Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft

Ulrich Beck (1999). Bild: Andreas Bohnenstengel/CC BY-SA-3.0

Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Beck

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Münchner Soziologe Ulrich Beck, bekanntgeworden durch sein Buch "Risikogesellschaft", sucht unermüdlich nach neuen Diagnosen der Gegenwart. Jetzt hat er den Begriff der "Zweiten Moderne" geprägt und versucht, weniger nach den Risiken denn nach den Chancen zu fragen, die aus der Globalisierung, dem Schwinden der Arbeit, der Individualisierung und der Krise des Nationalstaates entstehen. Im Gespräch - in Telepolis am 14.1.1997 erschienen, legt er den neuen Möglichkeitsraum und seine Untiefen dar.

Erosion der Erwerbsarbeit

Sie behaupten, daß eine Weltordnung zusammengebrochen sei und wir in das Zeitalter einer "zweiten Moderne" eingetreten wären. Zu welcher Zeit ist denn etwas Neues entstanden und woran machen Sie eine solche epochale Veränderung fest? Zur Zeit geistern ja viele Begriffe herum, die stets im Zeichen wechselseitiger Überbietung ganz neue Trends oder eine Revolution propagieren.
Ulrich Beck: Bei dieser Vermutung handelt es sich wie häufig zunächst einmal um eine Zuspitzung, aus der eine Debatte entstehen soll. Mein Eindruck ist, daß die Semantik der Industriegesellschaft, die ganzen Kategorien des Kapitalismus und auch die Versuche, über diese hinauszukommen, wie dies von den Theorien der Postmoderne vorgeschlagen wurde, weitgehend leer geworden sind. Wir haben keine angemessenen Kategorien mehr, um die aktuelle Situation zu beschreiben. Das läßt sich vielleicht am eindringlichsten an der Erwerbsarbeit und der Arbeitslosigkeit sehen. Ansätze, über Erwerbsarbeit hinauszudenken, sind zur Naivität und zum fehlenden Realismus verurteilt, obwohl nichts dringlicher wäre, als solche zu entwickeln.
Ich glaube, daß die Dynamik, die die moderne Gesellschaft in Gang gesetzt hat, insofern immer etwas zu zahm gesehen wird, als niemals systematisch erwogen wurde, daß sie ihre eigenen Voraussetzungen in der Kontinuität ihrer normalen Dynamik aufhebt. Das ist uns Einwohnern der Industriezivilisation vielleicht vertrauter als den Bewohnern eines traditionellen Milieus, weil sie diese alltäglich revolutionäre Macht des Industriekapitals deutlicher zu spüren bekommen haben.
Nach meiner Einschätzung, die sowohl auf theoretischen Überlegungen als auch auf empirischen Befunden beruht, läßt sich der Umbruch zur zweiten Moderne in den hochentwickelten Ländern etwa in den 60er und 70er Jahren beobachten und durch handfeste Indikatoren belegen. Dabei handelt es sich im wesentlichen um Folgen der Bildungsexpansion, damit auch der "Feminisierung" der Bildung, die Konsequenzen sowohl für die Privatsphäre hatte, weil Frauen und Männer ihre herkömmlichen Rollen nicht mehr weiterführen konnten, als auch für den Arbeitsmarkt, weil dadurch ein enormer Zuwachs der Nachfrage an Arbeit entstand. Die herrschende Arbeitslosigkeit entsteht also nicht nur durch den Wegfall von Arbeitsplätzen. Vor allem Frauen, aber auch Jugendliche und sogar Rentner drängen auf den Arbeitsmarkt. Dadurch hat sich ein Muster der Lebensführung verallgemeinert, das in der Industriegesellschaft schon immer existiert hat, nämlich daß die eigene, an Erwerbsarbeit gebundene Lebensplanung zu einem verbindlichen Muster wird. Parallel läßt sich zeigen, daß die Rationalisierungsmaßnahmen nicht nur Arbeitsplätze reduzieren, sondern auch die Produktivität steigern, so daß immer weniger Arbeit benötigt wird und Arbeit immer stärker auf Wissen und Kapital aufbaut.
