr statt. Der Aufblähung von Finanzwerten liegt keine Produktion zugrunde, eben so wenig natürlich den Plünderungsverhältnissen. Durch die Finanzblasen ist es aber möglich, "fiktives Kapital" in die Realökonomie zu recyceln, das heißt Investitionen und Konsum werden mit Luftbuchungen bezahlt (mit Geld, das nicht am Warenmarkt verdient, sondern aus dem Nichts des spekulativen Prozesses gezogen wurde). Das war das Paradigma der 80er und vor allem der 90er Jahre. Deshalb schien es möglich, die strukturelle Massenarbeitslosigkeit im Westen statistisch herunterzumanipulieren, während die östlich-südliche Plünderungsökonomie an einen scheinbar noch funktionsfähigen Weltmarkt andocken konnte. Aber die Blasen können nicht beliebig aufgebläht werden, wenn kein selbsttragender Schub der Realakkumulation nachfolgt.
Inzwischen ist die Grenze erreicht, die Finanzblasen sind geschrumpft oder bereits geplatzt (Neuer Markt). Mit einer Zeitverzögerung von 6 Monaten bis 3 Jahren (je nach Produktionszyklus) schlägt das auf die Realökonomie zurück. In diesem Prozess befinden wir uns momentan. Mit dem Verschwinden der Blasen erweist sich ein Großteil der bis jetzt von Blasenkapital gespeisten Produktionsanlagen als Überkapazitäten. Die letale Logik läuft auf serielle Bankrotte und "Stillegung" ganzer Sektoren auch im Westen hinaus, bis zum allgemeinen Herzstillstand der planetarischen Reproduktion des Kapitals. Natürlich bricht eine ganze historische Formation, eine Produktionsweise, nicht in Stunden und Tagen zusammen. Es wird ein qualvoller Prozess über einige Jahrzehnte werden. Trotzdem stirbt der Kapitalismus aufgrund seiner immanenten Kollaps-Dynamik in historischen Dimensionen gemessen viel schneller als etwa das Pharaonenreich oder das römische Imperium.
Was übrig bleibt, ist keine Mumie, sondern das Gespenst des Kapitalismus in den Menschen: die Subjektform der universellen Konkurrenz. Die absolute Schranke des Kapitalismus ist objektiv, aber damit entsteht nicht von selbst eine andere Produktionsweise jenseits von Markt und Staat, jenseits von Geld und Bürokratie der "Souveränität". Wenn keine transnationale soziale Bewegung kommt, die bewusst das moderne warenproduzierende System überwindet, werden wir alle zu Zombies des toten Kapitalverhältnisses, das heißt zu verrückten Subjekten einer entgrenzten Gewaltkonkurrenz, wie sie jetzt schon mit den Amokläufern und Selbstmordattentätern, den Ethno- und Gotteskriegern in Erscheinung tritt.
Das "Wegrationalisieren" von Arbeitskraft läuft schneller, als sich die Märkte erweitern können
1991 erschien Ihr Buch Kollaps der Modernisierung. Später entstanden netzwerkökonomische Theorien, die in der Abschöpfung einer Vielzahl von Mikroprofiten über die elektronische Durchdringung von bis dahin nicht vom Warenkreislauf erfassten alltäglichen Vorgängen einen Fluchtweg aus dem drohenden Kollaps durch den tendenziellen Fall der Profitrate sahen. Was meinen Sie: Bleibt dem Kapitalismus doch noch ein Schlupflöchlein?
Robert Kurz: Das Problem ist nicht der tendenzielle (relative) Fall der Profitrate, sondern der absolute Fall der gesamtgesellschaftlichen Profitmasse. Fall der Profitrate heißt, dass pro investierter Kapitalsumme der "tote" Kostenanteil im Form des steigenden Einsatzes von Sachkapital (im Verhältnis zu der allein zusätzlichen Wert schöpfenden lebendigen Arbeitskraft) immer größer wird, der erzielbare Profit pro Kapitalsumme daher immer kleiner. Oder anders ausgedrückt: Die Kosten pro wertschöpfenden Arbeitsplatz steigen ständig an.
