Von Enten, Krüppeln und Helden
Im Gaza-Streifen leben mehr als 8000 behinderte junge Palästinenser, die durch Schüsse israelischer Scharfschützen zu Invaliden wurden, viele von ihnen beinamputiert. Ein israelischer Journalist sprach mit den Schützen. Er traf auf ein geistig-moralisches Desaster
Ende Mai 2010. Spezialeinheiten der israelischen Armee kapern sechs Schiffe in internationalen Gewässern vor Gaza mit dem Resultat: neun Tote, zum Teil in den Rücken geschossen. Die internationale, mit türkischen, griechisch-schwedischen und amerikanischen Schiffen bestückte sogenannte "Gaza Freedom Flotilla" war mit Hilfslieferungen unterwegs nach Gaza, um dorthin dringend benötigte und von Israel boykottierte Güter zu bringen, unter anderem: Medikamente, Wasseraufbereitungsanlagen, Zement zum Hausbau, rund hundert Rollstühle für Behinderte, vor allem für Kinder. Tage später gehen Fotos um die Welt, die die von der IDF (Israel Defense Forces) zerstörten Rollstühle im israelischen Hafen Ashdod zeigen.
Anfang März 2020. Der israelische Journalist Hilo Glazer veröffentlicht in der Zeitung "Haaretz", dem einzig verbliebenen liberalen Blatt in Israel, einen Artikel, der sich mit Scharfschützen der IDF beschäftigt. Titel: "42 knees in one day: Israeli snipers open up about shooting Gaza protesters".
In Interviews mit hauptsächlich vor Gaza stationierten Soldaten fördert Glazer einen haarsträubenden Sportsgeist der "Helden" einer selbsternannten "Most Moral Army of the World" zutage: "Entenschießen". Entenschießen? Tatsächlich handelt es sich dabei um gezielte Schüsse auf die Beine und Kniepartien von palästinensischen Demonstranten oder einfach Menschen, die am Gaza-Zaun stehen, oder solchen, die man als gefährlich einstuft.
Was Hilo Glazer in den anonym gehaltenen Interviews besonders herausarbeitet, ist die erschreckende Normalität eines angeblich so selbstverteidigenden, militärischen Handwerks, oder, wie es der in Dänemark lebende israelische Musiker und Autor Jonathan Ofir charakterisiert: die "Pornografie der Gewalt". Die IDF-Soldaten erzählen ganz unbefangen von ihren Heldentaten, manche prahlen sogar ganz offen mit ihren "Erfolgen beim Entenschießen", einem Wettbewerb für Knieschüsse.
Soldat: "Ich habe die Hülse von jedem Schuss, den ich abgefeuert habe, (…) in meinem Zimmer. Dann muss ich nicht schätzen, denn ich weiß, es sind eindeutig 52 Treffer".
Hilo Glazer: "Sind 52 viel?"
Soldat: "Ich habe noch nicht wirklich drüber nachgedacht. Es sind keine Hunderte von Liquidationen wie im Film American Sniper: Wir reden über Knie. Ich nehme es nicht auf die leichte Schulter, ich habe einen Menschen angeschossen, aber trotzdem ..."
Hilo Glazer: "Wo stehen Sie im Vergleich zu anderen, die in Ihrem Bataillon gedient haben?"
Soldat: "Was die Treffer anbelangt, habe ich die meisten. In meinem Bataillon sagten sie immer: 'Seht, hier kommt der Killer.' Als ich vom Einsatz zurückkam, fragten sie mich: 'Na, wie viele sind es heute?' Sie müssen verstehen, dass Knie, bevor wir auftauchten, am schwersten zu zerstören waren. Es gab eine Geschichte über einen Scharfschützen, der insgesamt 11 Knie hatte, und die Leute dachten, niemand könne ihn übertrumpfen. Und dann zerschoss ich an einem Tag sieben bis acht Knie. Ich hätte innerhalb von ein paar Stunden fast seinen Rekord gebrochen."
