Von Boko Haram in die Fänge der Mafia
Seite 4: Mafia 2.0: Manager statt brutale Killer
- Von Boko Haram in die Fänge der Mafia
- Die Ware Frau
- Die politische Situation in Nigeria
- Mafia 2.0: Manager statt brutale Killer
- Auf einer Seite lesen
Doch auch wenn unterdessen viel über Boko Haram und deren brutaler Siegeszug, der sich nicht mehr "nur" auf Nigeria beschränkt, bekannt ist, geholfen wird den Menschen in Nigeria nicht. Die politisch instabile Lage in dem Land treibt viele Menschen zur Flucht. Viele nutzen willig jeden Strohhalm, der sich ihnen bietet, auch wenn dieser schon ziemlich faserig sein sollte. Und genau das machen sich die mafiösen Strukturen zunutze.
Trotzdem scheint es doch verwunderlich, dass ausgerechnet in Italien eine neue Mafia-Struktur Fuß fassen konnte. Das Land scheint fest in der Hand der Mafia - verfeindeten Clans zumal. Schließlich assoziieren wir blutige Bandenkriege und brutale Bandenmorde mit der italienischen Mafia.
Der deutsch-italienischen Journalistin Petra Reski verdanken wir tiefe Einblicke in die Mafia-Strukturen, insbesondere, was die Verbindungen der italienischen Mafia nach Deutschland angeht. Und wie die Mafia, um in der globalisierten Welt bestehen zu können, sich vom Killer-Trupp in ein modernes Management gewandelt hat.
Camorra, Cosa Nostra und die 'Ndrangheta
In Italien gibt es drei verschiedene Mafia-Strukturen, die unterschiedlich organisiert sind: Die Camorra in Apulien, die Cosa Nostra in Sizilien und die 'Ndrangheta in Kalabrien. Während sie früher offen brutale Bandenkriege untereinander und gegeneinander führten, haben sie inzwischen begriffen, dass ihre Geschäfte am problemlosesten betreiben können, wenn sie auf Kooperation statt auf Krieg setzen.
Das bedeutet, dass die Regionen untereinander aufgeteilt wurden und auch die Geschäftsbereiche. Alle drei Strukturen verdienen ihr Geld primär durch Schutzgelderpressung und Drogenhandel. Die 'Ndrangheta ist stark international ausgerichtet.
Drogen bezieht sie über Netzwerke aus Südamerika. Absatzmärkte finden sich in Europa, aber über Kooperationen mit der Russenmafia auch in Russland. Eine der Haupt-Zentralen der 'Ndrangheta außerhalb Italiens ist Erfurt. Insgesamt betreibt die Organisation laut Reski etwa 200 Pizzerien in Deutschland.
Durch Investitionen, z.B. in gastronomische Betriebe, aber auch Gebäude, die für die gewerbliche Vermietung bestimmt sind, wird das schmutzige Mafia-Geld gewaschen. Während in Italien Investoren nachweisen müssen, woher das Geld, oft schwindelerregende Summen, stammt, reicht es in Deutschland, dass es da ist.
Laut dem Publizisten Jürgen Roth wäscht die Russenmafia ihr schmutziges Geld z. B. in der Umgebung von Baden-Baden. Im Kasino selbst, aber auch durch Investitionen in Immobilien. Das zeigt: Auch hier wird der Markt untereinander aufgeteilt. Kooperation statt Krieg.
Das klappt nicht immer, und vor allem, wenn neue Strukturen, wie aktuell etwa armenische Mafia-Gruppen, auftauchen und ein Stück vom Kuchen beanspruchen, dann gibt es oftmals Tote. Solche Gewaltakte werden von den "alteingesessenen" Akteuren allerdings als störend empfunden. Denn ihnen ist nicht daran gelegen, dass sie den Behörden unangenehm auffallen.
