Vom braven Bürger zum braunen Würger

Seite 2: Extremismus der Mitte

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Die konkrete historische Ausformung des Staatsapparates wie der Parteienlandschaft der Bundesrepublik, in der Nazis eine wichtige Rolle spielten, kann aber den Hang des deutschen Liberalen und Konservativen zur Kollaboration mit dem Faschismus nur bedingt erklären.

Es müssen auch ideologische Anknüpfungspunkte oder Überschneidungen gegeben sein, die unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen - zumeist in Reaktion auf politische, ökonomische oder ökologische Krisenschübe - die Mutation des braven Bürgers zum rechten Würger begünstigen.

Die Liberalen repräsentieren wie keine andere Partei den Neoliberalismus, der seit den 1980er Jahren eigentlich in allen kapitalistischen Kernländern eine politische Hegemonie ausbilden konnte. Es ist gerade diese hegemoniale neoliberale Ideologie, die in den vergangenen drei Dekaden die weltanschauliche "Mitte" der meisten spätkapitalistischen Gesellschaften okkupierte - und die in ihrem krisenbedingten Auflösungs- und Zersetzungsprozess auch die Brutstätte der Neuen Rechten und des Faschismus im 21. Jahrhundert bildet, indem sie "verwildert" und ins weltanschauliche Extrem getrieben wird.

In der Tat dürften sich etliche FDPler und AfDler aus denselben ideologischen Kaderschmieden des Neoliberalismus kennen, die sie gemeinsam durchliefen. Christian Lindner war bis 2015 Mitglied der extrem neoliberalen Hayek-Gesellschaft, in der längst AfD-Sympathisanten tonangebend sind. Die Süddeutsche bezeichnete den neoliberalen Thinktank gar als das "Mistbeet" der AfD.

Die Hayek-Gesellschaft hat sich der Propagierung "marktradikaler Ideen" verschrieben und spielt eine führende Rolle bei der "ideologischen Ausrichtung und Koordinierung einer Vielzahl neoliberaler Denkfabriken und Netzwerke", schreibt Lobbywatch. Es bestünden "enge Beziehungen" auch "zur Alternative für Deutschland". Neben Alice Weidel sind in der Hayek Gesellschaft die berüchtigte Beatrix von Storch sowie der AfD-Mann Peter Boehringer organisiert, der im Bundestag als Vorsitzender des Haushaltsausschusses tätig ist.

Die Überschneidungen zwischen Neoliberalismus und der Neuen Rechten werden auch anhand praktischer Politik evident. Wie eng AfD mit der FDP etwa bei der Ablehnung sozialpolitischer Maßnahmen beieinander liegen, macht der Kampf der AfD gegen den Berliner Mietendeckel klar. Die Führungsriege der AfD will nun gerichtlich gegen diesen vorgehen. Bei der Anhängerschaft der FDP und AfD ist die Ablehnung dieser bundesweit populären Regelung am höchsten.

Die Behauptung der AfD, eine "bürgerliche Partei" zu sein, ist auch beim Blick auf ihr Führungspersonal nicht von der Hand zu weisen. Das Personal der Neuen Rechten stammt ja keinesfalls von den "Rändern" der Gesellschaft. Es sind honorige, gutbürgerliche Gestalten, ehemalige CDU-Politiker (Gauland), Lehrer (Höcke), Unternehmensberaterinnen (Weidel) oder Figuren aus der Oberschicht wie die Lobbyistin Beatrix von Storch, die das mediale Erscheinungsbild der AfD prägen.

Entgegen dem Gerede von den rechten wie linken Rändern des politischen Spektrums, die angeblich die "Mitte" der Gesellschaft bedrohten, scheint es somit gerade die bürgerliche Mitte der Gesellschaft zu sein, die eben jenen Rechtsextremismus ausschwitzt, der sich gegen die bürgerliche Demokratie wendet.

Der Begriff des Extremismus der Mitte, der im Folgenden präzisiert werden soll, kann diesen Prozess der krisenbedingten Faschisierung des braven Bürgers erhellen - dies im Gegensatz zu der Extremismustheorie, die rechts und links gleichsetzt und von der Neuen Rechten wie von ihren potenziellen liberal-konservativen Koalitionspartner gern propagiert wird.

