Von der Moral im Krieg
Menschenrechtsorganisationen kritisieren im Krieg zwischen Israel und Hisbollah beide Seiten, haben damit aber offenbar keinen Einfluss
Der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ist ein moderner Krieg. Gleich ob Armeen gegeneinander kämpfen oder es sich um einen „asymmetrischen Konflikt“ handelt, so sind Zivilisten seit dem 20. Jahrhundert in wachsendem und jetzt im weit überwiegendem Maße die Leidtragenden. Nicht Soldaten oder Kämpfer, sondern vor allem Zivilisten sterben oder werden in militärischen Konflikten verwundet. Daran konnten auch „Präzisionswaffen“ nichts ändern, die allerdings erheblich zu der gerne auch von Militärs geschürten Vorstellung beigetragen haben, als könne es „saubere“ Kriege geben, in denen nur gezielt und ohne „Kollateralschaden“ der bewaffnete Gegner eliminiert wird. Dass sich Krieg und Terror kaum unterscheiden, wurde im Irak-Krieg wieder einmal deutlich und zeigt sich auch im Krieg zwischen der Hisbollah und Israel.
Während die Hisbollah ihre Raketen auf israelische Siedlungen richtet und dort auf zufällige Zerstörungen und Opfer hofft, nehmen die Bombardierungen des israelischen Militärs zumindest in Kauf, dass selbst bei wirklicher Kenntnis von gegnerischen Stellungen auch Zivilisten getötet werden. Das Standardargument der überlegenen bzw. angreifenden Militärs ist stets, dass der Gegner sich hinter Zivilisten verbirgt. Es sei daher auch mit besten Bemühen – und in Anerkennung etwa der Genfer Konventionen zum Schutz von Zivilpersonen - sowie präzisesten Waffen kaum zu vermeiden, will man den Gegner besiegen, dass gelegentlich auch falsche Ziele oder in der Nähe befindliche Zivilisten getroffen werden. Terroristen hingegen zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie auch absichtlich zufällig am Ort anwesende Personen oder allgemein Zivilisten töten. Sie versuchen also nicht zu vermeiden, dass Zivilisten oder Unbewaffnete zum Opfer ihrer Kampfhandlungen oder Anschläge werden, sondern wollen durch Angriffe auf diese die gegnerische Macht destabilisieren. Wie aber wären Kasernen in Siedlungen zu beurteilen? Dienen auch hier Zivilisten als Schutzschilde für Truppen? Und haben militärisch weit unterlegene Gegner durch diese Art der Definition von Kriegsverbrechen schon von vorneherein schlechte Karten, selbst wenn ihr Ziel moralisch gerechtfertigter wäre wie das der staatlichen und militärisch überlegenen Macht?
Bei einem nicht offenen, asymmetrischen Konflikt ist der Gegensatz möglicherweise noch einigermaßen zutreffend, bei einem offenen Konflikt wie derzeit zwischen Israel und Hisbollah erweist er sich aber als Konstrukt zugunsten einer Seite. Begonnen hatte dieser Krieg mit einem Überfall der Hisbollah auf israelische Soldaten – nicht Zivilisten. Dabei wurden israelische Soldaten getötet und zwei Soldaten gefangen genommen und erschleppt. Ob man hier von Entführung – wie meist gemacht - oder von Gefangennahme sprechen soll, ist eine Frage des Standpunkts, die auch die „gezielten Tötungen“ von mutmaßlichen Terroristen oder die Verschleppung von mutmaßlichen Terroristen, aber auch palästinensischen Parlamentariern durch das israelische Militär betrifft.