Wir haben das in der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Sachsen und Bayern, der ich angehöre, sehr systematisch analysiert und glauben, daß der Umbruch, zumindest was die Arbeitssituation betrifft und quer zu allen politischen Programmen der Einzelregierungen, sich in den 70er Jahren durchgesetzt hat. Er dokumentiert sich beispielsweise an wachsenden Unterbeschäftigungsformen und anderen Arbeitsformen, die das schrumpfende Volumen der Erwerbsarbeit verdecken. Obwohl immer mehr Menschen in Arbeitsprozesse integriert werden, geschieht dies auf Teilzeitbasis oder prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dieser Anteil, der unter dem Deckmantel des Beschäftigungsverhältnisses schon zu ganz anderen Lebensformen führte, ist bei uns inzwischen auf ein Drittel angestiegen, in den USA oder in Großbritannien ist er noch weit höher. Das sind Beispiele, an denen deutlich wird, daß die normale Dynamik der Modernisierung, also Rückgang der Erwerbsarbeit, Bildungsexpansion oder Rationalisierung, was ja alles Begriffe sind, die nicht auf einen revolutionären Bruch hinweisen, über sich selbst hinausgeht.
Daniell Bell hat beispielsweise in ähnlicher Weise von der postindustriellen Gesellschaft gesprochen. Wo geht Ihr Ansatz einer zweiten Moderne darüber hinaus?
Ulrich Beck: Der Begriff der postindustriellen Gesellschaft ging nur von der sektoralen Verschiebung auf die Dienstleistung aus.
Das wird uns heute ja auch noch allerorten empfohlen. Man glaubt, daß man die schwindenden Arbeitsplätze im produktiven Sektor durch neu zu schaffende im Dienstleistungssektor ersetzen könne und müsse. Deswegen wird immer wieder die Orientierung an den USA empfohlen. Sie würden aber sagen, wenn ich Sie recht verstanden habe, daß das Arbeitsvolumen in allen Sektoren weniger wird.
Ulrich Beck: Das muß man sich genauer anschauen. Die USA sind den Weg der kleinen Dienste gegangen: Tätigkeiten im Haushalt oder in Gaststätten machen den Unterschied in den Beschäftigungsverhältnissen aus. Bei uns trifft diese Umstellung offenbar nicht auf den nötigen kulturellen Widerhall. Darüber hinaus muß diese Entwicklung, die sich ganz gut im Unterschied zwischen Deutschland und den USA sehen läßt, aber als politische Frage gestellt werden, was bislang nicht angemessen diskutiert wurde.
Auf der einen Seite wird sichtbar, daß wir einfach mit sehr viel weniger Arbeit sehr viel mehr produzieren können. Wir brauchen also weniger Arbeitskräfte, um mehr Profit oder Dienstleistung zu produzieren. Das ist eine Situation, die vielen als katastrophal erscheint, weil sie die Grundlagen des bisherigen Erwerbssystems und auch der darauf aufbauenden Demokratie gefährdet. Auf der anderen Seite ist das eine Situation, die eigentlich sehr erstrebenswert ist, weil die Mühen der Arbeit nicht mehr in demselben Maße notwendig sind, um den Reichtum der Gesellschaft zu schaffen und deren Probleme zu lösen.
An diese Situation sollte man also die Frage knüpfen, wie man mit diesem potentiellen Mehr an Freiheit von der Arbeit umgehen kann. Darauf aber gibt es bislang nur die Antwort, wieder alle Menschen irgendwie in Arbeitsprozesse zu integrieren. Das ist die Vollbeschäftigungsfixierung, über die wir historisch bereits ein Stück hinaus sind. Gibt es aber nicht eine sinnvolle Entwicklung der modernen Gesellschaft, in der die Integration und materielle Sicherung über Arbeit gegenüber anderen Aktivitätsformen eine geringere Rolle spielt? Diese Frage wird nicht systematisch erörtert. Und das ist eine Frage der zweiten Moderne.
Im Augenblick dominiert offenbar auf der politischen Ebene die altmoderne Ideologie des Neoliberalismus. Die Schere zwischen den Reichen und dem Rest der Bevölkerung öffnet sich gleichzeitig immer weiter. Früher hat man als Schreckgespenst von der Zweidrittel-Gesellschaft gesprochen, heute spricht man schon von der Einfünftel-Gesellschaft. Wenn Sie sagen, daß insgesamt Arbeit weniger wird, dann geht dies noch tiefer als bisher ans Einkommen und an den sozialstaatlichen Ausgleich. Die Ungleichheit wird sich zunächst also noch weiter verstärken. Wenn man das ausgleichen sollte, dann müßte man nicht nur Arbeit anders verteilen, sondern vor allem auch das Vermögen. Dann wären wir aber wieder bei modernen, wenn auch etwas jüngeren sozialistischen Ideen.