Dieser Fall der Profitrate kann jedoch kompensiert werden durch Erhöhung der eingesetzten Kapitalsumme, also durch Erweiterungsinvestitionen - falls diese rentabel sind. Das geht nur, wenn sich die Märkte qua Produktivkraftentwicklung und damit Verbilligung der Produkte schneller und weiter ausdehnen, als der Einsatz von Sachkapital pro Arbeitsplatz, pro Produkt und pro Kapitalsumme ansteigt. In diesem Fall wird zwar relativ weniger Arbeitskraft pro Kapitalsumme und pro Produkt eingesetzt, aber durch die überproportionale Ausdehnung der Produktion insgesamt wird unter dem Strich absolut mehr Arbeitskraft benötigt und damit absolut mehr Wert (und damit auch Profit) erzeugt. Das Paradebeispiel war die Entwicklung der Automobilindustrie und der anderen fordistischen Industrien.
In der dritten industriellen Revolution erlischt jedoch dieser Kompensationsmechanismus. Zwar verbilligen sich die neuen Produkte wie gehabt und die Märkte dafür erweitern sich entsprechend (die Rechnerkapazitäten der 70er Jahre kann man heute vom Taschengeld kaufen). Aber das "Wegrationalisieren" von Arbeitskraft läuft schneller und dehnt sich weiter aus, als sich die Märkte erweitern können. Das Verhältnis der beiden Faktoren hat sich umgekehrt. Eben deshalb werden Erweiterungsinvestitionen unrentabel. Als Konsequenz fällt die Profitmasse absolut. Das wird eine Zeitlang durch die Bildung von Finanzblasen verschleiert. Aber sobald diese Blasen verschwinden, zeigt sich der realökonomische Sachverhalt auch empirisch: Die betriebswirtschaftlichen Gewinne stürzen ab; quer durch alle Branchen müssen Überkapazitäten stillgelegt werden; es gibt eine Inflation von Bankrotten.
Genau darin besteht die manifeste kapitalistische Krise, die über bloße Konjunkturwellen hinausgeht. Das gab es schon früher, allerdings nur als zeitweilige Übergangserscheinung, als "Lücke" eines Strukturbruchs, als krisenhaftes Intermundium zwischen zwei industriellen Revolutionen, als Timelag zwischen einer auslaufenden und einer neu anlaufenden "langen Welle" der Kapitalakkumulation. Die dritte industrielle Revolution trägt jedoch keine neue "lange Welle" mehr. Nur scheinbar, vermittelt durch die Finanzblasen war an die Stelle der fordistischen Industrien ein neues Trägerkonzept der Akkumulation qua Internet- und Telekom-Industrien getreten. Deren gesellschaftlicher Beschäftigungs- und damit Wertschöpfungs-Effekt ist jedoch minimal. Die Inhalte der fordistischen Industrien wie der dazugehörigen Dienstleistungen waren trotz Rationalisierung immer noch arbeitsintensiv, die Umsetzung der Blaupausen erforderte Millionen von zusätzlichen "Händen" menschlicher Arbeitskraft. Die Inhalte der dritten industriellen Revolution bedürfen dieser "Hände" nicht mehr (Reproduktion per Mausklick). An die Stelle der realen Wertschöpfung mussten deshalb jene spekulativen Finanzblasen treten, die nur platzen konnten. So wurde die emphatisch ausgerufene "Gründerzeit" der New Economy zum größten Flop der Wirtschaftsgeschichte.
Wenn sich trotzdem hartnäckig der Glaube hält, irgendwo in den elektronischen Strukturen könne eine Potenz von Wertschöpfung und Profitabschöpfung verborgen sein, so ist dies dem fetischistischen Bewusstsein der kapitalistischen Warenproduktion geschuldet. "Wert" ist jedoch keine dingliche Eigenschaft, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis von Menschen. Maschinenaggregate, Robot-Systeme, Netzwerkstrukturen usw. sind keine sozialen Subjekte, gehen keine gesellschaftlichen Verhältnisse ein und produzieren daher auch keinen "Wert", so wenig wie sie Autos, Handys oder Ferienreisen kaufen. Kapitalismus ist nun mal ein primitives gesellschaftliches Verhältnis, das auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft beruht. Eine Vergesellschaftung über elektronische Netzwerke ist kapitalistisch nicht mehr darstellbar.