Genauso funktioniert das auch in Italien. Merkwürdigerweise ist die italienische Mafia in aller Regel nicht in die Prostitution involviert (bis auf wenige Ausnahmen: So eröffnete die 'Ndrangheta schon bald nach der Wende ein Bordell in Erfurt). Eine wirkliche Erklärung dafür gibt es nicht. Reski und andere gehen davon aus, dass das mit der stark katholisch geprägten Moral der Mafiosi zu tun haben könnte.
Das bedeutet aber, dass dieser Markt quasi "frei" ist. Und da kommen die Nigerianer ins Spiel. Die nicht nur fordern, und Ansprüche stellen, sondern außer Frauen etwas zu bieten haben, von dem auch die italienischen Mafia-Strukturen profitieren können: Drogen. Dazu sind die nigerianischen Banden stark in Produktpiraterie involviert.
Inzwischen ist bekannt, dass ca. 90% der Prostituierten in Palermo Nigerianerinnen, bzw. über nigerianische Banden verschleppte afrikanische Frauen sind. Laut Kreutzer und Milborn stellen sie in Turin "seit Jahren die Mehrheit der Straßenprostituierten."
Ein Schicksal von vielen
Menschen auf der Flucht sind hilflos und abhängig und häufig der Willkür von Behörden und auch Hilfsorganisationen ausgesetzt. Auch in den internationalen Flüchtlingscamps. Philip Obaji Jr., der Gründer der Menschenrechtsorganisation 1 Game, die sich für das Recht auf Bildung für nigerianische Kinder einsetzt, beschreibt ein solches Schicksal in einem Artikel in The Daily Beast .
Sarah, so nennt er die junge Frau, über die er schreibt, stammt aus der Region Borno. Dort hat Boko Haram in Anlehnung an den IS ein Kalifat ausgerufen. Wie viele andere auch wurde Sarah schon in frühester Jugend Opfer sexualisierter Gewalt durch die afrikanischen Dschihadisten.
Als sie 17 Jahre alt ist, trifft sie auf eine Frau, die ihr einen Job in Italien verspricht. Sarah hatte schon davon gehört, dass viele Frauen, die nach Italien gehen, dort zur Prostitution gezwungen werden. Aber ein so tolles Mädchen wie Sarah doch nicht, sagte die Frau, vermutlich eine "Madame". Für sie sei es doch keine Schwierigkeit, einen guten Job zu finden.
Sarah wollte ihr das glauben. Denn in dem Flüchtlingslager, in dem sie lebte, seitdem sie Boko Haram entkommen ist, wurden ihr sexuelle Handlungen für die Hilfsleistungen abverlangt. Ihr und vielen anderen Frauen und Mädchen. Schätzungen zufolge werden 66% der Frauen, die aus der Boko-Haram-Region geflohen sind und in Flüchtlingscamp Unterkunft finden, von den Mitarbeitern zu sexuellen Handlungen als Gegenleistung für Hilfsgüter gezwungen.
Sarah fing an, sich für Medizin und etwas Geld zu prostituieren. Damit wollte sie die Reise nach Europa bezahlen. Sollte Sarah sich entschließen, sich tatsächlich auf die Reise nach Italien zu machen, so sei sie eine von ca. 11.000 Frauen, die sich in den vergangenen 13 Monaten auf den Weg gemacht hätten, schreibt Obaji Jr.: Etwa 80% von ihnen würden zur Prostitution gezwungen, und müssten so einen großen Schuldenberg abarbeiten.
Die Frauen würden zunächst nach Benin City gebracht, dort werde das Juju-Ritual vollzogen. Anschließend würden sie auf einen Höllen-Tripp durch die Sahara geschickt, mit Pick Ups, aber weite Strecken auch zu Fuß.
Jede Leistung wird in Rechnung gestellt, so dass der Schuldenberg wächst und wächst oder muss von den Frauen und Mädchen mit sexuellen Handlungen bezahlt werden. In dem Artikel ist die Rede davon, dass 66% der Frauen, die Boko Haram entkommen seien, in einem Flüchtlingscamp im Nordosten des Landes durch Mitarbeiter zu sexuellen Handlungen gezwungen würden.
