Von Boko Haram in die Fänge der Mafia
Seite 3: Die politische Situation in Nigeria
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Ein destabilisiertes Land hat für die Bevölkerung die Destabilisierung ihrer Lebensverhältnisse, häufig auch die Zunahme von Gewalt, mitunter sogar Bürgerkrieg zur Folge. Korruption, die Ausbreitung gewalttätiger Banden, ökologische Probleme, Armut und Verzweiflung: Nigeria bietet alles, was für eine massenhafte Flucht erforderlich ist.
Nigeria ist mit einer Bevölkerung von ca. 186 Mio. Menschen das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Afrikas. Die größte Stadt, Lagos, hat geschätzt 17 - 18 Millionen Einwohner. Insgesamt werden in Nigeria 514 Sprachen und Dialekte gesprochen. Amtssprachen sind neben der Haupt-, der "Kolonialistensprache" Englisch, Igbo, Yoruba und Haussa. Die Deutsche Welle strahlt in dieser Region ein Programm in Haussa aus.
Mehr als die Hälfte der Frauen sprechen allerdings kein Englisch. Bei Männern liegt die Quote bei etwas mehr als einem Drittel. Geschätzt die Hälfte der Bevölkerung ist muslimischen, 40 bis 46 Prozent christlichen Glaubens. Der Rest praktiziert traditionelle afrikanische Religionen. Ahnenkult und Fetischismus spielt jedoch bei allen eine große Rolle. Deshalb wirkt der von Reiterer angesprochene Voodoo-Zauber auch so nachhaltig.
Etwa 50% aller Kinder besuchen eine Schule. Muslimische Schulsysteme haben zunehmend an Bedeutung gewonnen. Teilweise gibt es auch Schulen, die westliche und islamische Bildung vermischen.
1861 begann die Kolonialisierung durch Großbritannien, die erst 100 Jahre später, im Jahre 1960 endete. Die folgenden zivilen Regierungen zeichneten sich durch Korruption aus, insbesondere durch den Ausverkauf der Ölvorkommen an internationale Konzerne. Nigeria wurde der größte Öl-Exporteur Afrikas. Im November 2005 schrieb der Spiegel: "Über 280 Milliarden Petrodollar soll das schwarze Gold in den vergangenen 30 Jahren allein Nigeria eingebracht haben ..."
Davon sah die Bevölkerung indes nichts, sondern die Öl-Dollars verschwanden in den Taschen der korrupten Politiker. Die Menschen im Niger-Delta mussten mit ansehen, wie die Ölbohrungen und die Förderung ihre Lebensgrundlage zerstörte. Das schürte den Widerstand.
Ein Diktator, Shell und Sabotage
Im November 1993 putschte sich Diktator Sani Abacha an die Macht, der ein brutales Regime führte und Oppositionelle gnadenlos verfolgen und ermorden ließ. Weltweite Aufmerksamkeit erregte 1995 die Hinrichtung der "Ogoni Nine", insbesondere der Name Ken Saro-Wiwa ist vielen in Erinnerung geblieben. Der Widerstand nahm durchaus militante Formen an und wurde zum ernstzunehmenden ökonomischen Problem für die Konzerne. Laut Spiegel verlor Shell jährlich fast eine Milliarde Dollar durch Öl, das abgezapft wurde, oder durch Sabotage.
Das Magazin berichtete 2005 von rund 130 Banden, die sich in dem Zusammenhang gebildet hätten. Diese Banden beließen es allerdings nicht bei der Sabotage, sondern wendeten Gewalt gegen die Beschäftigten von Shell an. Laut dem Hamburger Nachrichtenmagazin wurden "12 Mitarbeiter ermordet, zwischen 50 und 70 entführt und insgesamt 314 kriminelle Zwischenfälle gezählt".
Die Sabotageakte fanden größtenteils unter Billigung der Bevölkerung teil. Doch die aktiv Beteiligten verfolgten nicht unbedingt hehre politische Ziele, sondern waren teilweise ganz gemeine Diebesbanden. Das wiederum hatte Auswirkungen auf die Sicherheit der Bevölkerung.
Abacha starb 1998, im Jahre 1999 wurde der ehemalige Militärpräsident Olusegun Obasanjo als erster Präsident der IV. Republik vereidigt und 2003 in umstrittenen Wahlen für eine zweite Amtszeit bestätigt. Auch Obasanjo erfreute sich nicht eben größter Beliebtheit. Trotz halbherziger Demokratieversuche ist das Land bis heute von starken inneren Unruhen gekennzeichnet.