Als eine Krisenreaktion begriffen erklärt der Begriff des Extremismus der Mitte sowohl die Genese der neurechten Ideologie, wie auch ihren Erfolg: Bei ihrer politischen und ideologischen Formierung griff die Neue Rechte auf Anschauungen, Wertvorstellungen und ideologische Versatzstücke zurück, die im Mainstream der betroffenen Gesellschaften herrschen. Dieser Prozess des krisenbedingten "Ins-Extrem-Treiben" bestehender Ideologie bildet auch die Grundlage des politischen Erfolgs der Neuen Rechten - es ist kein Bruch und kein Umdenken notwendig, man verbleibt im eingefahrenen ideologischen Gleis.

Diese Mittelschichtideologie, deren Ausformung maßgeblich von der neoliberalen Hegemonie der vergangenen drei Jahrzehnte geprägt wurde, wird in Reaktion auf die Krisendynamik zugespitzt und ins weltanschauliche Extrem getrieben. Es sind somit keine "äußeren", der bürgerlichen Mitte entgegengesetzte Kräfte, die nun viele zivilisatorische Standards infrage stellen. Die krisenbedingt verunsicherte Mitte brütet die Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen ganz in Eigenregie aus.

Der Begriff des Extremismus kann die Grundlagen dieser Krisenideologie - die im Bestehenden und scheinbar "Alltäglichen" wurzelt - aber nur dann erhellen, wenn er ernst genommen und nicht nur als eine rein formale Begriffshülse verwendet wird, mit der in totalitarismustheoretischer Diktion Kräfte an den Rändern des politischen Spektrums belegt werden, die dann gleichgesetzt werden.

Stattdessen gilt es, die Grundzüge der weltanschaulichen Wahnsysteme des europäischen Rechtspopulismus nachzuzeichnen, um so die Kontinuität zwischen neoliberaler und rechtspopulistischer Ideologie aufzuzeigen. Was konkret wird von der Rechten ins Extrem getrieben?

Erst bei dieser Auseinandersetzung mit dem konkreten Inhalt der neurechten Ideologie - sowie deren Verwurzlung im Mainstream der spätbürgerlichen Gesellschaften - wird der besagte Begriff des Extremismus der Mitte voll verständlich.

Sozialdarwinismus: Das braun-gelbe Band

Diese Tendenz zur Ausbildung eines buchstäblichen "Extremismus der Mitte" spiegelt sich somit vor allem in der Ideologie, die von diesen rechtsextremen oder rechtspopulistischen Bewegungen transportiert wird. Welche ideologischen Vorstellungen, die der Neoliberalismus in den vergangenen Jahrzehnten in der bürgerlichen "Mitte" einpflanzte, werden also von der Neuen Rechten zugespitzt und ins Extrem getrieben?

Zuallererst ist hier das Konkurrenzdenken mitsamt Sozialdarwinismus zu nennen, das der Neoliberalismus forcierte und gesamtgesellschaftlich entgrenzte - und das von der Neuen Rechten in Reaktion auf Eurokrise und Flüchtlingskrise mit einem kulturalistischen oder rassistischen Überbau versehen wird.

Das Survival of the Fittest findet in der Ideologie der Neuen Rechten nicht nur zwischen den Marktsubjekten statt, wie vom Neoliberalismus propagiert, sondern auch zwischen Kulturen, Religionen oder gar - in seiner Extremform - "Rassen". Aufbauen kann die AfD dabei auf den Hetzkampagnen der Massenmedien, die etwa während der Eurokrise daran arbeiteten, die Krisenursachen zu personalisieren ("faule Griechen/Italiener").

Es findet somit faktisch eine Verselbstständigung dieser medial geschürten Ressentiments statt, die in den unkontrollierbaren Wahnräumen des Internets eine Eigendynamik entwickelten, die AfD, Pegida und co. zugute kommt. Die Krise scheint immer von außen durch bösartig agierende Gruppen in die anscheinend widerspruchslose Leistungs- oder Volksgemeinschaft hineingetragen zu werden. Die Neue Rechte praktiziert Hetze in Permanenz, während der Neoliberalismus Ressentiments immer nur als Mittel zum Zweck einsetzte, etwa um Hartz IV durch Hetze gegen angebliche "Sozialschmarotzer" zu legitimieren.

