Von Bad Godesberg nach Caracas?

Die SPD will sich nächstes Jahr ein neues Grundsatzprogramm geben, Linkspartei. PDS und WASG auch

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Die Zeit der Flügelkämpfe in der SPD ist offenbar vorbei. Wenn die Genossen im kommenden Oktober auf dem Parteitag in Hamburg zusammenkommen, soll das dritte Programm der sozialdemokratischen Nachkriegsgeschichte verabschiedet werden. In großer Übereinstimmung habe die 80-köpfige Programmkommission bis zum letzten Sonntag an einem Entwurf gearbeitet, hieß es aus der Partei. Das Papier für eine Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert vollendet eine Entwicklung, die mit dem Godesberger Programm 1959 begonnen wurde. Rund fünf Jahrzehnte später ist die SPD in der politischen Mitte angekommen.

Sichtlich zufrieden zeigte sich der SPD-Vorsitzende Kurt Beck mit dem Verlauf der letzten Beratungen. Diese hätten ihm "richtiggehend Freude" bereitet, sagte der Pfälzer nach dem Treffen der Programmkommission. Schließlich, so fügte er an, habe es "kein Begehr" gegeben, "die Linie zu verändern".

Solche Harmonie in Programmfragen kannte man aus der SPD bislang nicht. Noch vor wenigen Jahren, vor dem Leipziger Parteitag im April 1998, hatte es harte Auseinandersetzungen um das Verhältnis zur eigenen politischen Geschichte geben. Auf Initiative von Oskar Lafontaine wurde dem rechten Flügel damals Einhalt geboten, als dieser auf eine Abkehr von Sozialismuskonzept drängte. So heißt es noch heute in dem gültigen Berliner Programm von 1989: "Die neue und bessere Ordnung (...) ist eine von Klassenschranken befreite Gesellschaft."

Von Bad Godesberg bis Hamburg

Dass diese Zielsetzung von sozialdemokratischen Realpolitikern entscheiden abgelehnt wird, zeigen die aktuellen Programmberatungen. Die SPD soll sich demnach künftig "Wachstum" und "technologischem Fortschritt" verpflichten. Während die Substitution der gesellschaftlichen und damit menschlichen Entwicklung durch das Primat der Wirtschaft in ersten Medienreaktionen als "Abkehr vom (...) Wachstumsskeptizismus" der Vergangenheit gefeiert wurde, bekennt sich die Partei nach wie vor zur "Idee des demokratischen Sozialismus, der unsere Geschichte geprägt hat". In der Geschichte sieht die Mehrheit von Kommission und Parteivorstand aber auch den Platz dieses Gesellschaftskonzeptes.

Denn das Bekenntnis zum Wachstum wird in dem aktuellen Entwurf von einer strategischen Hinwendung zum neoliberalen Globalisierungsmodell flankiert. Zwar finden sich in dem Dokument bisweilen noch Andeutungen auf eine notwendige Reglementierung von Wachstum, Kapitalströmen und Finanzmärkten. "Dennoch sind unsere wirtschaftlichen Chancen riesig", heißt es zuversichtlich, um mit nur drei Sätzen eine komplexe Debatte um Wesen und Gefahren des neoliberalen Globalisierung vom Tisch zu fegen:

Die Populisten leugnen veränderte Realitäten und klammern sich an überkommene nationalstaatliche Instrumente. Sie gaukeln den Menschen vor, ein Ausstieg aus der Wirklichkeit unserer Zeit sei möglich - verbauen ihnen aber gerade dadurch die Zukunft. (...) Wir können nicht aus der Globalisierung aussteigen, wie manche Links- und Rechtpopulisten vorgaukeln.

Programmentwurf der SPD

"Die deutsche Wirtschaft", so heißt es weiter, brauche "stabile und wachstumsfreundliche Rahmenbedingungen". Das Papier lässt an diesem Punkt zwei entscheidende Fragen offen: Was bedeutet Globalisierung? Und: Wer ist "die deutsche Wirtschaft"?

Das angestrebte Hamburger Programm vollendet eine Entwicklung, die mit 1959 in Bad Godesberg bei Bonn begonnen wurde und sich im Kern auf die Etablierung im kapitalistischen System reduzieren lässt. Dass die SPD sich dem System anpasst, statt auf das System gemäß der einstigen sozialdemokratischen Grundsätze von Gerechtigkeit und Solidarität korrigierend Einfluss zu nehmen, wird in einem weiteren zentralen Absatz deutlich. Angestrebt wird künftig der "vorsorgende Sozialstaat, der Chancen für ein selbstbestimmtes Leben schafft, gerechte Teilhabe und sozialen Aufstieg ermöglicht". Die Rolle der Regierung und ihrer Institutionen wird in diesem Konzept so weit wie möglich reduziert. Der Staat sorgt vor und schafft damit lediglich die Startbedingungen für einen Wettbewerb, in dem sich die Menschen alleine behaupten müssen.

Lob der FPD für den "Neuen Weg"

Die SPD zieht mit ihrem Programmentwurf erkennbar zur politischen Mitte und kommt der FDP entgegen.