Ulrich Beck: Nein, der Meinung bin ich nicht. Aber man muß das Verteilungsproblem neu stellen. Das ist völlig richtig. Es ist eine Illusion, daß man über Erwerbsarbeit alle Probleme der Gesellschaft, also die materielle, soziale und psychische Integration, lösen kann, weil das Arbeitsvolumen einfach schrumpft. Insofern läuft der Neoliberalismus, was Pierre Bourdieu immer wieder betont, auf den Ausschluß immer größerer Bevölkerungsgruppen zu. Bourdieu rät allen militanten Neoliberalen, sich einmal für eine gewisse Zeit in die Favelas Südamerikas oder in die Gettos Nordamerikas zu begeben und zu sehen, was sie eigentlich auslösen. Neoliberalismus ist eine politische Blindheit, ein politisches Analphabetentum.
Die neoliberalistische Ideologie entwickelt sich jetzt interessanterweise stärker in Deutschland, während diese Tendenz in Großbritannien erheblich abklingt. Hier sieht man die Folgen des Neoliberalismus deutlich. Der Aufschwung von Tony Blair ist eben die Folge eines Anti-Thatcherismus. Auch in den USA werden die Folgen des Neoliberalismus viel stärker bemerkt, als dies zu uns herüber dringt: die Überfüllung der Gefängnisse, die Unlösbarkeit der Gettos und andere Probleme, die inzwischen die Öffentlichkeit beschäftigen.

Globalisierung und Nationalstaat

Eine Umverteilung des Reichtums setzt politische Handlungsfähigkeit und einen Staat voraus, der Gelder über Steuern erheben und verteilen kann. Aber genau dies scheint gegenwärtig nicht mehr möglich sein. Die Unternehmen und die gesellschaftliche Elite gehen dorthin, wo sie möglichst wenig Steuern zahlen müssen und möglichst wenig Auflagen bekommen. Die Menschen, die es sich leisten können, ziehen sich in die Gettos der Reichen zurück. Die Akzeptanz der Umverteilung des Reichtums setzt eine gewisse Solidarität voraus, die so etwas wie eine soziale Klammer über die verschiedenen Schichten hinweg darstellt. Die Globalisierung der Wirtschaft führt hingegen zu einer immer schärferen Polarisierung der Einkommen und zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Staaten. In den USA wurde von Bill Clinton erst kürzlich die Sozialfürsorge weiter zurückgefahren, um die vermeintlich faulen oder passiven Menschen in die Arbeit zu drängen. Außer einigen Lippenbekenntnissen sieht man eigentlich noch keine Tendenz einer wirklichen Veränderung.
Ulrich Beck: Ja, man sieht diese Tendenz nicht. Aber die Erosion der Erwerbsarbeit verdeckt die Konflikte, auch die intellektuellen und politischen Konflikte, die entstehen und die aufzudecken oder zu inszenieren sind. Zwischen der alten Vorstellung der Vollbeschäftigung und dem Versuch zu fragen, was eigentlich geschieht, wenn Erwerbsarbeit nicht mehr das Zentrum der Gesellschaft und der Lebensführung ist, klafft eine Lücke. Wir sollten fragen, welche Optionen dies enthält, welche Möglichkeiten und Institutionen es gibt, um die Menschen dennoch zu integrieren und zu aktivieren. Das Schrumpfen der Erwerbsarbeit ist überall feststellbar und vollzieht sich unabhängig von den Regierungsformen. Die einzige Alternative ist die amerikanische, nämlich die Suppe immer dünner zu machen, also Doppelbeschäftigung oder working poor vorzuprogrammieren.
Ein anderes Thema des Übergangs von der ersten zur zweiten Moderne ist, wie Sie dies auch sagten, die Globalisierung, die mit der Austrockung der Staatsfinanzen und den neuen Spielräumen für die Unternehmen einhergeht, dort die Steuern zu zahlen, wo es für sie am günstigsten ist, und zu leben, wo die Infrastrukturen für sie am besten sind. Das hat aber noch viele andere Folgen. Der Konflikt zwischen dem Nationalstaat und den globalen Wirtschaftsakteuren wird nicht genug beachtet. Die Neoliberalen sind im nationalstaatlichen Rahmen letztlich die Abwickler ihrer selbst, weil sie auf das Schrumpfen des Staates in allen Funktionen setzen, was letztlich dazu führt, daß die Politik abgeschafft wird.
