Von Boko Haram in die Fänge der Mafia

Seite 2: Die Ware Frau

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Voraussetzung dafür, dass Menschen Opfer von Menschenhändlern werden, sind in den häufigsten Fällen miserable Lebensbedingungen. Das gilt nicht nur für Opfer aus dem Ausland: Gewalterfahrungen, Armut und Drogenabhängigkeit sind nicht selten die Ursache für den Einstieg in die Prostitution.

"Aber Frauenhandel betrifft nicht nur Migrantinnen: Rund ein Viertel der Betroffenen in Deutschland sind Deutsche. Die Betroffenen verlieren durch die aufgezwungenen Arbeits- und Lebensbedingungen, die oft von extremer Gewalt geprägt sind, jede Möglichkeit, über ihr Leben selbst zu bestimmen", stellt die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes (TdF) klar .

Wie so ein Weg in die Prostitution aussieht, beschreibt Huschke Mau vom Verein Sisters, der sich für ein Sexkauf-Verbot nach dem nordischen Modell einsetzt, in einem SZ-Artikel: Ein Elternhaus, in dem der Vater brutale Gewalt gegen die ganze Familie ausübte. Aus Angst vor Vergewaltigung floh die Tochter mit 17 aus dem Elternhaus und wandte sich an das Jugendamt.

Diese versuchten zu vermitteln, die Eltern verstießen sie jedoch. Das Ende vom Lied: Huschke Mau stand ganz allein auf der Welt, ihr fehlten sämtliche Dokumente, deren Herausgabe die Eltern verweigerten, ebenso wie für die damals noch Minderjährige wichtige Unterschriften, damit sie z.B. Sozialhilfe beantragen konnte.

Die junge Frau geriet an einen Polizeibeamten, der sie auf den Strich schickte. Zehn Jahre lang, bis sie aus eigener Kraft den Ausstieg schaffte. Ertragen, so schreibt sie, hat sie das alles nur unter Drogen. So dass sie bei ihrem Ausstieg nicht nur gegen das Stigma "Hure" ankämpfen musste, sondern auch gegen ihre Drogensucht .

Das sogenannte Nordische Modell wurde 1999 nach intensiven Recherchen von schwedischen Expertinnen und Experten im Rotlicht-Milieu eingeführt. Grob zusammengefasst betrachtet es Prostitution grundsätzlich als Menschenrechtsverletzung, stellt die Freier unter Strafe und setzt auf freiwillige Ausstiegsangebote bei den Prostituierten. In insgesamt 6 weiteren Ländern wurde dieses Modell inzwischen übernommen.

Flucht als Risiko sexueller Ausbeutung

Wenn die Betroffenen im Ausland unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angelockt, verschleppt oder ihren Familien abgekauft werden, gelten sie ganz klassisch als Opfer von Menschenhändlern. In der Prostitution gilt das vor allem für Frauen, aber auch für Trans-Personen und sehr junge Männer.

Im globalen Maßstab sind die reichen Länder des Nordens und des Westens die Nutznießer, werden afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Staaten häufig als Herkunftsländer der Opfer genannt. Wie die Zeit 2007 schrieb: "Den Rohstoff liefern meist die Armen, die Absatzmärkte sind oft die Länder der Reichen." Die Rede ist vom "Rohstoff" Mensch, also der Ware, mit der gehandelt wird.

60.000 bis 80.000 Euro abarbeiten

Neben Armut gilt Flucht als eines der größten Risiken für Frauen, aber auch für Kinder, Jugendliche und sehr junge Männer, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden und Menschenhändlern in die Hände zu fallen, deren Leistungen sie mit ihrem Körper zahlen müssen. Und von denen sie in ein völlig fremdes Land in die Prostitution verschoben werden. Dort werden insbesondere den Frauen die Papiere abgenommen, und ihnen horrende Rechnungen für die Leistungen bezüglich der Flucht präsentiert, die sie jahrelang zu Sklavinnen ihrer Zuhälter machen.

Doch der Schuldenberg wird nicht unbedingt kleiner, sondern in vielen Fällen wächst er. Denn die Frauen müssen etwa für die Wohnungen oder die Zimmer, in denen zu arbeiten und zu leben sie gezwungen sind, horrende Summen zahlen. Ihnen wird Geld abgenommen für Kleidung, Körperpflege und Kosmetik, und für persönlichen Schutz, der häufig darin besteht, dass ein Zuhälter sich das Recht auf gnadenlose Ausbeutung ihrer Person sichert.