Kapitalistische Subjektivität und universelle planetarische Kommunikation schließen sich gegenseitig aus. Die "elektronische Durchdringung von bis dahin nicht vom Warenkreislauf erfassten alltäglichen Vorgängen" schafft keinerlei neuen Akkumulationsspielraum. Nicht in der Warenzirkulation entsteht Wert bzw. Profit, sondern allein in der Warenproduktion. Soweit zirkulative Vorgänge abgeschöpft oder besteuert werden, kann es sich nur um einen Abzug von der in der Produktion geschaffenen Wertmasse handeln. Wenn jedoch die gesellschaftliche Produktion von Wert sinkt, kann nicht die Zirkulation von Wert erweitert abgeschöpft werden.
Die postmodernen Modetheorien passen wunderbar zur kurzen Ära des Finanzblasen-Kapitalismus und seiner "Anything-goes"-Ideologie
In den vergangenen Krisen des Kapitalismus konnte dieser sich über den Rückgriff auf autoritäre Staatsmodelle gesundstoßen. Seit Mitte der 1990er gibt es ein neues Phänomen der Krisenbewältigung: Wirtschaftliche Macht wird in Privilegien wie Patente oder Copyrights umgewandelt, die eine Dauerrendite sichern und insofern krisensicher sind, als sie zusammen mit Abhängigkeiten (vgl. Gratisdienste und Opportunitätskosten) jenseits einer Preisbildung durch den Markt funktionieren (vgl. Die Rückkehr des Feudalismus mit anderen Mitteln). Zieht sich der Kapitalismus in der jetzigen Krise in den behaglichen Bau eines neuen Feudalismus zurück?
Robert Kurz: Im Grunde drehen sich alle aufgeworfenen Fragen immer darum, was "Wert" eigentlich ist (Profit stellt nur eine vom Wertverhältnis abgeleitete Größe dar). Für das laut Marx fetischistisch bestimmte kapitalistische Bewusstsein bedeutet Wert ein rein relationales Verhältnis (subjektive Wertlehre). Sobald Menschen überhaupt in eine Beziehung treten, stellen sie dieser Auffassung zufolge auch schon eine Wertbeziehung her. Damit wird jedoch ein spezifisch historisches Verhältnis, das moderne warenproduzierende System, auf ideologische Weise ontologisiert.
Diese kapitalistische Basisideologie spitzt sich in der Postmoderne bis zur Absurdität zu, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens wird die soziale "Individualisierung" bis zur letzten Konsequenz getrieben, um die Menschen in abstrakte Gesellschaftsatome zu verwandeln, die ihre eigene Gesellschaftlichkeit als fremdes Außen erleben müssen: Alle Beziehungen bis in die Intimität hinein sollen sich in "Kundenbeziehungen" verwandeln ("Qualitätsmanagement"). Eine solche Anforderung ist jedoch nicht mehr lebbar und erzeugt Alltagskatastrophen am laufenden Band.
Zweitens wird die Differenz von Wesen und Erscheinung negiert, jegliche "Substantialität" geleugnet und damit auch die Arbeitssubstanz des Kapitals. Wert ist jedoch nicht nur Form, sondern auch Substanz, nämlich vergangene oder "tote" Arbeit, ein Quantum verausgabter menschlicher Energie in der Form einer "Realabstraktion".
Drittens wird die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, von Realität und Virtualität, von Sein und Schein völlig eingeebnet; die erkenntnistheoretische Flachheit bringt den Kult der Beliebigkeit hervor. Dass es keine absolute Realität gibt, heißt jedoch noch lange nicht, dass in Bezug auf eine bestimmte historische und gesellschaftliche Konstellation (aber auch in Bezug auf die Natur) alle Gegenstände dieselbe Dignität hätten oder sich auf derselben Oberfläche darstellen ließen. Zwar ist die Schwerkraft bekanntlich an sich eine bloß relative Angelegenheit; aber trotzdem wäre es wenig bekömmlich, auf dem Himmelskörper Erde im 10. Stock aus dem Fenster zu springen.
Alles in allem passten die postmodernen Modetheorien natürlich wunderbar zur kurzen Ära des Finanzblasen-Kapitalismus und seiner "Anything-goes"-Ideologie. Jetzt heißt es "Rien ne va plus", sowohl für die Blasenökonomie wie für das Beliebigkeitsdenken. Der Anti-Essentialismus wird höchst essentiell mit der Nase auf den negativ-essentiellen Charakter des Kapitals gestoßen.