Ich bin allerdings über die Diskussion in Deutschland sehr unglücklich, weil ich längere Zeit in Großbritannien war, wo sichtbar wurde, daß hier die Debatte ganz anders läuft. Erstens ist Großbritannien aus einer imperialistischen Geschichte heraus immer eine sich stärker global verstehende Nation gewesen. Globalisierung ist hier nichts Externes und Bedrohliches, sondern etwas, was die Diskussion schon von innen her bestimmt. Zweitens wird Globalisierung nicht auf ökonomische Fragen verkürzt, die nur noch protektionistische Antworten zulassen. Es wird erkannt, daß die Vorstellung, in abgeschlossenen Räumen zu leben und denken, daß diese kulturelle Exklusionsvorstellung fiktiv geworden ist.
Andererseits beharren die Engländer doch immer sehr stark auf ihre Abgrenzung zum Kontinent und hadern mit der Unterordnung der Nation in die Europäische Gemeinschaft.
Ulrich Beck: Europa ist immer noch eine lokale Orientierung. Das ist das Interessante. Globalisierung wird immer noch als ein nationalstaatliches Schema gesehen, aber sie geht darüber hinaus. Und das ist ein Teil des englischen Selbstbewußtseins.
Durch die Globalisierung werden Staaten, Regionen und Städte, also alle lokal verankerten Gesellschaftsformationen von den multinational agierenden Unternehmen erpressbar und gegeneinander ausspielbar. Welche Alternative gibt es denn dazu? Den Globalstaat, der die Wirtschaftsstrukturen wieder als Innenpolitik in den Griff bekommt? Andererseits bleiben immer Verankerungen im Raum, in lokalen Standorten und Märkten. Ganz in den Cyberspace aussteigen kann man noch nicht. Daher muß es auch noch politische Lösungen im regionalen Raum geben, zumindest wenn es sich um einen interessanten Markt handelt. Entfernt sich also wirklich die Ökonomie ganz von der politischen Beeinflussung, was das Ende der Politik wäre, oder gibt es noch wirkliche politische Steuerungsmöglichkeiten?
Ulrich Beck: Zunächst einmal muß man erkennen, daß die Vorstellungen von Globalisierung, wie Sie diese dargestellt haben, ein Risiko sind. Sie sind keine Realität, sondern eine drohende Möglichkeit. In der angelsächsischen Diskussion unterscheidet man, was hierzulande noch viel zu wenig beachtet wird, zwischen Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft. Internationalisierung heißt, daß sich der Austausch auf bestimmte, letztenendes immer noch fixierten Regionen beschränkt. Das ist deswegen eine wichtige Unterscheidung, weil, was etwa Deutschland betrifft, die Internationalisierung der Produktion noch immer weitgehend auf den europäischen Markt beschränkt ist und sich im übrigen in mit Nationalstaaten vergleichbaren Konditionen bewegt. Der Anteil der globalisierten Wirtschaft ist im Verhältnis zu dem der internationalen noch immer sehr gering. Was wir augenblicklich erleben, ist ein sehr geschickt inszeniertes Ausspielen des Globalisierungsrisikos. Man muß also sehr viel stärker die Inszenierung der Probleme mit den realen Entwicklungen konfrontieren.
Gleichzeitig mit der Globalisierung vollziehen sich neue Grenzziehungen. Die Märkte und Kapitalströme werden offen, während die Nationalstaaten etwa die Migrationsströme durch neue Mauern abwehren. Dient das Inszenieren des Globalisierungsrisikos politisch genau dieser Tendenz zur Abschottung und Zitadellenbildung von homogeneren Staaten, Regionen, Ethnien, Schichten und Gemeinschaften?
Ulrich Beck: Hier liegt der zentrale Widerspruch. Man kann dies wieder in einer historischen Parallele von erster und zweiter Moderne zeigen. In der ersten Moderne gab es die nationalstaatliche Fixierung, aber ihr entsprach auch die wirtschaftliche Entwicklung. Politisch war man noch kleinräumlicher organisiert, und der Nationalstaat war die größere Organisationseinheit. Heute haben wir eine Situation, in der der Bourgeois inzwischen ein globaler Akteur ist, aber der Citoyen noch in nationalstaatlichen Kategorien befangen ist. Deswegen hat die protektionistische Reaktion immer etwas Ideologisches. Die Vorstellung von abschließbaren Räumen ist fiktiv.