Aber lässt man einmal die Vorgeschichte, die man prinzipiell immer weiter spinnen kann, außer Acht, so bombardiert nun die Hisbollah mit ihren Raketen israelische Siedlungen und Städte bis zu einer gewissen Reichweite, während das israelische Militär ganz Libanon bombardiert und dabei gezielt Infrastruktur zerstört und angebliche Stellungen der Hisbollah im Ziel hat, aber auch libanesische Soldaten trifft. Der moralische Unterschied liegt offenbar in der Gezieltheit (mit zufälligem oder ungewolltem Kollateralschaden) bzw. Ungerichtetheit (mit akzeptierten oder auch gewünschten zivilen Opfern), was auch ein technisches Problem bzw. eine Frage der technischen Ausrüstung sein kann. Es mag sein, dass die einen Bombardierungen strategisch gedacht sind, die anderen terroristisch, die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Schäden an der Infrastruktur würden im Krieg Hisbollah-Israel die moralische Waagschale zu Ungunsten Israels ausschlagen lassen. Aber Quantität kann kein moralisches Argument sein, kollektive Bestrafung allerdings schon, wie sie der israelische Ministerpräsident Olmert auch direkt einräumt, wenn er sagt, dass die Angriffe die Richtigen getroffen haben: „Die Bevölkerung, die die Hisbollah unterstützt, ist auf der Flucht, hat ihren Besitz verloren und ist verbittert.“
Olmert: Woher nehmen sie eigentlich das Recht, Israel zu predigen? Die europäischen Länder haben Kosovo angegriffen und zehntausend Zivilisten getötet. Zehntausend Zivilisten! Und keines dieser Länder hatte zuvor auch nur durch eine einzige Rakete zu leiden! Ich sage nicht, dass es falsch war, im Kosovo einzugreifen. Aber bitte: Predigt uns nicht über den Umgang mit Zivilisten.
Aber die Kritik aus Europa setzt auch die Vereinigten Staaten unter Druck, Israel zur Räson zu bringen.
Olmert: Amerika hat eine andere Einstellung. Sie kritisieren uns nicht. Ich wünschte, auch andere Staaten hätten den Mut von Präsident George W. Bush, die Wahrheit zu sagen.
Der israelische Ministerpräsidenten Ehud Olmert in einem Gespräch mit der Welt am Sonntag
Schwierig ist die Situation für Menschenrechtsorganisationen. Human Rights Watch bezeichnete erneut, nachdem erst am 3. August in einem Bericht Israel und Mitte Juli bereits die Hisbollah wegen möglicher Kriegsverbrechen gegen Zivilisten bezichtigt wurden, die ungerichteten Raketenangriffe der Hisbollah auf israelische Siedlungen ausdrücklich als Kriegsverbrechen und forderte die Organisation dazu auf, sofort den Abschuss von Raketen in „zivile Gebiete in Israel“ zu beenden. HRW will nicht parteiisch sein, sondern tritt dafür ein, dass Menschenrechte und internationale Abkommen eingehalten werden.
In dem umfangreichen Bericht wurden Fälle aufgelistet, in denen nach Ansicht von Human Rights Watch die israelischen Streitkräfte es „systematisch“ versäumt hätten, zwischen Zivilisten und Kämpfern zu unterscheiden. Es sei beunruhigend, dass israelische Streitkräfte wenig Rücksicht auf das Leben von libanesischen Zivilisten zu nehmen scheinen. Selbst wenn sich Hisbollah-Kämpfer hinter Zivilisten verstecken sollten, wie das israelische Militär behauptet, sei die Kriegsführung, die keine Unterschiede zwischen Zivilisten und Kämpfern macht, nicht gerechtfertigt. Auch das Abwerfen von Flugblättern und andere Aufforderungen, Häuser, Stadtviertel oder Siedlungen wegen unmittelbar drohender Bombardierung zu verlassen, lasse Zivilisten nicht schon zu militärischen Zielen werden. Am Wochenende starben durch israelische Bombardierungen auch wieder Dutzende von Zivilisten im Libanon.
Wohl um eine Ausgeglichenheit zu wahren, forderte HRW am Samstag die Hisbollah auf, ihre Raketenangriffe auf zivile Bereiche in Israel sofort einzustellen. Seit 12. Juli soll die Hisbollah nach israelischen Angaben bereits 3000 Raketen auf Israel abgeschossen haben, die u.a. Passanten, Schulen, Krankenhäuser und Privathäuser getroffen haben. Am Sonntag wurden mindesten 10 israelische Zivilisten getötet und ebenso viele teils schwer verletzt, als eine Bombe auf offener Straße in Kfar Giladi niederging. So gibt es nun auch ein von der Hisbollah verübtes Massaker. Mittlerweile wurden durch eine Katjuscha-Rakete auch drei chinesische UNIFIL-Soldaten verletzt. Und die Hisbollah hat nun mit Raketen auch zum wiederholten Male den nördlichen Stadtrand von Haifa erreicht. Das nördliche Israel, in dem eine Million Menschen lebt, ist unter dem Hagel der Raketen lahm gelegt. Man schätzt, dass bereits eine halbe Million Menschen geflüchtet sind. Die Hisbollah-Raketen sind in aller Regel nicht auf militärische Ziele gerichtet und teilweise gefüllt mit Metallsplittern, was einzig den Zweck hat, Menschen zu töten oder zu verletzen.