Natürlich gibt es die fetischistische Illusion über den Charakter von Wert und Profit schon seit Beginn der kapitalistischen Produktionsweise in immer neuen Varianten; der Postmodernismus stellte nur eine äußerste Zuspitzung dar. Die subjektive Wertlehre entstand bereits im 19. Jahrhundert und bildete über die darauf bezogene sprachtheoretische Vermittlung von Saussure eine Quelle der postmodernen Theorien.
Eine andere, ältere Variante derselben Illusion ist die Theorie vom "politischen Wert" oder "politischen Preis", das heißt die Vorstellung, dass Werte, Preise und Profite durch politischen Ukas, durch reine Macht- oder Herrschaftsverhältnisse bestimmt werden könnten. Aber die Kapitalverwertung ist ein objektivierter Prozess, der nicht auf den subjektiven Befehl der Macht reagieren kann. Wenn beispielsweise ein bestimmter Standard der Produktivität und damit der Rentabilität auf dem Weltmarkt qua Produktivkraftentwicklung gesetzt worden ist, dann kann daran keine politische Diktatur rütteln. Der Produktivitätsstandard samt allen ökonomischen Konsequenzen ist mit Panzern, Raketen, Geheimpolizei, Folterknechten usw. nicht im mindesten zu beeindrucken.
Deshalb hat sich auch der Kapitalismus noch nie "über den Rückgriff auf autoritäre Staatsmodelle gesundgestoßen". Der autoritäre Staat ist ein Durchsetzungs- und Krisenmodell des Kapitals in einem ganz äußerlichen Sinne. Auch die Demokratie selbst reagiert als Apparat auf den ökonomischen Notstand repressiv, aber damit kann sie diesen Notstand nur verwalten (solange sich die Menschen das gefallen lassen), nicht jedoch bewältigen. Entweder entstehen aus dem objektiven inneren Prozess der kapitalistischen Ökonomie neue Potentiale der Verwertung und Akkumulation, also auch der neuen zusätzlichen Vernutzung von Arbeitskraft, oder der ökonomische Notstand wird sich immer weiter verschärfen.
Natürlich ist es denkbar, dass eine Diktatur oder eine demokratische Notstandsverwaltung große Massen der Bevölkerung durch Gewalt und bürokratischen Terror niederhält, aber das ist etwas anderes als ein "Gesundstoßen des Kapitals", das eben seinem Wesen nach auf die stetig erweiterte Vernutzung von Arbeitskraft auf dem gegebenen Produktivitätsstandard und keinem anderen angewiesen ist. Die politische Macht kann Kapitalakkumulation unterstützen und flankieren (sie ist ja nichts als der "politische Ausdruck" des Kapitalverhältnisses), aber nicht autonom hervorbringen.
Auch so genannte wirtschaftliche Macht (Kontrolle qua Eigentumstitel über Geldkapital, Produktionsmittel etc.) kann nicht als solche Wert schöpfen, sondern nur von einer produzierten Wertmasse abschöpfen. Patente oder Copyrights als solche erzeugen keinen müden Euro Profit, sondern nur, wenn das entsprechende Wissen, Know-how etc. kapitalistisch produktiv angewendet wird. Die Erlöse für Patente usw. stellen einen Abzug vom produktiv erwirtschafteten Mehrwert bzw. Profit dar, den der Eigentümer dieses Titels vom "fungierenden Kapitalisten", der dieses Patent anwendet, für sich erheben kann.
Dabei verhält es sich ähnlich wie beim zinstragenden Kapital, also wenn jemand, der selbst keine kapitalistische Produktion betreibt, Geld an ein Produktionsunternehmen verleiht. Der Zins, den er dafür erhält, ist nichts als ein Abzug vom erwirtschafteten Profit, den der "fungierende" Unternehmer an den Geldbesitzer zahlen muss. Wenn das Produktionsunternehmen unrentabel wird oder bankrottiert, oder wenn das geliehene Geld für Hirngespinste oder unproduktive Ausgaben verpulvert worden ist (wie großenteils in der New Economy), wird die Krise des Schuldners bekanntlich auch zur Krise des Gläubigers. Nicht anders verhält es sich bei den Gebühren für Patente, Copyrights etc.
