Virtuelles Lernen

Wann ersetzt der PC den Lehrer oder die Nachhilfestunde?

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Schon zu Zeiten der Input64 aus dem Heise-Verlag wurden Lernprogramme auf Datasette, auf 5 1/4 Zoll-Diskette oder - wie damals üblich - zum Abtippen angeboten. So gab es einen kleinen französischen Gendarmen, der bei falscher Eingabe immer rot wurde, oder den Drachen Nicky, der bei einem verkehrten Ergebnis immer fürchterlich Feuer spuckte. Alle Programme folgten den Grundregeln der Computertechnologie: "Wahr" oder "Falsch".

Der Traum der Menschheit, vom Computer beim Lernen unterstützt zu werden, ist also genauso alt, wie es diese Rechenknechte auf dem Markt gibt. Nur so richtig intelligent - wie immer versprochen – sind diese Computer bzw. die sogenannten Lernprogramme immer noch nicht.

Künstliche Intelligenz

War etwa das als Künstliche Intelligenz bezeichnete Programm ELIZA (1964-1966)" von Joseph Weizenbaum intelligent, wenn es auf festgelegte Phrasen satzweise antworten konnte? So vertraute sich wohl die Sekretärin dem Programm an, wenn sie sich "TRAURIG" fühlte und das Programm fragte sie dann höflich: "Warum bist du TRAURIG?" Ein derartiges - inzwischen weiterentwickeltes - Programm scheint allenfalls als Diagnostikprogramm für einen Psychotherapeuten geeignet zu sein. Es gibt auch schon Bestrebungen, eine ärztliche Anamnese in ähnlicher Weise aufzunehmen. Ein menschliches Gespräch ist aber einfach nicht zu ersetzen, und man sollte schleunigst das Weite suchen, wenn man einmal in solchen Fängen gelandet ist.

Nachhilfe?

Nach der 64er-Phase gab es zunächst wenig professionell programmierte Programme. Die meisten stammten von Shareware-Autoren, die sich ohne jeglichen lerntheoretischen Hintergrund an die Arbeit machten. Besonders Vokabeltrainer in allen möglichen Varianten überschwemmten den Atari-, Amiga- und PC-Markt. Die Schulbuchverlage, aber auch die anderen Softwareschmieden boten nur vereinzelte Lernlösungen an. Vor einigen Jahren wurde dieser Markt wieder neu entdeckt und auch die Schulbuchverlage wie Schroedel, Westermann, Cornelsen, Mentor und Heureka-Klett sind inzwischen mit hochwertigen Programmen dabei.

Diese und auch die anderen Firmen zielen dabei aber nicht mehr ausschließlich auf den schulischen Bedarf ab, sondern haben ihren Hauptumsatz auf dem sogenannten Nachmittagsmarkt. Hier scheinen sie nun endlich die Bedürfnisse geweckt zu haben, die Eltern, Tanten und Großeltern veranlassen, diese Programme kaufen. Aber auch der gesellschaftliche Leistungsdruck, ohne gute Schulabschlußnoten nicht mehr im beruflichen Alltag von morgen bestehen zu können, treibt viele zum Nachhilfelehrer am PC. Nicht bewiesen, aber die Nachhilfeinstitute haben ähnliche Wachstumsraten – und auch die versprechen oft das Blaue vom Himmel: "Wir führen Ihr Kind sicher bis zum Abitur". Verführerisch ist natürlich auch der Preisvergleich, so ein "Lernprogramm" wird um die 79 DM verkauft und dafür gibt es nur etwa zwei bis drei Unterrichtsstunden bei irgendwelchen Schülerinstitutionen.

Schulversager

Immer häufiger wird sich heute dieser Nachhilfemöglichkeiten bedient, wenn Lehrer oder Eltern versagen oder Versagensängste haben. Für die Kinder bedeutet dieser zunehmende Leistungsdruck der Einstieg in eine massive Lernstörung. Allerdings können Lese- und Rechtschreibstörungen (LRS) nicht durch fortwährendes Üben beseitigt werden. Oft zeigen sich bei den Kindern noch starke Verhaltensauffälligkeiten (Klassenkasper, Zerstörungswut, fehlende Hausarbeiten oder Zurückgezogenheit). Hier kann kein Lernprogramm und keine Nachhilfeeinrichtung helfen! Besorgte Eltern sollten sich vielmehr vertrauensvoll an den Schulpsychologen wenden. Nur spezielle therapeutische Einrichtungen können den Grund für diese Lernstörungen beseitigen. Manchmal reicht ein Schulwechsel, oft ist eine Paartherapie in Verbindung mit einer LRS-Therapie dringend notwendig. Vereinzelt sind auch schon Fälle von Hochbegabung im Zusammenhang von Lernstörungen aufgetreten. Hier waren die Kinder eindeutig überfordert und bedurften einer individuellen Betreuung.

Der Lernmarkt

Der aktuelle Lernprogrammmarkt (inzwischen auf CD-ROM) umfaßt neben den Lernprogrammen auch den Edutainment- und Infotainmentbereich. Seitdem das Internet bzw. das world-wide-web (www) boomt, gibt es auch verstärkt Online-Lernangebote sowie schulische (Modell-)Projekte. Besonders zu erwähnen ist hierbei das bundesweite Projekt Schulen an Netz. Bis zum Jahresende sollen 10.000 Schulen am Netz sein.