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel in der "Berliner Zeitung"

Der FDP-Generalsekretär lobt die Sozialdemokraten für ihr neues Engagement für eine "solidarische Bürgergesellschaft, mehr Eigenverantwortung und mehr Wirtschaftswachstum". Solchen Beistand hatte es von den Liberalen schon einmal gegeben. Auch als der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder im Sommer 1999 gemeinsam mit seinem britischen Amtskollegen Anthony Blair ein gemeinsames Papier mit dem Titel "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" vorlegte, kam von der FDP Zustimmung. Die Kritik an am "traditionellen sozialdemokratischen Weg zur sozialen Gerechtigkeit" hätte von den Freien Demokraten nicht besser formuliert werden können, sagt der damalige Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag, Wolfgang Gerhard.

Widerspruch gegen diese Etablierung wurde - wenn auch ohne Konsequenzen - aus der Bewegung heraus formuliert. Im Mai 1999 hatten sich Wissenschaftler und Vertreter europäischer sozialdemokratischer Parteien auf einem Kongress der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mit den Konzepten des "Dritten Wegs" (Blair) und der "Neuen Mitte" (Schöder) befasst - und waren zu durchaus kritischen Schlüssen gekommen. Die italienische Referentin Felice Besostri verwies den britischen Soziologen Anthony Giddens, dem zufolge der "Dritte Weg" eine "reformistische Bewegung der Mitte" vertritt. Besostri erklärte auch, wie diese etablierte Sozialdemokratie als Teil des akzeptierten Wirtschaftssystems in Konflikt mit ihren reformistischen Zielen kommt. Sozialdemokratische Parteien seien heute eher "progressive Volksparteien" als "Klassenpartei" und müssten die real-existierenden Machtverhältnisse hinnehmen.

Auf dieser Weise können die Sozialdemokraten bei einem Wahlgang die Siegespalme davontragen. Aber dann haben sie auf dem harten Boden der Arbeitslosigkeitsbekämpfung - ganz konkret, ohne Abweichungen vom Maastrichts-Vertrag - ihren Weg zu suchen. Das ist leichter gesagt als getan. Wäre das der "Dritte Weg"? Gefunden hat ihn bis dahin noch niemand.

Felice Besostri

Die "bereinigte" SPD und der Blick nach Lateinamerika

Dass die Reform des SPD-Programms diesen Unklarheiten und Risiken zum Trotz bislang ohne größere Konflikte verlief und wohl ebenso harmonisch beendet werden wird, ist mit dem Ausscheiden der gewerkschaftlichen Linken zu erklären. Nach der Gründung der Partei "Arbeit und Soziale Gerechtigkeit - Die Wahlalternative" (WASG) im Januar 2005 hat nicht nur Oskar Lafontaine das Parteibuch gewechselt. Ihm folgte derjenige Teil der SPD, der sich, zum großen Teil aus der aktiven Gewerkschaftspolitik heraus, mit den Zielen der klassischen Sozialdemokratie identifizierte.

Der Unterschied zwischen den ehemals parteiinternen Lagern wird im Vergleich der Programmdebatten deutlich. Während die SPD die "Idee des demokratischen Sozialismus" der eigenen Geschichte zuordnet, sehen WASG und Linkspartei.PDS den "demokratischen Sozialismus" in der Zukunft. Nach der geplanten Fusion beider Parteien im März 2007 soll dieses Ziel jedenfalls im gemeinsamen Programm stehen. Beide heben sich dabei nicht nur in der Formulierung von den Sozialdemokraten ab, sondern auch in den konkreten politischen Absichtserklärungen: Unternehmen sollen verstaatlicht werden können, wenn ihre Machtfülle die verfassungsmäßige Ordnung bedroht, heißt es aus den Parteien, die sich beide auf das Vorbild Lateinamerikas berufen.

In der Programmdebatte von WASG und Linkspartei.PDS klingt damit ein Bezug an, der in den kommenden Jahren in Europa stärker Beachtung finden könnte: Die soziale Reformpolitik von Venezuela, Bolivien und anderen Staaten der Region ist immerhin schon heute Maßstab für außerparlamentarische soziale Bewegungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Dass der strukturelle Umverteilungsprozess auf der Basis einer neuen Wirtschaftspolitik nun auch in den Industrienationen von Parteien aufgegriffen wird, hat zwei Ursachen: Zum einen greift etwa die venezolanische Regierung aktiv in das Wirtschaftsgeschehen ein, um es zugunsten der marginalisierten Schichten zu verändern. Mittel dazu sind die Vergabe von Mikrokrediten, die Hilfe für Kooperativen und andere alternative Wirtschaftsformen und die Schaffung eines adäquaten rechtlichen Rahmens. Zum anderen setzten die Staaten mit einer Linksregierung in Südamerika auf eine neue Außenpolitik, die sich unabhängig von dem Einfluss der USA und der Bretton-Woods-Institutionen entwickelt.

Auch wenn diese Politik laut SPD-Programmentwurf - übereinstimmend mit dem dominierenden politischen Diskurs in Medien und Wissenschaft - als "linkspopulistisch" abgetan wird, zeichnet sich eine Meinungswandel in der parlamentarischen Linken ab. Nicht Bad Godesberg mit der politischen Öffnung nach rechts könnte künftig das Paradigma sein. Sondern auch Caracas, mit einer neuen regulierenden Wirtschaftspolitik.