Dabei ist es egal, ob und welche Vermittlungskanäle dazwischen liegen (staatliche, kommunale, juristische etc.). Wenn Kosten für Patente oder Copyrights im Unterschied zum Zins des Finanzkapitals nicht einer Preisbildung durch Märkte unterliegen, heißt das noch lange nicht, dass es sich deswegen um "krisensichere" Einkünfte handelt. Einem Nackten kann niemand mehr in die Tasche fassen. Das gilt für Individuen ebenso wie für Behörden oder Institutionen. Mit einem Wort: Alle abgeleiteten Einkünfte, Gebühren, Gewinne, Zahlungen sind letztlich abhängig von gelingender reeller Kapitalverwertung, und wenn diese nicht mehr funktioniert, gibt es auch keine davon abgeleitete "Dauerrendite" mehr, welcher Art auch immer. So zu denken, ist die Illusion der Besitzer von Geldkapital oder Eigentumstiteln, die nicht realisieren, an welchen kapitalistischen Vermittlungszusammenhang ihre "Ansprüche" gebunden sind.
Weil man begrifflich nicht mehr weiter weiß, wird neuerdings in ganz verschiedener (ökonomischer, sozialer, politisch-militärischer) Hinsicht von einer Wiederkehr irgendwie feudaler Verhältnisse, einem "neuen Mittelalter" usw. fabuliert. Das ist einfach Quatsch. Feudalismus ist ein agrar- und naturalwirtschaftliches persönliches Abhängigkeitsverhältnis. Auf der Basis der anonymen allgemeinen Wert- und Geldform kann es weder eine gesellschaftliche Reproduktion über persönliche Abhängigkeiten geben noch eine Abgabenwirtschaft in Form von Naturalien oder Arbeitsdiensten. Ein Geld-Feudalismus wäre ein Widerspruch in sich. Es sei denn, das Geld wächst demnächst auf den Bäumen oder auf dem Acker.
Aus Stilllegung entsteht kein Profit
Über neue Systeme des "Urheberrechtsschutzes" wie Digital Rights Management werden derzeit weltweit traditionelle Zugangsrechte der Bevölkerung zu Informationen enteignet (vgl. Content is King! oder die Diktatur des Kleingedruckten). Eine weitere Expropriationswelle droht durch die Umwandlung der Sozialversicherungssysteme. Schaffen solche Vorgänge dem Kapitalismus neue Betätigungsfelder oder beschleunigen sie die Untergangsmechanik?
Robert Kurz: Noch einmal: Niemand ist von Natur aus zahlungsfähig. Zahlungsfähigkeit in der Geldform ist davon abhängig, dass man irgendetwas verkaufen kann, seine Arbeitskraft oder wenigstens seine Niere. Letzten Endes setzt Zahlungsfähigkeit die Involvierung in einen gelingenden kapitalistischen Verwurstungsprozess von Arbeitskraft voraus. Wenn verliehenes Geldkapital nicht profitabel verwertet wird, dann ist es verloren und kann nicht zurückgefordert werden. Wenn die Anwendung eines Patents zu keinem profitablen Verwertungsprozess führt, dann verfällt der Anspruch ebenfalls. Der Inhaber des Patents kann zwar dessen weitere Anwendung untersagen, aber das ist rein negativ, davon hat er nichts.
Unprofitable Produktionsanlagen kann man stilllegen, aber aus der Stillegung entspringt natürlich kein Profit. Nicht zahlungsfähigen Bevölkerungsteilen kann man das Wasser, den Strom, das Telefon und natürlich auch den Zugang zum Internet sperren, aber auch das sind rein negative Vorgänge. Und wenn Leute, die jahrzehntelang in die Sozialversicherung eingezahlt haben, am Ende nichts mehr herausbekommen, weil wegen der veränderten Generationenverhältnisse nichts mehr da ist, entsteht daraus kein neues Kapitalanlagefeld. Stillegungen, Sperrung von Zugangsrechten, Entwertung von Ansprüchen sind Erscheinungsformen der kapitalistischen Krise, aber wie sollte daraus ein neuer Spielraum der Verwertung entstehen? Es sind immer nur negative Folgen davon, dass die Verwertung eben nicht mehr funktioniert.
Das Ziel kann nur eine gesellschaftliche Selbstverwaltung der vereinigten Individuen sein
Hartzens Mission: Lohnverzicht, längere Arbeitszeiten, schlechtere Arbeitsbedingungen und Leistungskürzungen für Arbeitslose werden mit den Stichworten Flexibilisierung, Ich-AG und Eigenverantwortung durchgesetzt. Die Konzepte zielen allesamt auf die Selbstdisziplinierung der Lohnabhängigen und verbinden paradoxerweise das Konzept wachsender Selbstbestimmung mit der faktisch wachsenden Abhängigkeit der Menschen von ökonomischen Prozessen. Warum füllen sich eigentlich anhand solch kognitiver Dissonanzen nicht die Irrenhäuser? Und was sind die theoretischen und praktischen Kräfte, die dieser Entwicklung Einhalt gebieten könnten?