Aber wirklich fiktiv ist sie wiederum doch nicht, denn der begrenzte Raum ist weiterhin eine Tatsache. Staaten haben etwa einen abgeschlossenen Rechtsraum mit erheblichen Konsequenzen.
Ulrich Beck: Da muß man eben die kulturelle Ebene sehen, weil häufig als Reaktion auf die globalen Räumen wieder ethnische und nationale Identitäten verschärft werden. Untergründig haben wir es auch nicht mit einer multikulturellen Identität zu tun, die eine viel zu oberflächliche Argumentationsfigur darstellt, sondern im Alltag und im Privatleben mischen sich globale und lokale Aspekte. Martin Albrow hat eine Reihe von Studien in Großbritannien durchgeführt, in denen er zeigen konnte, daß die Begrifflichkeit, die wir für bestimmte Räume haben, wie Gemeinde, Klasse, oder Familie, die alle lokal gedacht werden, nicht mehr stimmig ist. All das, was wir bislang an einen bestimmten Raum gebunden gesehen haben, hat sich bereits in vielschichtigen Formen globalisiert oder interkulturalisiert. Das kann man an Adressen, Lebensgewohnheiten, Vorlieben oder entstehenden Identitäten festmachen, die alle sehr viel mehr als früher gemischt sind. Er hat eine sehr interessante Untersuchung über einen afrikanischen Karneval in Nottingham gemacht, an dem nichts mehr afrikanisch ist. Er ist ein reines Produkt der afrikanischen Mischkulturen Großbritanniens, die das erfunden haben, um hier eine Verschmelzung zwischen britischer Identität und farbigem Selbstbewußtsein zu entwickeln.
Das klingt jetzt natürlich sehr optimistisch und nach einem gelingenden "Schmelztiegel" der Ethnien und Kulturen.
Ulrich Beck: Das ist faktisch so.
Genausogut ließe sich sagen, daß die Konflikte zwischen Ethnien und Kulturen wieder zunehmen und die größeren Einheiten innerlich zerfallen. Samuel Huntington etwa hat in seinem Buch "Kampf der Kulturen" den Schluß gezogen, daß nach der Zeit der westlichen Vorherrschaft, des westlich geprägten Internationalismus oder der ersten Moderne wieder die Suche nach einer kulturellen Identität im Unterschied zu anderen sich durchzusetzen beginnt - auf der Grundlage der ökonomischen und technischen Globalisierung. Globalisierung heißt für ihn also das Wiedererstarken der kulturellen Einschließung, die sich auch im geographischen Raum realisiert. An den Grenzen zwischen den großen Kulturen, so seine Diagnose, wird es zu neuen Kämpfen kommen. So ist für ihn die Grenze zwischen christlichen, orthodoxen und islamischen Kulturen, Beispiel Bosnien, eine blutige Grenze. Die moderne Klammer der internationalen westlichen Ideologie und Lebensform und damit auch die Mischformen, auf die Sie hingewiesen haben, zerfallen in dieser Perspektive und weichen abgegrenzten und homogeneren Kulturräumen.
Ulrich Beck: Es gibt die systematische Problematik, wie wir mit der neuen offenen Situation der zweiten Moderne umgehen. Das ist ein Möglichkeitsraum, der verschiedene Entwicklungsvarianten zuläßt. Ich habe keine Schwierigkeiten, mir Horrorszenarien auszudenken, aber wir haben, wie ich finde, davon eher ein Überangebot, wobei meist nicht deutlich wird, daß es nur Szenarien sind, die auf bestimmten Voraussetzungen beruhen.
Samuel Huntington berücksichtigt nicht genug, daß die Vorstellung abgeschlossener Weltkulturen völlig fiktiv ist. Wir haben schon in der Forschung gesehen, daß das, was als radikaler islamischer Fundamentalismus gilt, ein westliches Produkt ist. Es gibt sehr viele unterschiedliche Formen islamischer Kultur. Der islamische Fundamentalimus ist nur eine unter ihnen, und noch dazu wurde der Begriff vom Westen entworfen und in die entsprechenden Regionen projiziert. Die Situation ist außerordentlich kompliziert geworden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine Selbstdefinition dieser Art eine Realität schafft, die sich bestätigt, aber das ist nicht die einzige Variante. Die offene Situation nur in einen Krieg der Weltkulturen umzudenken, finde ich überdies relativ phantasielos. Man hat aus dem bisherigen Erfahrungshorizont heraus, daß es immer irgendwelche Konflikte gibt, das jetzt nur auf die Kulturen projiziert. Die erste empirische Kontrolle zeigt schon, daß das so nicht stimmt. Die Konflikte basieren nur teilweise auf kulturellen Unterschieden. Solche Szenarien sind nicht das, was wir wirklichen brauchen. Intellektuell interessant wäre hingegen eine Debatte über den Möglichkeitsraum der zweiten Moderne, in der nicht nur immer alles untergeht oder zu Konflikten führt. Das hängt im übrigen auch immer von den Selbstdefinitionen ab, weil die Strukturen wesentlich an politisches Handeln, das aus Wissen entsteht, gebunden sind.