Soldat: "An diesem Tag (am 14. Mai 2018, als die US-Botschaft in Jerusalem eingeweiht wurde) hatte unser Paar die größte Anzahl an Treffern, insgesamt 42. Mein Lokalisierer hätte nicht schießen sollen, aber ich gab ihm eine Chance, denn wir näherten uns dem Ende unseres Einsatzes, und er hatte keine Knie. Im Endeffekt möchte man mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass man etwas getan hat, dass man nicht nur während Übungen Scharfschütze war. Nachdem ich also ein paar Treffer hatte, schlug ich ihm vor, zu wechseln und er traf ungefähr 28 Knie, würde ich sagen.
Diese Schilderungen sind nicht etwa Ausnahmen von besonders verkommenen Individuen innerhalb der IDF, sondern solcherart Aktionen werden auch von Offizieren und Vorgesetzten gebilligt. Und selbst der 2017 amtierende Verteidigungsminister Avigdor Liebermann nominierte Soldaten für eine Verdienstmedaille, nachdem ihm ein Video mit deren Schießkünsten vorgeführt worden war.
Soldat: "Über mir steht der Bataillonskommandeur, links von mir sein Stellvertreter, rechts der Kompaniechef - überall Soldaten um mich herum, die ganze Welt beobachtet mich bei meinem ersten Versuch. Das ist sehr stressig. Ich erinnere mich an den Anblick der aufplatzenden Knies im Fadenkreuz.
Für die Scharfschützen, so ein Interviewpartner des Haaretz-Journalisten, sind die "Enten-Abschüsse" eine Art Wettbewerb, bei dem es darum geht, Glazer bemüht hier die Box-Metapher, möglichst viele Punkte zu holen.
Hilo Glazer: In anderen Worten, Sie könnten auch auf einen "Knockout" aus sein, aber Sie bevorzugen, "nach Punkten" zu gewinnen?
Soldat: "Wir gewinnen nicht allein durch Punkte. Nach einiger Zeit sagte ich in einer Nachbesprechung: Lassen Sie mich nur einmal ein Kind von 16 oder sogar 14 Jahren zur Strecke bringen, aber nicht mit einer Kugel im Bein - lassen Sie mich seinen Kopf vor den Augen seiner ganzen Familie und seines ganzen Dorfes aufsprengen. Lass ihn Blut spritzen. Und dann muss ich vielleicht einen ganzen Monat lang keine 20 Knie mehr amputieren."
Im Lichte dieser aktuellen Bekenntnisse einer enthemmten Soldateska des in der Selbstdefinition "einzigen demokratischen Staates in Nahost" gewinnen die Ereignisse zehn Jahre zuvor erst ihre wahrhaftige Bedeutung. Denn die Praxis des "Knie-Schießens" 2020 hat offensichtlich IDF-Tradition. Und die Wertlosigkeit der von der israelischen Armee zerstörten Rollstühle im Jahr 2010 entspricht in ihrer Kontinuität so ziemlich der "Wertlosigkeit" der heute, 2020, zu Krüppeln geschossenen jungen Palästinenser. Sozusagen Self-Fulfilling-Prophecy in Bestform. Die "Helden" von damals sind die gleichen "Helden" wie heute.
Dem in Israel aufgewachsenen Blogger Jonathan Ofir hat sich beim Lesen von Hilo Glazers Artikel, in dem noch weitere Grausamkeiten thematisiert werden, gleichsam der "Magen umgedreht", vor allem auch deshalb: "Es sind im Grunde alles Beschreibungen der mörderischen israelischen Politik, die von den meisten Israelis akzeptiert werden."
Doch in Deutschland, das nach einem Diktum der Kanzlerin Merkel in seine "Staatsraison die Sicherheit Israels" eingeschrieben hat, sind die Proteste gegen solcherart Verbrechen nur rar gesät und offiziell-politisch gar nicht vorhanden. Aber die "Antisemiten-Macher" (Abraham Melzer) aller Schattierungen werden freudig die Chance wahrnehmen, jegliche Kritik an diesen abscheulichen Taten als antisemitisch zu denunzieren.
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