Vom braven Bürger zum braunen Würger

Seite 3: Zeithistorischer Rückblick: Neoliberalismus als Brutstätte der Neuen Rechten

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Der Neonationalismus ist somit ein ideologisches Verwesungsprodukt des in Zerfall befindlichen neoliberalen Zeitalters mit seinen krisenbedingt zunehmenden sozioökonomischen Widersprüchen.

Dies soll am konkreten historischen Krisenverlauf in der Bundesrepublik kurz skizziert werden. Charakteristisch für den Neoliberalismus sind dessen sogenannte Reformen, die als Reaktion auf wirtschaftliche Stagnationstendenzen implementiert werden.

So war es in der Bundesrepublik als dem vormals "kranken Mann Europas" ("Economist", 1999) die Agenda 2010 samt den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen, mit denen das Nachkriegsmodell der sozialen Marktwirtschaft endgültig zu Grabe getragen wurde - und die zur Ausrichtung der Gesamtgesellschaft als "Deutschland AG" entlang des betriebswirtschaftlichen Kalküls führte.

Die mit drakonischen Einschnitten bei Sozialleistungen, breiter Prekarisierung, weitgehender Entrechtung von Arbeitslosen und krasser sozialer Spaltung einhergehende Hebung der Konkurrenzfähigkeit Deutschlands schien tatsächlich erfolgreich, sie führte ja zur Erringung von Exportweltmeisterschaften, von denen gerade Konzerne wie Siemens profitierten.

Doch zugleich lastet Hartz IV wie ein Alb über der deutschen Arbeitsgesellschaft. Die beständig mitschwingende Drohung mit totaler Verelendung hat die Machtverhältnisse zugunsten der Unternehmer verschoben. Die zunehmende Verdichtung und Entgrenzung des Arbeitslebens ließ nicht nur die Zahl der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen explodieren, sie verfestigte auch autoritäre Tendenzen bei vielen Lohnabhängigen, wie etwa der Sozialpsychologe Oliver Decker ausführt:

Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf.

Oliver Decker

Sie führe zu einer "Identifikation mit der Ökonomie", so Decker, "wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht". Je stärker der zunehmende Druck auf den autoritär fixierten Lohnabhängigen lastet, desto größer sein Bedürfnis, schwächere Menschen genauso ausgepresst und ausgebeutet zu sehen.

Die neoliberale Verzichtspolitik fördert somit die autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen. Evident wurde dies während der Sarrazin-Debatte, dem irren Urknall der Neuen Deutschen Rechten, als die mit der Agenda-Politik gerechtfertigte neoliberale Hetze gegen sozial marginalisierte Bevölkerungsschichten erstmals erfolgreich öffentlich mit rassistischen und sozialdarwinistischen Ressentiments angereichert wurde.

Das neoliberale Feindbild des schmarotzenden, faulen Arbeitslosen verschmolz hierbei mit dem rechten Wahnbild des ausländischen, islamischen Schmarotzers, dessen ökonomische Unterlegenheit quasi genetisch kodiert sei.

Der Übergang von neoliberaler zu rechtspopulistischer Hetze gegen die wirtschaftlich "Überflüssigen" kann in Deutschland anhand der öffentlichen Auseinandersetzungen bei der Durchsetzung der Agenda 2010 und während der Sarrazin-Debatte nachvollzogen werden.

Während die Legitimierung etwa der Hartz-IV-Arbeitsgesetze mit einer allgemeinen Polemik gegen "Sozialschmarotzer" und "Leistungsverweigerer" einherging, griff Sarrazin bereits auf rassistische und sozialdarwinistische Argumentationsmuster zurück, bei denen die Feindbilder des Sozialschmarotzers und des Ausländers verschmolzen, um das durch die Agendapolitik verursachte Elend zu rationalisieren.

Träger dieser ersten großen neurechten Hasswelle im Rahmen der "Sarrazin-Debatte" waren nicht etwa verarmte Bevölkerungsschichten, sondern die Mittelklasse als "Mitte" der Gesellschaft, die hier ihre Abstiegsängste nach dem Krisenausbruch in den Jahren 2007 bis 2009 in Hass und Ausgrenzungsreflexe transformierte. Der Begriff des Extremismus der Mitte ist folglich unabdingbar, um den Erfolg der Neuen Rechten und des Neo-Nationalismus als den Erben des Neoliberalismus zu verstehen.

Dies gilt auch für die weiteren Krisenschübe die nach der Sarrazin-Debatte, die ja in Reaktion auf Abstiegsängste infolge der Finanz- und Weltwirtschaftskrise entbrannte. Die Eurokrise, begleitet von massiver Hetze gegen die südeuropäischen Krisenopfer, die der damalige Finanzmister Schäuble einem drakonischen neoliberalen Spardiktat unterwarf, bildete den konkreten Impuls zur Formierung der AfD.