Ich empfinde ein starkes Ungenügen zwischen dem Zusammenbruch an Selbstverständlichkeiten und theoretischen Ausgangspositionen durch das Ende des Kalten Krieges und der sehr lahmen Antwort darauf. Alle drehen ihre alten Mühlen einfach weiter. Die einen denken alles in Systemen weiter, wie das Niklas Luhmann mit großem Scharfsinn macht, oder man sieht irgendwelche großen Kulturkonflikte entstehen. Das alles ist ein Ausdruck der intellektuellen Ratlosigkeit. Für die Eröffnung einer Debatte über die Herausforderungen der zweiten Moderne müßte man herausfinden, welche Konfliktlinien sich heute schon absehen lassen, ohne in einen Fatalismus zu verfallen.

Abkehr von den Institutionen und demokratische Kultur

Wir haben bislang die möglichen Konturen einer zweiten Moderne auf einer sehr allgemeinen, strukturellen Ebene diskutiert, obgleich Sie ja immer wieder betonen, daß die Veränderungen tief ins Alltagsleben der einzelnen einwirken. Als Individuen leben wir in Regionen und bestimmten Räumen und nicht im Cyberspace oder im globalen Raum. Wie reagieren denn die einzelnen auf diesen Eintritt in den neuen Möglichkeitsraum, wenn sie nicht nur in Angst, blinden Aktivismus oder Erstarrung verfallen? Und worin könnte denn eine neue Macht des Lokalen und Regionalen trotz oder wegen der Globalisierungsprozesse bestehen?
Ulrich Beck: Ein großer Teil der Veröffentlichungen im Rahmen der von mir herausgegebenen Reihe zur zweiten Moderne wird sich genau damit befassen. In meinem Buch "Kinder der Freiheit" versuche ich in Zusammenarbeit anderen Autoren beispielsweise zu zeigen, daß die Vorstellung, die nachwachsende Generation sei einfach politisch desinteressiert und bleibe deswegen aus den Institutionen weg, zu oberflächlich ist. Das gibt es sicherlich auch. Man darf keinen falschen Idealismus predigen. Aber es handelt sich in dem Sinne um Kinder der Freiheit, daß bestimmte Spielräume der Entscheidung, ein bestimmtes Selbstbewußtsein oder Versuch, Verantwortung für die eigene Lebensführung zu übernehmen, selbstverständlich wurde. Das läßt sich nicht mehr ohne weiteres mit den existierenden institutionellen Verarbeitungsformen vereinbaren. Das sieht man an dem Wegbleiben der Jugendlichen aus den Gewerkschaften oder Parteien. In Großbritannien ist beispielsweise das Durchschnittsalter der Mitglieder der konservativen Partei schon über 60 Jahre. Bei uns ist das noch nicht ganz so dramatisch.
Es gibt also eine große Diskrepanz zwischen der Selbstdefinition der Jugendlichen und den Sollensrichtlinien, die von den Institutionen über das Verhalten der nachwachsenden Generation entwickelt werden. Hier deutet sich ein interessanter Konflikt an, weil es vielfältige Aktivitätsformen und Prioritäten der Jugendlichen gibt, die völlig jenseits von dem liegen, was die Institutionen als normale Tätigkeit betrachten. Ich will das nicht idealisieren, als ob daraus die neue Revolution entstünde, aber die moderne Gesellschaft entwickelt sich in einen interessanten Konflikt hinein. Es gibt eine wuselige und wieselige Aktivität von Beschäftigungs- und Engagementformen, wovon die Institutionen kaum berührt werden oder dadurch austrocknen. Diese Aktivitätsformen finden bislang noch keinen Eingang in die Institutionen. Während der Kirchentage sieht man das vielleicht noch, aber im Alltag der Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien ist davon nichts zu merken.