Lernprogramme vermitteln in der Regel einen schulrelevanten Stoff. Klar und nüchtern stellen sie ein Thema vor und bieten anschließend intensive Einübungsphasen an. Manche Programme sind speziell an Schulbücher angelehnt. Hier wird zumindest nach lerntheoretischen Gesichtspunkten programmiert. Eine schnelle Lösung der gestellten Aufgabe gibt es hier meistens nicht, vielmehr wird noch einmal der Lernstoff vorgestellt. Empfehlenswert sind alle Programme aus den Schulbuchverlagen. Kaufen Sie dennoch die Programme nicht sofort, sondern besorgen Sie sich Demoversionen.

  1. Edutainment: Bieten in einer bunten Comicwelt "spielerisches Lernen" an. Unterhaltend werden der Stoff bzw. die Übungen dargeboten. Bekannte Comic-Figuren sind jedoch keine Garantie für Qualität. Doch Vorsicht: Hier wird oft schnell eine Lösung angeboten. Durch diese Technik lernen Kinder nichts, denn durch schnelles Bestätigen der Lösung sinkt der Behaltenswert. Ebenso kann man Programme schlecht empfehlen, in denen nur einzelne Buchstaben in einen Lückentext eingegeben werden sollen oder schlimmstenfalls aus drei vorgegebenen Wörtern einfach nur das "richtige" per Maus angeklickt werden soll. Sinnvoller sind Programme, die eine komplette Eingabe per Tastatur erwarten, so müssen sich die Kinder mit den Silben bzw. dem ganzen Wort direkt auseinandersetzen. Machen Sie einen Übungsplan: Fünf Aufgaben am Rechner und die nächsten fünf auf Papier, denn auch die Handschrift zu üben, ist nach wie vor wichtig. Und wenn der Mengenbegriff noch nicht ausgeprägt ist, helfen auch mal Nudeln, Zahnstocher oder vielleicht sogar eine Torte. Für die Kleinen gibt es auch ein paar schöne Programme: Der kleine Tiger, Löwenzahn oder Max und die Piraten. Für die großen Kleinen sei der Kleine Prinz von Tivola ans Herz gelegt.
  2. Infotainment: Themenbereiche werden hier eindrucksvoll mittels vielfältiger Multimediatechnik präsentiert. Eine Interaktion ist nur in den seltensten Fällen möglich. Themen sind "Das Wetter", "Goethe in Weimar" oder Eine kurze Geschichte der Zeit. Aus dem Bibliographischen Institut & F.A. Brockhaus kommt eine Wissensreihe mit Titeln wie "Weltall neu entdecken" oder "Das Geheimnis der Burg". Wichtig bei solchen Programmen ist die Möglichkeit, jederzeit wieder an selbstbestimmten Stellen einsteigen zu können. Kinder bis zum Alter von 12 Jahren mehr als 20 Minuten vor so ein Programm (an den Computer) zu setzen, überfordert sie in der Regel. In diesen Bereich gehören auch die Lexika. Uneingeschränkt – wenn auch nicht ganz billig – zu empfehlen ist die Encarta Enzyklopädie 99 von Microsoft. Ebenfalls uneingeschränkt zu empfehlen ist die LexiROM Edition 2000. Hier stehen die wichtigsten Duden, ein Lexikon und Langenscheidts Deutsch/Englisch bzw. Englisch/Deutsch ständig zur Verfügung.
  3. Online-Lernangebote: Kostenfreie Systeme finden sich bislang noch nicht. Voll im Trend liegen Seiten mit Referaten, allerdings geistern diese schon seit fast acht Jahren durch das Netz. Seit 1992 finden sich diverse Texte auch in der Bielefelder Mailbox Bionic (0521-68000) im Bereich /COMPAED/REFERATE/. Eine professionelle Online-Hausaufgabenhilfe bietet der Cornelsen-Verlag auf seinen www-Seiten für Deutsch, Englisch und Mathematik an. Allerdings ist dieser Service inzwischen gebührenpflichtig. Die Schulen, insbesondere die Schulen aus der Aktion "Schulen ans Netz", führen unzählige Aktionen, Modellprojekte und Konzepterprobungen durch. Interessierte können sich umfassend über den Newsletterdienst über aktuelle Projekte und Initiativen informieren lassen. Eine wichtige Adresse im Internet: die Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e.V.

Hilfe, aber richtig

Die Erwartungen an Lernprogramme sollten nicht zu hoch angesetzt werden, denn aus einem bislang durchschnittlichen Schüler wird nun nicht zwangsläufig der Klassenprimus. Allerdings darf man den Motivationsgrad des Lernens am Computer auch nicht unterschätzen. Oft gehen Kinder gern mal wieder an den Rechner, um noch ein wenig Deutsch oder Mathematik zu üben. Wenn nur unterdurchschnittliche Leistungen vorhanden sind, ist es allerdings falsch, die Kinder allein vor das Programm zu setzen. Sinnvollerweise sollte man gemeinsam mit dem Fachlehrer einen Plan aufstellen, um das Kind nicht zu überfordern, das Leistungsspektrum einzugrenzen und den Übungsablauf abwechslungsreicher zu gestalten, z.B. durch schriftliche oder mündliche Aufgaben zu ergänzen.

Das Kind sollte in einer schwierigen Lernphase nicht sich selbst überlassen werden. Kommen Eltern oder Lehrer zu dem Urteil, daß Kind sei faul, kann man als Ferndiagnose feststellen, daß in der Familie oder Schule etwas oberfaul ist. Ein Lernprogramm kann hier keine Fehler ausbügeln.

Dank an Michael Becker und Ralf Hülsenbusch bei der Suche nach einem Input64-Titelbild (1/85).