Robert Kurz: Vielleicht sind wir alle schon die Insassen eines Gesamt-Irrenhauses. Die Verrücktheit der in sich widersprüchlichen Anforderungen springt ins Auge. Die Beamten der Arbeitsämter beispielsweise sollen ihre Klientel als "Kunden" behandeln und sie gleichzeitig bürokratisch schurigeln, sie in Hungerlohn-Jobs hineinzwingen. Die "Selbstverantwortung" in Bezug auf ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis, das objektiv nicht mehr funktioniert, kann nur in soziale Katastrophen führen. Die Frage ist, ob und wie lange sich die Menschen das gefallen lassen, wo die Schmerzgrenze liegt. Und die Antwort auf unerträgliche Zumutungen und unmögliche Anforderungen muss nicht emanzipatorisch sein; sie kann sich beispielsweise auch in rassistischen Ausbrüchen entladen.
Es gibt keine "objektive" Kraft, die per se schon die Alternative wäre oder diese in ihrer Existenz repräsentieren würde. Die Lohnabhängigen (ebenso wie die Elendsunternehmer oder Scheinselbständigen) sind an sich auch nur Subjekte der Konkurrenz. Die Kritik und Alternative kann allein aus der emanzipatorischen Verarbeitung der negativen Erfahrungen resultieren; dafür gibt es keinen privilegierten sozialen Ort. Es ist eine Leistung des Bewusstseins, die nicht selber wieder "objektiv" angelegt ist und deshalb auch ausbleiben kann. Ob die sich gegenwärtig formierende Bewegung gegen die Erscheinungsformen der kapitalistischen Krise zu einer emanzipatorischen Macht wird, die dem Marsch in die Barbarei Einhalt gebieten kann, hängt von ihren Lernprozessen ab. Die Frage ist, ob sie sich bis zu einer Kritik an der gesellschaftlichen Form des modernen warenproduzierenden Systems aufschwingen kann oder ob sie in den kapitalistischen Kategorien befangen bleibt und sich zur Mitverwaltung der Krise degradieren lässt. Das ist eine offene Frage.
Die gegenwärtigen Vorstellungen ("Re-Regulation" des Kapitalismus, Tobinsteuer usw.) greifen jedenfalls viel zu kurz und sind illusorisch. Nötig wäre eine grundsätzliche Kritik des gesamten kategorialen Systems einer gesellschaftlichen Reproduktion über die Entfremdungsmächte Markt und Staat. Also eine Kritik der abstrakten "Arbeit", der irrationalen betriebswirtschaftlichen Logik, der klassen-übergreifenden kapitalistischen Subjektform, der bürgerlichen Geschlechterverhältnisse, der demokratischen Selbstdisziplinierung, der fetischistischen Rechtsform und juristischen Illusion, der falschen nationalen Identitäten usw. Also kein "Klassenkampf" im blind vorausgesetzten Gehäuse der vorgefundenen gesellschaftlichen Formen mehr, sondern eine theoretische und praktische Kritik des gemeinsamen Bezugssystems, zu dem man erst einmal auf Distanz gehen muss.
Das Ziel kann nur eine gesellschaftliche Selbstverwaltung der vereinigten Individuen sein. Aber eine Selbstverwaltung in den kapitalistischen Formen wäre ein Widerspruch in sich, eine Selbstverhöhnung, Selbstausbeutung, Selbstunterdrückung im Namen irrationaler und falsch objektivierter Kriterien. Gerade um deren Abschaffung ginge es. Also um eine Selbstverwaltung jenseits von blinden Fetischmedien. Die Produktivkräfte der mikroelektronischen Revolution, hervorgetrieben vom Prozess der Konkurrenz, sind über das Fassungsvermögen des modernen warenproduzierenden Systems (seiner Vermittlungsformen) hinausgewachsen, die wir jedoch andererseits "verinnerlicht" haben, die unsere Subjektform ausmachen. Um da herauszukommen, bedarf es erst einmal einer intellektuellen Fokussierung, einer theoretischen Reflexion, die sich einen Platz in der Öffentlichkeit erobert.