Es gibt, was man auch in den Computernetzen sieht, offenbar ein großes Bedürfnis nach Gemeinschaften, die vielleicht nicht so verpflichtend sind wie die alten Institutionen und die keine starre Organisationsstruktur besitzen. Man will ähnlich wie zwischen Fernsehprogrammen auch zwischen Gemeinschaften zappen, aber gleichzeitig eine neue Verbindlichkeit und Vertrautheit. Der Begriff der Gemeinschaft, beispielsweise der virtuellen Gemeinschaft, ist gegenwärtig auch in den USA hoch besetzt. Gemeinschaft im Gegensatz zur Anonymität der Gesellschaft ist aber doch eine alte Formel, und sie hat oft auch etwas Antimodernistisches.
Ulrich Beck: Das ist die Hilflosigkeit der alten Begriffe. Beim Begriff community oder beim Kommunitarismus in den USA wird Gemeinschaft sehr stark mit Entscheidung oder Wahl zusammengebracht. Es geht nicht um einen Zwangszusammenhang. Das ist in unserem Gemeinschaftsbegriff nicht enthalten. Das ist immer das Organische, das Ganze, das Vorgegebene, in das man sich einfügen muß.
Es ist wirklich ein dramatisches Mißverständnis, wenn man annimmt, daß die Individualisierungsprozesse, die im Alltag auch einen wichtigen Übergang zur zweiten Moderne darstellen und die Menschen aus den traditionellen Sicherheitssystemen herauslösen, jede Art von Gemeinschaft zerstören würden. Sie führen vielmehr zu einem neuen Hunger nach sozialen Beziehungen. Es ist nur nicht klar, wie diese organisiert werden sollen.
Das hat Talcott Parsons übrigens schon sehr früh gesehen. Er hat gesagt, daß in den Individualisierungsprozessen der Begriff der Liebe als direkte und emotionale Zuwendung zu anderen und Gegenständen sehr wichtig wird. Liebe hat eigentlich die Aufhebung der Individualisierung zum Programm. Das ist aber immer widersprüchlich, weil man gleichzeitig die Individualisierung beibehalten will. Es gibt also eine starke Suche nach "Gemeinschaft", die man nicht mit den alten Formen des organischen Zusammenlebens verwechseln darf. Dahinter verbirgt sich eine wichtige Frage für den Alltag der zweiten Moderne: Wie kann das eigene Leben, wie kann existentielle Freiheit in soziale Verpflichtung und Wechselseitigkeit eingebunden werden? Dafür gibt es noch keine Rezepte.
Die Menschen leben, wie Sie sagen, individueller, sie wechseln ihre Identitäten, Bedürfnisse, Meinungen, Beziehungen, Gemeinschaften oder Arbeitsweisen, sie fühlen sich nicht mehr verpflichtend verankert in sozialen, nationalen oder regionalen Strukturen. Wie kann denn aus solchen individualisierten Massen ein demokratisches System hervorgehen oder stabil bleiben? Sollte man der Wuseligkeit und Wieseligkeit entsprechend eher ein anarchistisches Modell der direkten und permanenten Demokratie einrichten, wodurch sehr schnell auf wechselnde Stimmungslagen reagiert werden könnte? Andererseits fehlen dann der lange Atem, die komplizierten, bremsenden Verfahren der Entscheidungsfindung und möglicherweise die Verpflichtung, einen solidarischen Ausgleich der Interessen zu schaffen. Das geht den von Ihnen geschilderten Kindern der Freiheit womöglich ab und stellt dann eine Gefahr für die Demokratie dar.
Ulrich Beck: Da gibt es durchaus eine Gefahr. Wenn man überhaupt fragt, wie diese wieseligen, vielfältigen, nicht mehr festgelegten, individualisierten Handlungszusammenhänge integriert werden, dann gibt es darauf aus der Soziologiegeschichte vier Antworten: Integration durch Religion, Integration durch Blutopfer oder Krieg, Integration durch Erwerbsarbeit und Wohlfahrtsstaat und Integration durch politische Freiheit. Diese vierte Integrationsform ist bislang noch nicht genügend diskutiert worden. Durch gemeinsames Handeln stiftet man Zusammenhänge. Die Frage verschärft sich dadurch, daß wir heute vor dem Problem stehen, ob eine Gesellschaft ohne Absicherung durch die Religion, durch Blutopfer oder Krieg und durch Erwerbsarbeit bei gleichzeitiger Zerfieselung in alle möglichen Handlungszusammenhänge integriert werden kann.