„Raketen blind in zivile Gebiete zu schießen, ist zweifellos ein Kriegsverbrechen. Nichts kann diesen Anschlag auf die grundlegendsten Regeln rechtfertigen, Zivilisten im Kriegsgeschehen zu schonen“, erklärt Kenneth Roth, der Direktor von Human Rights Watch. Und er fügt hinzu: „Human Rights Watch hat die fortdauernde Anwendung von wahlloser Gewalt dokumentiert, die Hunderte von libanesischen Zivilisten getötet hat. Aber die Verbrechen der einen Seite in einem Konflikt rechtfertigen niemals die Kriegsverbrechen der anderen Seite. Hisbollah muss aufhören, die israelischen Verfehlungen als Ausrede zu verwenden, um die eigenen zu rechtfertigen.“
Offenbar aber sind die Versuche von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty, die Kriegsparteien anzuhalten, Zivilisten zu schonen und andere Kriegsverbrechen zu unterlassen, bislang auf beiden Seiten ebenso wenig erfolgreich wie das Bewirken einer Waffenruhe. Der moralische Appell verhallt, internationale Abkommen werden verletzt, auch wenn verbal von beiden Seiten so getan wird, als würde man sie beachten. Medienpropaganda und einseitige Berichterstattung der jeweils anderen Seite kritisieren beide Kriegsparteien und die jeweiligen Sympathisanten, die in aller Regel ebenso einseitig nur der anderen Seite das Begehen von Kriegsverbrechen vorwerfen. Ist also im Kriegsfall die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen sinnlos, weil sie nichts bewirkt?
Kenneth Roth weiß natürlich um die Schwäche und versucht zu begründen, warum die Regeln der Genfer Konventionen und anderer internationaler Abkommen dennoch wichtig sind, auch wenn sie erst einmal nicht durchgesetzt werden können:
Jeder, der Kriegsverbrechen anordnet oder begeht, müsste von israelischen Gerichten strafrechtlich verfolgt werden. Wenn dies nicht geschieht, dann können Kriegsverbrecher von jedem nationalen Gericht verfolgt werden, das universale Rechtsprechung ausübt, oder, auf Einladung Libanons, vom Internationalen Strafgericht. Dasselbe gilt für die Kriegsverbrechen der Hisbollah.
Roth dürfte wissen, dass es dazu wohl kaum kommen wird. Daher fügt er noch ein pragmatisches Argument an:
Abgesehen von der Strafverfolgung kommen die vielen zivilen Opfer der israelischen Bombardierungen der Hisbollah politisch zugute und festigen die Loyalität ihrer Anhänger. Kann Israel wirklich den Krieg besser mit einer solchen Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Schicksal von Zivilisten führen?
Dieses pragmatische Argument zur Stützung der moralischen Forderung nach Einhaltung des Kriegsrechts kann aber eigentlich nur für die Armee eines Staates zutrifft, die sich aus politischen Gründen rechtmäßig verhalten sollte. Das ist auch der Grund, warum Roth hier die Hisbollah ausklammert. Für eine nichtstaatliche Widerstands- oder gar Terrororganisation, die in einem asymmetrischen Konflikt militärisch weit unterlegen ist und sich als Widerstandsgruppe legitimiert, hat das Einhalten von Menschenrechten und anderen internationalen Abkommen nur dann pragmatische Bedeutung, wenn sie aufgrund ihrer Aktionen Anhänger und Ansehen verliert oder zu einer international anerkannten politischen Kraft werden will. Aus diesem Grund ist in aller Regel die militärisch überlegene Macht in einem asymmetrischen Konflikt paradoxerweise moralisch und propagandistisch im Medienkrieg unterlegen, weil an sie höhere Maßstäbe angelegt werden. Allerdings kann die militärisch weit überlegene Macht, wie man eben im Krieg zwischen Israel und Hisbollah sehen kann, auch weitaus mehr Zivilisten töten. Und auch die Zerstörungen, die die israelischen Streitkräfte der zivilen Infrastruktur im Libanon zufügen, sind bislang weitaus größer als diejenigen, die die Hisbollah-Raketen anrichten. Auch dieses Verhältnis ist asymmetrisch.