Die Destabilisierung des Landes und die Folgen für die Frauen
Wie Kreutzer und Milborn schreiben, bekommen Frauen und Mädchen die Folgen dieser Destabilisierung am härtesten zu spüren: Vor allem sind es Mädchen, die nicht mehr zur Schule geschickt werden. "Frauenrechte werden sukzessive abgebaut", schreiben sie. Auch die Stellung der Frau in den Familien wird zunehmend die einer Dienerin.
Joana Adesuwa Reiterer erzählte den Autorinnen, dass ihr Mann, der Menschenhändler, ihr befahl, ihm sein Essen auf Knien zu servieren. Um vor den anwesenden "Geschäftspartnern" als ganzer Kerl dazustehen. Ihr selbst sei eine solche unwürdige Behandlung fremd gewesen, so Reiter, aber sie wisse, dass solche Art von Misshandlungen in Nigeria um sich greifen.
Das geschah, lange bevor Boko Haram sich landesweit und über die Grenzen Nigerias hinaus ausbreiten konnte. Die Autorinnen beschreiben in dem Buch, dass Menschenhandel in Nigeria weit verbreitet ist. Schon lange werden nigerianische Frauen innerhalb Afrikas als Prostituierte verschoben. Zunehmend allerdings ins Ausland, nach Italien, aber auch nach Venezuela. Dazu wurde die alte Sklavenhandelsroute, in der die heutige nigerianische Großstadt Benin City als Hafenstadt eine wesentliche Rolle spielte, wieder reaktiviert.
Beschrieben wird zudem eine besonders perfide Form von Kinderhandel: Diese werden den Familien mit falschen Versprechen abgekauft, in die Nachbarländer gebracht, dort vor Autos gestoßen, in der Hoffnung, dass sie den Unfall nicht überleben, und den Autofahrern ein sogenanntes "Blutgeld" abverlangt werden könne.
Wie Kreutzer und Milborn schreiben, werden diese Taten vorwiegend von Frauen ausgeübt. Auch in den Frauen-Menschenhandel nach Europa sind viele Frauen involviert. Als "Madame" wird ihnen die Beaufsichtigung der Mädchen und Frauen, die in der Prostitution ausgebeutet werden, zuteil. Häufig sind es Frauen, die selbst verschleppt und als Prostituierte ausgebeutet wurden, und die, nachdem sie zu alt für den Job wurden, zur "Madame" aufstiegen.
Boko Haram breitet sich aus
Als ob das alles nicht reichen würde, machte sich die islamische Terrorgruppe Boko Haram breit. Der Name entstammt der Sprache der Haussa, und bedeutet übersetzt "Bücher verboten". Was so viel heißen soll wie "westliche Bildung verboten". Auch wird eine Beteiligung an Wahlen abgelehnt.
Bekannt wurde die Terrormiliz durch die Errichtung des Trainingslagers "Afghanistan" an der Grenze zwischen Niger und Nigeria. Der Name sollte die Verbundenheit mit den Taliban ausdrücken. 2015 hat sich Boko Haram allerdings dem Islamischen Staat (IS) angeschlossen. Im Westen wurde die Terrormiliz ein Begriff, nachdem sie im Frühjahr 2014 etwa 300 christliche Mädchen verschleppte.
195 von ihnen werden bis heute vermisst. Die Initiative #BringBackOurGirls (Bringt Unsere Mädchen Zurück) fordert, sie nach 1064 Tagen endlich zu befreien. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist. Vielleicht gehören auch einige von ihnen zu den nach Italien verbrachten Nigerianerinnen. Weil sie möglicherweise den falschen "Helfern" in die Hände fielen.
Doch auch schon vorher verübte sie zahlreiche Anschläge und Massaker, z.B. am 2. Oktober 2012, wo in einem Studentenwohnheim 40 vorwiegend junge Menschen getötet wurden. Oder am 5./6. Juli 2013 bei einem Überfall auf ein Internat mit 42 Toten. Der Islam-Experte Hamed Abdel-Samad spricht von geschätzt 10.000 Toten, die auf das Konto der Terrormiliz gehen.
Im Herbst 2014 hat Boko Haram ein eigenes Kalifat im Bundesstaat Borno ausgerufen. "In Nordnigeria hat es immer Islamisten gegeben", so Abdel-Samad: http://www.zeit.de/2014/39/islam-religion-krieg/komplettansicht, "aber Boko Haram ist anders, sie haben Zellen überall im Lande. 280.000 Mitglieder sollen es sein".
Im August 2012 kam es zur Festnahme eines Mitarbeiters der Einwanderungsbehörde, dem Zusammenarbeit mit Boko Haram nachgewiesen werden konnte. Durch dessen Aussage gelang es, weitere Regierungsarbeiter, die ebenfalls mit der Terrorgruppe zusammen arbeiten, dingfest zu machen.