Vom Balken im eigenen Auge

Das US-Außenministerium hat am Montag seinen jährlichen Bericht zur weltweiten Menschenrechtslage zeitlich verzögert, aber noch immer zu einem ungünstigen Zeitpunkt veröffentlicht

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Angesichts der wachsenden Kritik an der Außenpolitik der USA ist es eine wohl eher undankbare Aufgabe, den jährlichen Bericht des US-Außenministeriums über die weltweite Menschenrechtslage vorzustellen. Das gilt besonders in diesem Jahr: Während fast täglich neue Bilder von misshandelten irakischen Kriegsgefangenen veröffentlicht werden, präsentierte der stellvertretende US-Außenminister Richard Armitage das Papier am Montag in Washington. Ursprünglich war die Veröffentlichung schon für den 5. Mai geplant gewesen. Wegen des Folterskandals in Irak aber hatte man sich in Washington für einen Aufschub entschieden.

Armitage blieb daher am Montag nichts übrig, als in die Offensive zu gehen. "Ich freue mich, Ihnen diesen Bericht zu einem Zeitpunkt vorstellen zu können, zu dem alle Welt auf das Geschehen in Abu Ghraib schaut", sagte der Diplomat. Schließlich bestehe diese Aufmerksamkeit "völlig zu Recht". Als Präsident George W. Bush seiner Betroffenheit über die Misshandlungen in Irak Ausdruck verliehen habe, sei dies nicht nur die Reaktion eines "prinzipienfesten Mannes" gewesen, "es war auch die Reaktion des Präsidenten eines Landes, das sich den höchsten Standards im Inneren und bei seiner auswärtigen Politik verschrieben hat", sagte Armitage.

Allerdings sind Zweifel angebracht, dass diese Strategie der Bush-Regierung aus ihrer Glaubwürdigkeitskrise helfen wird. Besonders deutlich wird das am Beispiel von Irak. Die Lage nach der US-Intervention vor gut einem Jahr wird in dem von US-Kongress gesetzlich verlangten Bericht als positiv beschrieben. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein seien Missbräuche "unvorstellbaren Ausmaßes" zutage gebracht worden. Die Weltöffentlichkeit habe "erdrückende Beweise eines Totalitarismus und einer grenzenlosen Brutalität" gesehen.

Die Zahl der in Massengräbern verscharrten Regimegegnern wird auf rund 300.000 Opfer beziffert. Mit dieser summarischen Darstellung weist das Dokument in die gleiche Richtung wie Colin Powells Rhetorik, als er unlängst wieder erklärte, dass dank des Krieges die "Folterkammern" Saddam Husseins geschlossen worden seien und die Massengräber "nicht mehr auf ihre Opfer warten".

Im Memo wird Präsident Bush aber auch vor möglichen negativen Folgen gewarnt, al-Quaida und Taliban-Kämpfern nicht den Status als Kriegsgefangene zu gewähren und sie nicht den Genfer Konventionen (GPW) zu unterstellen. So könnten die USA ihrerseits nicht die Einhaltung der Genfer Konventionen fordern, es könnte zu einer Verurteilung durch andere Staaten kommen, andere Staaten könnten sich ermutigt fühlen, ebenfalls internationale Abkommen zu missachten und die "militärische Kultur" der US-Streitkräfte wäre gefährdet. Vieles, zumal der letzte Punkt, hat sich eingestellt.

Parallel zur Veröffentlichung des Berichtes nämlich wird deutlich, dass doppelte Menschenrechtsstandards in Washington nach dem 11. September 2001 mehr denn je fester Bestandteil der Politik sind. So veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Newsweek ein Memorandum des Chefjuristen im Weißen Haus, Alberto R. Gonzales, aus dem Januar 2002. Gonzales erkennt gefangenen Talibn-Kämpfern darin den Status als Kriegsgefangene ab. Begründet werden könne dies durch den "Krieg gegen den Terrorismus", der eine "neue Art des Krieges" darstelle, als der, auf den sich die III. Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen beziehe. Hauptziel sei es, "schnellstmöglich an Informationen von gefangenen Terroristen zu gelangen":

Nach meinem Urteil macht dieses neue Paradigma (des Anti-Terror-Krieges, d. A.) die strikten Bestimmungen der Konvention für Verhöre feindlicher Gefangener hinfällig und lässt einige andere Bestimmungen geradezu seltsam erscheinen.

Nach solchen Meldungen verweist man in Washington aber unbeirrt auf die Splitter in anderen Augen. Kritisiert werden in einzelnen Länderstudien insgesamt 101 Staaten. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den üblichen Verdächtigen China, Nordkorea, Iran, Kuba und Burma zu. Das dem Bericht zugrunde liegende Prinzip der Religionsfreiheit wird im Fall der im atheistischen China als Sekte verfolgten Falun-Gong-Bewegung zur Kritik an der Regierung genutzt. Die Pressefreiheit ist laut Bericht in Staaten wie Kuba und Iran gefährdet. Aber auch befreundete Staaten werden in dem Bericht kritisiert. So gehe die israelische Regierung mit "exzessiver Gewalt" gegen Palästinenser vor. Die Lage im Gazastreifen und im Westjordanland sei "dürftig".

Dem Menschenrechtsbericht der US-Regierung wurde Anfang der Woche ein breites Medienecho zuteil. Grund dafür waren wohl nicht nur die skurrilen Widersprüche zwischen Anspruch und Realität der US-Außenpolitik. Mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird manche "Länderstudie" in den kommenden Monaten zur Begründung außenpolitischer Restriktionen gegen kleinere Staaten verwandt werden. Fast genauso sicher ist, dass sich die Aufmerksamkeit für die dortige Menschenrechtslage in Washington dabei proportional zu den jeweiligen Rohstoffvorkommen oder der strategischen Bedeutung des Landes verhalten wird.