Diese Personifizierung der sozialen Folgen der Krise des Spätkapitalismus geht somit sowohl bei Neoliberalismus wie Neonationalismus mit einer Naturalisierung des Kapitalismus einher. Schon die frühere britische Premierministerin Margret Thatcher begründete ihre neoliberalen Reformen mit der Macht des Faktischen: "There is no Alternative" (TINA-Prinzip).

Die Personifizierung der Ursachen der gegenwärtigen Systemkrise baut folglich auf der Naturalisierung der spätkapitalistischen Gesellschaften auf: Diese erscheinen dem Neoliberalismus (Markt) und Neonationalismus (Nation) - mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung - als natürlicher Ausdruck der menschlichen Natur. Die Krisenschübe der vergangenen Dekaden führen folglich zur üblichen Sündenbocksuche, da der Kapitalismus in der neoliberalen Weltwahrnehmung natürlich und alternativlos ist.

Die zunehmenden Krisentendenzen können folglich nicht auf innere Widersprüche der spätkapitalistischen Gesellschaften zurückgeführt werden - wie etwa die Krise der Arbeitsgesellschaft oder der ökologisch verheerende Wachstumswahn des Kapitals, sondern werden im schädlichen Wirken der Krisenopfer verortet.

Die negativen Folgen der widersprüchlichen kapitalistischen Vergesellschaftung können so vom Neoliberalismus und Neonationalismus externalisiert werden: Sie erscheinen als negatives Wesensmerkmal einer Gruppe (Sozialschmarotzer, Flüchtlinge, etc.), mit der entsprechend zu verfahren ist. Der Neoliberalismus machte im Zuge der Personifizierung von Krisenprozessen das Marktsubjekt für das "Scheitern" am Markt verantwortlich, der Neonationalismus verfährt genauso mit ganzen Nationen oder Regionen.

Neoliberaler Standortnationalismus

Dabei bediente sich der Neoliberalismus schon immer gerne des Nationalismus, um seine gesellschaftliche Legitimität zu erhöhen. Thatcher konnte ihre neoliberale Agenda erst im Gefolge des Falkland-Krieges voll durchsetzen. In der Bundesrepublik wurde in Wechselwirkung mit der Agenda-Politik ebenfalls ein anscheinend unverkrampfter Patriotismus forciert, der seinen Durchbruch während der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland erlebte.

Die nationale Identitätsproduktion diente auch als ideologischer Kleister, der die zunehmenden sozialen Gegensätze in der neoliberalen Krisenperiode überdecken sollte. Eine zentrale Rolle spielte hierbei der Standortnationalismus: Die globalisierte Weltwirtschaft als eine Art Kampfschauplatz der nationalen Standorte wahrgenommen, wobei die Exporterfolge der Deutschland AG als Ausweis der nationalen Überlegenheit begriffen wurden - und als Quelle von Ressentiments dienten.

Hieran, an das neoliberale Bild des im globalen Kampf stehenden nationalen Standortes, kann der Neo-Nationalismus nahtlos anknüpfen - und den Schritt ins Extrem weitergehen. Der qualitative ideologische Umbruch zwischen Neoliberalismus und Neo-Nationalismus vollzieht sich vor allem entlang der Haltung zur Globalisierung, die von der Neuen Rechten als Urquell aller krisenbedingten Übel, als Werk einer Verschwörerclique von "Globalisten" imaginiert wird.

Dabei befördern die durch die strukturelle Überproduktionskrise des Spätkapitalismus global tatsächlich zunehmenden Tendenzen zum Protektionismus diesen Abschottungswahn der Neuen Rechten zusätzlich.

Dieses Andocken des Rechtspopulismus an den neoliberalen Standortdiskurs - bei dem das Standortdenken mit kulturalistischen oder rassistischen Ressentiments angereichert wird - äußert sich aber vor allem in einer verstärkten Hetze gegen alle Menschen im In- und Ausland, die als "unnütze" Kostenfaktoren wahrgenommen werden.

Der moderne Rechtspopulist agiert somit wie ein Neoliberaler auf Aufputschmitteln, der die hinlänglich bekannte neoliberale Polemik gegen die "Loser" und die "Unterschicht" abermals um eine rassistische Komponente erweitert.