"Völlig unterwältigendes" Hörensagen

Telefon im Oval Office. Foto: Executive Office of the President of the United States

Trump-Selenskyj-Telefonat: Nach Verlaufsprotokoll auch Anzeige veröffentlicht

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Einen Tag nach der Freigabe des Verlaufsprotokolls eines Telefonats zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj vom 25. Juli (vgl. Der ukrainische Sumpf holt Washington ein - oder umgekehrt) ist auch die neunseitige anonyme Anzeige vom 12. August veröffentlicht worden, die indirekt dafür sorgte, dass über Text, Kontext und Subtext dieses Gesprächs seit einem Washington-Post-Artikel vom 19. September öffentlich spekuliert wird (vgl. Schmutziger Wahlkampf in den USA).

Diese Anzeige ist nicht an eine Polizeidienststelle oder Staatsanwaltschaft gerichtet, sondern an Richard Burr und Adam Schiff, die Vorsitzenden der Geheimdienstausschüsse im Senat und im Repräsentantenhaus. Bereits zu Anfang des Schreibens räumt der anonyme Informant ein, dass er kein "direkter Zeuge" der geschilderten Gespräche war, seine Vorwürfe aber für glaubwürdig hält, weil sie ihm "in fast allen Fällen" übereinstimmend von verschiedenen Dritten zugetragen worden seien. Ist das keine Schutzbehauptung, um nicht aufzufliegen, dann sind die Schilderungen nach amerikanischem Prozessrecht weitgehend wertlos. Der für sie einschlägige und auch aus Filmen bekannte Begriff lautet "Hearsay": "Hörensagen".

Interpretationen und ein unüblicher Server

Inhaltlich ist das, was im Anzeigentext über das bereits bekannte Verlaufsprotokoll hinausgeht, vor allem eine Interpretation dessen, was Trump sagte und was er damit angeblich wollte: "Druck ausüben", damit er 2020 wiedergewählt wird. Anhand des reinen Gesprächstexts lässt sich diese Motivmutmaßung nicht beweisen. Dass in einem Korruptionsfall ermittelt wird, muss nämlich - wie Trump in den letzten Tagen mehrmals betonte - auch im Interesse eines ukrainischen Präsidenten liegen. Besonders dann, wenn die Korruptionsbekämpfung in seinem Wahlkampf ein sehr sichtbares Thema war (vgl. Ukraine schränkt strafrechtliche Immunität von Abgeordneten ein). Zum Vorwurf, Trump habe Druck ausgeübt, hatte Selenskyj bereits gestern gemeint, er habe das Telefongespräch als "gut" und "normal" empfunden und niemand habe ihn gedrängt. Damit verteidigte er sich auch selbst.

Über eine bloße Interpretation hinaus geht die Behauptung, dass das Verlaufsprotokoll des Telefonats nicht auf dem für Routinegespräche üblichen, sondern auf einem für "geheimes" und "sensibles" Material vorgesehenen Server gespeichert wurde. Dem Vorwurf, dass er etwas verschleiern wollte, kann der US-Präsident allerdings eine andere Behauptung aus der Anzeige entgegenhalten: Dass er das Gespräch nicht im "kleinen Kreis" führte, sondern etwa ein Dutzend Personen zuhören ließ.

Andere Behauptungen betreffen Dritte wie den ehemaligen ukrainischen Generalstaatsanwalt Jurij Lutsenko, mit dem sich sein Anwalt Rudolph Giuliani getroffen haben soll. Ihm soll Giuliani das gesagt haben, was auch Trump sagt: Dass man sich mit Ermittlungen nicht in eine Wahl einmische, sondern einen Korruptionsfall aufkläre.

Trumps Zustimmungswerte sanken, aber Biden rutschte hinter Warren

Die Reaktionen amerikanischer Politiker auf den Anzeigetext fielen dementsprechend wenig überraschend aus: Demokraten wie der Repräsentantenhausabgeordnete Mike Quigley nannten das Papier "besorgniserregend" und "verstörend", während Republikaner wie John Ratcliffe meinten, sie würden einem offiziellen Verlaufsprotokoll mehr Glauben schenken als den Erinnerungen von jemandem, der gar nicht vor Ort war.

Ob das neunseitige Dokument mit vielen und sehr langen Fußnoten dazu geeignet ist, längerfristig in größerem Umfang amerikanische Wähler gegen Trump aufzubringen, wird sich zeigen. Der vom Sender NBC News dazu befragte Politikanalyst Charlie Cook glaubt nicht, dass das der Fall sein wird. Angesichts des begrenzten Neuskandalisierungswerts in diesem groß angekündigten Text meinte er gestern spöttisch, er sei davon "völlig unterwältigt".

In der gestrigen YouGov-Umfrage sank die Zustimmung zu Donald Trump von 41 auf 39 Prozent, während der Anteil der Unzufriedenen von 52 auf 53 Prozent zunahm. Aber für den bisherigen demokratischen Umfrageführer Joseph Biden hatten die Meinungsforscher ebenfalls schlechte Nachrichten:

Er rutschte nicht nur in einer anderen aktuellen YouGov-Umfrage, sondern auch in der der der Quinnipiac-Universität hinter seine Rivalin Elizabeth Warren, die Trump als Gegenkandidatin im November 2020 womöglich lieber sein könnte (vgl. 1/64 bis 1/1.024 Indianerin). Bei Emerson liegt Warren zwar noch hinter Biden - aber mit 23 zu 25 Prozent nur mehr zwei Punkte.

Diese Veränderung hat möglicherweise nicht nur mit Bidens öffentlichen Aussetzern und paulanergartenhaft klingenden Geschichten über angebliche Erlebnisse mit Schwarzen wie "Corn Pop" zu tun, sondern auch damit, dass die aktuellen Bemühungen seiner Partei auch ihm schaden.

Gekreuzte berufliche Wege

Dass er behauptet, er habe mit seinem Sohn Hunter nie über dessen Geschäfte in der Ukraine gesprochen, könnte auf nicht wenige Amerikaner etwas lebensfern wirken. Nicht nur deshalb, weil sie selbst mit neugierigen Kindern und Eltern diametral entgegenstehende Erfahrungen gemacht haben, sondern auch, weil sich die beruflichen Wege der beiden Bidens zwischen 2014 und 2016 nördlich des Schwarzen Meeres kreuzten: Biden senior fungierte dort nach dem Maidan-Umsturz als wichtiger Kontakt zu Barack Obama. Drei Monate danach bekam sein beruflich vorher eher bedingt erfolgreicher Sohn einen extrem gut dotierten Posten in einer Branche, die in der Ukraine als Herz der Korruptionsfinsternis gilt.

Die Gasfirma Burisma, die ihm bis vor kurzem jedes Jahr 600.000 Dollar überwies, gehört Viktor Janukowitschs ehemaligem Umweltminister Mykola Slotschewskij, der sie großzügig mit Lizenzen bedachte und 2014 womöglich Gründe hatte, sich um seine Macht und sein Geld Sorgen zu machen, nachdem sogar britische Ermittler auf merkwürdige Kontobewegungen aufmerksam geworden waren. Danach engagierte er außer Biden junior noch die amerikanische PR-Agentur Bell Pottinger, John Kerrys ehemaligen Wahlkampfmanager Devon Archer, dessen ehemaligen Stabschef David Leiter, einen ehemaligen hohen CIA-Beamten und den ehemaligen polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski. 2016 wurde er (für Transparency International überraschend) vom Vorwurf der Korruption frei gesprochen und konnte in die Ukraine zurückkehren.

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