Dass eine Frau als Hure reich wird, ist ein Gerücht. Ich habe zwar immer 120 € für eine Stunde genommen, was sich viel anhört, wenn man von ein paar Freiern am Tag ausgeht und das auf den Monat hochrechnet. So funktioniert das aber nicht.

Die Hälfte bekommt schon mal der Wirtschafter oder Vermieter oder wie immer sich der Zuhälter nennt. Der nächste große Betrag geht für Drogen drauf. Ich habe in zehn Jahren im Milieu keine Prostituierte kennengelernt, die nicht gesoffen, gekifft oder gekokst hat.

Und dann sitzen die Huren tagein, tagaus im Bordell und schaffen an. Sie haben also keine Zeit, einzukaufen, zu kochen, zum Friseur zu gehen oder sonstwas. Das Essen kommt vom Lieferservice, Klamotten werden bestellt, die Friseurin kommt in den Puff. Auf diese Weise ist das alles viel teurer, als wenn man es über normale Wege besorgt.

Huschke Mau

Der Wiener Zeitung erklärt Expertin Reiterer,, wie die Schlepperei in Nigeria funktioniert: "Den Familien wird erzählt, dass ihre Töchter als Babysitter oder im Computerladen arbeiten können. Selbst wenn die jungen Frauen ahnen, dass sie als Prostituierte arbeiten werden, haben sie noch keine Vorstellungen, wie schlecht die Bedingungen hier wirklich sind." Für den Transport würden in Nigeria 45.000 € veranschlagt.

Im Endeffekt seien es 60.000 bis 80.000 €, die die Frauen hier abarbeiten müssen, da sie auch Essen, Kleidung und die Miete zahlen müssen. "Das erfahren sie aber erst in Europa", sagt Reiterer. In Europa werde ihnen dann der Pass abgenommen, sie würden eingeschüchtert und isoliert .

Die nigerianischen Frauen sind dabei ein Beispiel von vielen. Allerdings ist besonders bitter, dass viele von ihnen schon als junges Mädchen sexualisierter Gewalt durch die Terror-Gruppe Boko Haram ausgesetzt waren, deren Herrschaft sie entkommen konnten, um dann, statt mit der erhofften Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen ein sorgenfreies Leben aufbauen zu können, irgendwo in Europa auf dem Straßenstrich, in Laufhäusern und Wohnungsbordellen zu landen.

Gewaltexzesse in Nigeria und die Black Axe in Europa

Besonders bitter ist das auch deswegen, weil die Weltöffentlichkeit weder von den Gewaltexzessen, denen Menschen in Nigeria ausgesetzt sind, Notiz nimmt noch von der Ausbreitung der islamischen Terrorgruppe Boko Haram in weite Teile des Landes und über dessen Grenzen hinaus noch von den Folgen, die durch die gnadenlose Ausbeutung der Ressourcen wie z.B. die Ölförderung entstehen.

Auch die gewalttätigen Banden, die aus dem verzweifelten Kampf der Bevölkerung gegen diese Zerstörung aus dem Boden sprießen, nimmt man außerhalb des Landes kaum zur Kenntnis und vom Schicksal der Frauen, die in Europa in der Sex-Industrie brutal ausgebeutet werden, wissen auch nur wenige.

Die Peiniger sind Mafia-Strukturen wie z.B. die Bruderschaft "Black Axe" (Schwarze Axt), die sich in Europa insbesondere in Italien etablieren konnten und neben Menschenhandel mit Drogenhandel, Produktpiraterie und Internetbetrug (Nigeria-Connection) Unsummen verdienen. In der Report-Sendung schildert Geri Ferrara, ein Anti-Mafia-Staatsanwalt aus Palermo, dass die Frauen in Italien zur Prostitution gezwungen, aber auch ins Ausland verbracht werden, etwa nach Holland oder auch nach Deutschland.

Im November 2016 gelang es, 26 Mitglieder der Schwarzen Axt zu verhaften. Das konnte gelingen, weil betroffene Frauen, die "entzaubert" werden konnten, gegen sie aussagten. In dem Beitrag ist eine nigerianische Frau zu sehen, die mit christlichen Ritualen versucht, die Frauen von ihrem Fluch zu befreien.

Eine solche Behandlung könne Wochen dauern, sagt sie. Trotzdem sei sie nicht immer wirksam. Nicht selten träfe sie Frauen, von denen sie gedacht habe, sie seien befreit, dann doch wieder an den einschlägigen Orten an. Der Druck, der auf die Frauen ausgeübt wird, und die schier ausweglose Lage in dem von Armut und Gewalt geprägten Italien, lässt ihnen häufig keine andere Wahl.