Das System der politischen Repräsentanzen ist ein Tummelplatz für Karrieristen, Intriganten und Streber
Viele Menschen haben - auch angesichts dieser Entwicklungen - den Eindruck, dass Wählen noch nie so wertlos war wie heute. Andererseits steht gerade eine "Reform" der Krankenversicherung, die Abschaffung des Flächentarifvertrages und neue Kriege auf der politischen Agenda. Sind das Gründe, trotzdem wählen zu gehen?
Robert Kurz: Die Bundestagswahl ist ja inzwischen vorbei, aber dieser rituelle Akt war sowieso nahezu bedeutungslos. Die so genannte Politik, das politische System, das Bezugsfeld der politischen Parteien, das ist doch alles "tote Hose", was mögliche emanzipatorische Einwirkungen angeht. Eher geht ein ganzer Planet durch ein Nadelöhr, als dass durch Politik noch irgendetwas zum Guten gewendet werden könnte. Die "Form" Politik stellt ja nichts anderes als eine sekundäre Ebene und Ausdrucksform des Kapitalverhältnisses dar. An dessen objektiven historischen Schranken kann Politik nur noch eine vor geschaltete Instanz kapitalistischer Krisenverwaltung sein. Welche Alternative hätte denn zur Wahl gestanden?
Im Sinne auch nur einer Abwehr oder Eindämmung der ärgsten Zumutungen ist das System der politischen Repräsentanzen doch längst ein einziger Schrotthaufen, bestenfalls ein Tummelplatz für Karrieristen, Intriganten, Streber. Für ernsthaften Widerstand bedarf es einer außerparlamentarischen Bewegung, die sich nicht auf die Systemgesetze vergattern lässt, sondern die Möglichkeiten der natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen, des Wissens usw. einklagt. Auch bloß symbolische Bekundungen bringen kaum noch etwas; um der hemmungslosen Zumutungspolitik Einhalt zu gebieten, wären schon reale Eingriffe mit harten Bandagen notwendig (Massenstreik, Blockaden, Besetzungen, Boykott, Sabotage usw.).
In den Feuilletons schlug das Empire in Gestalt der theoretischen Jedi-Ritter Toni Negri und Michael Hardt zurück (Vgl. Die Globalisierer blockieren die Globalisierung). Was halten Sie von dieser spinozistischen Wunderwaffe?
Robert Kurz: "Empire" halte ich für ein miserables Buch. Hardt/Negri gehen meiner Ansicht nach von einem ganz falschen Begriff der "Immanenz" aus: nicht Transzendenz aus der Immanenz durch Systemkritik, sondern eine platte, auf sich zurückgeworfene Immanenz, in deren Kontext nahezu beliebige Entwicklungen hochgejubelt werden, bloß weil es sie "gibt". So haben Hardt/Negri die ganze Begrifflichkeit der New Economy adoptiert und besetzen die "Selbstverwertung" der Ich-AGs naiv positiv (peinlicherweise ist ihr Buch gerade pünktlich zum Platzen dieser Seifenblase erschienen). Statt einer kritischen Analyse der kapitalistischen Weltkrise bieten sie nichts als einen Aufguss der ideologischen "Chancen"-Rhetorik, ohne jede begriffliche Differenzierung: Alles ist eins, alles ist per se schon "Verwertung", alles ist per se schon "Emanzipation" usw.
Alle Illusionen der letzten 150 Jahre über eine "politische" Wertbildung, über das Kapital als bloß äußerliches politisches Herrschaftsverhältnis etc. werden wiederholt. Und als Krönung tritt dann an die Stelle der radikalen Kritik an den gesellschaftlichen Formen die älteste juristische Illusion: Sie wollen ein "Weltbürgerrecht", einen "Weltsoziallohn" usw., wo es keinen Weltstaat gibt und geben kann. Im Grunde genommen läuft es auf eine illusorische Wiederholung des sozialdemokratischen Projekts einer "Anerkennung" im Rahmen des Kapitalverhältnisses auf einer fiktiven Weltebene hinaus, während die Globalisierung gerade die Grenzen kapitalistischer Reproduktion aufzeigt. Diese Vereinigung von operaistischem Kitsch und postmoderner Beliebigkeit war wohl der Schwanengesang einer Theorie, die in der kapitalistischen Immanenz stecken bleibt.