"Vier normale Männer, die das Internet benutzten"
Ein interner Bericht des britischen Innenministeriums sieht bei den Attentätern von London keine Verbindung mit al-Qaida oder anderen Hintermännern, dafür aber mit dem Internet
Noch vor den Anschlägen vom 11.9. kursierte das wohl von Geheimdiensten lancierte Gerücht durch die Medien, dass islamische Terroristen um Osama bin Laden mit Steganografie Botschaften ausgerechnet in Bildern auf Porno- oder Sport-Websites verstecken und so heimlich kommunizieren (Der Bankier des Terrors im Dickicht des Netzes). Die Geschichte wurde immer einmal wieder hochgekocht, gefunden wurden keine versteckten Botschaften. Dafür perfektionierten die Terroristen ihre Mittel, Videos und Bilder mit ihren Botschaften in die Medien zu bringen oder über das Internet zu verbreiten. Damit wurden vermutlich keine Instruktionen für neue Anschläge gegeben, wie Geheimdienste auch vermuteten, sondern damit wurden die Terroristen, ihre Absichten und ihre Taten bekannt und als Gegenspieler der Supermacht hochgespielt, die diese auch zum Nachfolger des kommunistischen „Reichs des Bösen“ machte und mit Krieg antwortete. Die mit dem Terroranschlag bezweckte Prominenz und Aufwertung hatte mithin funktioniert.
Terrorismus ist seit Beginn an im 19. Jahrhundert „Propaganda der Tat“. Anschläge und Morde dienen dazu, die Macht zu verunsichern, Schrecken und Angst zu verbreiten, eine Gruppe bekannt zu machen, um effektiver für Gelder und Rekruten werben und Forderungen besser durchsetzen zu können. Spätestens nach der Vertreibung von al-Qaida aus Afghanistan, vermutlich aber schon zuvor, hat der islamistische Terrorismus – möglicherweise auch entsprechend der dezentral organisierten Religion – sich nicht über ein strikt hierarchisch aufgebautes und eng koordiniertes Gruppe organisiert, sondern, wie man schon lange weiß, als loses, oft gar nicht direkt verbundenes Netzwerk von Netzen. In diesem fließen nur in kleinen Gruppen Befehle von oben nach unten, die Koordinierung und Verbreitung erfolgt viel eher memetisch über Medien, einzelne Personen und Gerüchte – über eine Form der Ansteckung, die von bestimmten Ereignissen – Anschlägen, Geiselnahmen und Exekutionen, aber auch Kriegen (Irak), Vorfällen (Abu Ghraib) oder Unrechtssystemen (Guantanamo, Verschleppungen) – gestärkt wird.
Für die memetische Ansteckung sind neben bestimmten Informationen sicherlich Bilder entscheidend, die Emotionen schüren und beeindrucken. Bilder wirken umso mehr, je prominenter sie sind, also je massiver sie in den Medien präsent sind, aber sie müssen auch bestimmten ästhetischen Kriterien genügen, um eine entsprechende Verbreitung zu finden, wie dies bei den Anschlägen auf die WTC-Türme, die Folterbilder von Abu Ghraib oder die Exekutionsvideos der Fall war.
Wie ein Bericht des britischen Innenministeriums über die Anschläge vom 7. Juli 2005 in London nun erneut deutlich macht, so berichtet der britische Observer, hatten die Selbstmordattentäter keine Verbindung zu al-Qaida und waren auch nicht nur ausführende Organe irgendwelcher Drahtzieher (masterminds) im Hintergrund, wie man dies zunächst vermutet hatte (Aufklärung durch Überwachungskameras und Verbindungsdaten). Es habe auch keinen fünften Attentäter gegeben, was man lange glaubte, nachdem die Attentäter einen Rucksack mit Bomben in einem Auto zurückgelassen hatten. Wie genau das Internet dazu gedient hat, die Gruppe zusammenzuführen und den Plan auszuhecken, geht aus dem Observer-Artikel nicht hervor. Ein Informant aus dem Verteidigungsminister wird lediglich so zitiert: „Die Anschläge von London waren eine bescheidene, einfache Tat von vier anscheinend normalen Männern, die das Internet benutzten.“ Die Frage ist, ob nun eine verstärkte Regulierung und Überwachung des Internet wieder einmal gefordert werden wird.
Allerdings ist Mohammed Siddique Khan, der älteste der Attentäter, zuvor dem britischen Geheimdienst aufgefallen, der aber die Sache nicht weiter verfolgt hatte. Khan war auch mehrmals in Pakistan gewesen und war dort wahrscheinlich in seinem Glauben bestärkt worden. Ein Video, das nach dem Anschlag zirkulierte und auf dem er und auch al-Qaida-Chef Sawahiri zu sehen war, scheint kein übliches Bekenner-Video zu sein, sondern erst nachträglich gemacht worden zu sein, um – aus welchen Gründen auch immer – al-Qaida die Urheberschaft zuzuschreiben.
Die Anschläge, die 52 Menschenleben forderten und nach Madrid erneut den Terror in eine europäische Großstadt holte, sei, so der Bericht, ein „einfacher und billiger“ Plan von vier jungen Muslimen gewesen, die einen Märtyrertod suchten. Die vier jungen Männer hätten ihr Wissen von Webseiten geholt und für die Herstellung von Bomben nur einige Hundert britische Pfund benötigt. Auch das zeigt erneut, dass die seit Jahren beschworene Gefahr, dass Terroristen immer demnächst Massenvernichtungswaffen verwenden würden, gegenüber der realen Gefahr an den Haaren herbeigezogen ist und von einer angemessenen Analyse der Gründe des islamistischen Terrorismus ablenkt.
Nach dem Observer macht der Bericht auch deutlich, wie die vier jungen Männer in sich zerrisseen waren und einerseits von einem extremen, schließlich zur Gewalt anstiftenden Glauben immer stärker fasziniert und angezogen wurden, während sie andererseits auch den „westlichen Lebensstil“ liebten (Britische Muslime im schwierigen Spagat). Und der Bericht macht noch einmal deutlich, dass der Anschlag vor allem motiviert war durch den Irak-Krieg, der von den jungen Männern als gegen die Muslims gerichtet empfunden wurde. Die britische Regierung suchte dies aus offensichtlichen politischen Gründen zu leugnen ("Evil Ideology"), allerdings haben auch andere britische Geheimdienstberichte vom Irak-Krieg als einem „motivierenden Faktor“ für die Radikalisierung junger Muslime gesprochen - vor den Anschlägen in London.