Während bislang die Frauen vorwiegend aus der Region um Benin City kämen, sei Sarahs Geschichte ein Hinweis darauf, dass die Menschenhändlerringe inzwischen ein System etabliert hätten, dem auch die Frauen auf dem Boko-Haram-Kalifat zum Opfer fielen. Das International Centre for Investigative Reporting (ICIR) mit Sitz in der nigerianischen Hauptstadt Abuja habe bereits 2015 darauf hingewiesen, dass Frauen und Mädchen, die vor Boko Haram geflohen seien, zunehmend Opfer sexualisierter Gewalt in den Camps und der Prostitution würden.
Klares BGH-Urteil
Diese Frauen landen auch in Deutschland: auf dem Straßenstrich, in Laufhäusern oder in Wohnungsbordellen. Gerade letztere sind sehr beliebt, um Prostitution zu verschleiern. Die Betreiber, u.a. Ex-Prostituierte, die den einzigen im Milieu möglichen Aufstieg von der Hure zur Zuhälterin geschafft haben, treten als Mieterinnen auf und vermieten zeitweise unter.
So werden die betroffenen Frauen und Mädchen, vor allem Ausländerinnen, von Stadt zu Stadt verschoben. Das verhindert, dass sie irgendwo Kontakte knüpfen können. Gegenwärtig sind das in Deutschland vorwiegend Frauen aus Osteuropa. Wie viele? Niemand weiß es. Die Schätzungen liegen zwischen 200 - und 400.000.
Reiterer erzählt in dem Buch "Ware Frau", dass sie nicht stutzig wurde, als sie bei ihrem Mann gefälschte Pässe, viele davon auf ihren Namen, fand. Viele Menschen in Afrika suchen nach legalen Gelegenheiten, um nach Europa kommen zu können. Ein Pass von Menschen mit geregeltem Aufenthaltsstatus sei ein absoluter Glücksfall. Da sie aus eigener Erfahrung weiß, wie hart das Leben in Nigeria ist, fand sie es nicht verwerflich, den Landsleuten zur Flucht zu verhelfen.
Solche gefälschten Pässe sind nicht nur zur Einreise, sondern auch zur Organisation des Lebens der in die Prostitution gezwungen Frauen nützlich. Nur ihnen selbst werden sie nicht ausgehändigt.
Bundesdeutsche Gerichte erkennen den Status "Opfer von Menschenhandel" für die nigerianischen Frauen inzwischen an. Das Landgericht Berlin verurteilte 2014 einen Mann in einem entsprechenden Fall wegen Menschenhandels. Dieser ging gegen das Urteil in Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Doch der BGH folgte dem Berliner Urteil.
Vor allem der auch in der Urteilsbegründung erwähnte Voodoo-Kult hält die Betroffenen davon ab, sich den zuständigen Behörden anzuvertrauen. Reiterer ist deshalb auf die Idee gekommen, die Frauen einem Gegenzauber zu unterziehen. Dafür konnte sie einige katholische Priester gewinnen, die sich auf diesen "Exorzismus" einlassen. Bei der Zeremonie wedeln diese vor allem mit viel Weihwasser. Bei einigen Betroffenen, so Reiterer habe das tatsächlich gewirkt.
Eine sicher ungewöhnliche Methode. Aber solange niemand zu Schaden kommt, wenn es der Wahrheitsfindung dient, sprich, dazu beiträgt, dass die Hintermänner und auch -Frauen gezielt strafrechtlich verfolgt werden können und vor allem die betroffenen Frauen von diesem Fluch befreit, wäre vielen von ihnen diese harmlose Form des "Exorzismus" zu wünschen.
Literatur
May Kreutzer, Corinna Milborn, mit Gastbeiträgen u.a. von Inge Bell: Die Ware Frau, Salzburg, 2008
Petra Reski: Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern, München 2009
Petra Reski: Von Karmen nach Corleone, Hamburg 2012