Neoliberaler Hass auf ökonomisch unterlegene Konkurrenten amalgamierte damals mit Neurechtem Kulturalismus und Rassismus, der sich gegen die in der Krisenkonkurrenz unterlegenen Südeuropäer richtete. Die Flüchtlingskrise, ausgelöst durch den krisenbedingten Zusammenbruch vieler Staaten der Peripherie, trug wiederum maßgeblich zur zunehmenden Faschisierung der AfD, sowie zur Ausbildung rechtsterroristischer Strukturen in- und außerhalb des deutschen Staatsapparates bei.

Perversion des Freiheitsbegriffs im Liberalismus

Letztendlich ist es aber die den Liberalismus seit seiner historischen Ausformung im 18. Jahrhundert prägende orwellsche Verzerrung der Idee von Freiheit, an die alter wie neuer Faschismus als eine terroristische Krisenform kapitalistischer Herrschaft anknüpfen können. Das, was das liberale Subjekt im Kern ausmacht, ist seine Fähigkeit, Verträge abzuschließen, um so auf den Markt als Marktsubjekt zu agieren.

Alle anderen liberalen Freiheiten leiten sich aus dieser Vertragsfreiheit ab. Freiheit im Liberalismus als Urform kapitalistischer Ideologie heißt letztendlich Marktfreiheit isolierter, in Konkurrenz befindlicher Marktsubjekte, also die Freiheit zum Kauf und Verkauf von Waren zwecks uferloser Akkumulation von Kapital.

Die Vertragsfreiheit ist älter als alle anderen "Freiheiten", derer sich das Bürgertum in Sonntagsreden gerne rühmt. Alle Insassen der kapitalistischen Tretmühle, vom Kapitalisten bis zum Tagelöhner, haben seit der gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung des Kapitalismus im 18. Jahrhundert das gleiche Recht, auf dem Markt Waren zu kaufen und zu verkaufen, um hierdurch die eigene Reproduktion zu sichern.

Da die meisten Menschen unterm Kapital lohnabhängig sind, also nichts anderes als ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt feilbieten können, wandelt sich die liberale Vertragsfreiheit in einem subjektlosen, marktvermittelten Zwang zum Selbstverkauf auf dem Arbeitsmarkt. Ohne die Realisierung des Vertragszwangs, ohne die Veräußerung der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt geht der Lohnabhängige in letzter Konsequenz aller Rechte verlustig, auch des Rechts auf Leben. Wer Nichts auf dem Markt zu verkaufen hat, der ist ein Nichts, der hat eigentlich sein Lebensrecht verwirkt.

Wie diese tolle liberale Vertragsfreiheit sich historisch mit ihren 16-Strunden-Schichten und ihrer massenhafte Kinderarbeit entfaltete, kann an zeitgenössischen Darstellungen, etwa der "Lage der arbeitenden Klasse in England" von Friedrich Engels, nachvollzogen werden. Wer nichts auf dem Markt verkaufen konnte, wessen Arbeitskraft nicht nachgefragt wurde, dem stand es frei, zu verhungern.

An eben diese seine ruhmreiche, liberale Vergangenheit entgrenzter Menschenschinderei knüpfte der Neoliberalismus in Reaktion auf ökonomische Stagnationsperioden der Stagflationsperiode ab den 1980ern an. "Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen". Das ist kein Nazispruch, sondern die vom SPD-Politiker Franz Müntefering artikulierte Logik, mit der die Hartz-IV-Arbeitsgesetze begründet worden sind, die - wie oben dargelegt - das sozialpolitische Fundament des Aufstiegs der Neuen Rechten legten.

Das schmierige, öffentlich kaum noch diskutierte Geheimnis der ehemaligen "rot-grünen" Koalition unter Schröder/Fischer besteht gerade darin, dass diese Parteien, die sich nun gerne als Hort des Antifaschismus gebärden, mit ihrer neoliberalen "Reformen" dem Faschismus des 21. Jahrhunderts in der Bundesrepublik den Weg ebneten.

Die Entrechtung all derjenigen Lohnabhängigen, die nicht mehr ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen können, geht bei Hartz-IV nicht nur bis zum Zwangsarbeitsregime, das ja auch die Nazis im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes praktizierten - auch das Recht auf Leben stand über lange Jahre zur Disposition bei all den Menschen, die den sadistischen, oftmals völlig willkürlichen Schikanen des Amts nicht nachkommen konnten oder wollten. In der Bundesrepublik als einem der reichsten Länder der Welt sind Menschen buchstäblich in den Hungertod getrieben worden, weil sie nicht fähig waren, sich auf den Markt zu verkaufen.

Fazit: Die krisenbedingten Erschütterungen der spätkapitalistischen Arbeitsgesellschaft - Immobilienblasen, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise - ließen in den vergangenen Dekaden deren liberale Fassade abblättern, zum Vorschein kommt der barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung.

Der ökonomisch Überflüssige wird entrechtet, in der Tendenz steht sein Lebensrecht zur Disposition. Sobald die perverse Pseudo-Freiheit, sich auf dem Markt feilbieten zu müssen, nicht mehr realisiert werden kann, werden alle anderen bürgerlichen Freiheiten zur Makulatur.