Schon deswegen ist es wichtig, sich der urdemokratischen, lange zurückreichenden und etwa von Toqueville sehr anschaulich dargestellten Integrationsform der politischen Freiheit oder der Selbstorganisation zuzuwenden. Gerade durch die Erfahrung der Teilhabe an praktischen Handlungszusammenhängen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen entstehen Bindungen. Aber auch gegenüber dieser neuen Orientierung kann man Ihre Frage neu formulieren. Deswegen ist es nötig, das etablierte politische System mit seinen Institutionen, den Parteien, Parlamenten und Verwaltungen, zu reformieren, weil sie auch nicht mehr voll finanzierbar sind. Sie sollten sich auf bestimmte Aufgaben konzentrieren, die teilweise auch neu routinisiert werden müssen. Daneben sollte sich aber, wenn man eine solche Utopie überhaupt entwickeln will, eine stärker selbstverantwortliche Bürgergesellschaft entstehen , die in vielen Bereichen Probleme sehr viel leichter und direkter lösen kann. An sie muß wirkliche Macht delegiert werden.
Oft ist es aber doch so, daß dann, wenn Bürger sich zusammenfinden und ihre Interessen formulieren oder beispielsweise mittels Bürgerentscheide durchsetzen, in aller Regel partikulare Ziele verfolgt werden. Die Menschen wollen ihre Wohnviertel sichern, ihre ökologischen Bedürfnisse einlösen, ihren Wohlstand bewahren, bestimmte Projekte verhindern oder Unliebsames auslagern, auch wenn dies dem Allgemeininteresse schadet. Es prägt sich also ein lokaler Egoismus aus, der nicht gerade für den weiteren Ausbau einer Bürgergesellschaft in Ihrem Sinne spricht, auch wenn dies abstrakt natürlich wünschenswert wäre.
Ulrich Beck: Man müßte stärker unterschieden, welche Themen delegiert und welche Entscheidungsverfahren eingeführt werden sollen. Ich meine, um den Bogen zum Anfang unseres Gespräches wieder zu schlagen, daß nicht nur für Menschen, die von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen oder arbeitslos sind, sondern auch im Wechsel zwischen denen, die erwerbstätig sind und anderes tun können und wollen, neue Zentren der selbstorganisierten Aktivität entstehen sollen. Diese Menschen müßten Räume bekommen und machen können, was sie wollen. Das können Umweltschutzinitiativen, aber auch sogar Initiativen sein, die sich gegen Fremde richten. Das müßte man alles offen lassen.
Man müßte also politische Initiativen als Gegenpol zur Erwerbsarbeit fördern, wodurch sich Aktivität entzünden kann. Das ist kein idealistisches Modell. Wir haben bislang nur eine zu idealistische Vorstellung von Demokratie. Sie ist nicht die effizienteste politische Organisation, die eine rationale Form der Durchsetzung von irgendwelchen Beschlüssen irgendwelcher Gremien ist. Sie hat sehr viel mehr emotionale Inhalte und Ausdrucksformen demokratischer Kultur, die man nicht an den Effizienzmaßstäben der Politik festmachen kann. Ich glaube, daß durch diese Form der Erweiterung der Demokratie oder der Arbeitsteilung zwischen Politik und demokratischer Kultur eine Entwicklung einsetzen könnte, die auch einen Umgang mit dem häßlichen, ineffizienten und unkontrollierbaren Bürger eröffnet.
Wie wir mit dem häßlichen Bürger umgehen, ist die eigentliche Schlüsselfrage der Demokratie. Durch Selbstinitiativen, die vielleicht nicht effizient sind, werden Zusammenhänge gestiftet, wird Gesellschaft lebendig und quirlig. Das beginnt bei uns ja erst. In der Geschichte war das relativ wenig der Fall. Daß dabei eine Normalität von Entwicklungen entsteht, die nicht in die Rationalitätsrahmen des Politischen hineinfallen, und wie wir mit diesen umgehen, das ist eine der Schlüsselfragen der Zukunft. Wenn man solche Entwicklungen durch höhere Instanzen, durch Stärkung der Staatsautorität, durch Polizei oder Verwaltung glatt bügeln will, dann klappt das nicht und wird sehr problematisch.
Wenn man vom Schwinden der Arbeit und dem Anstieg der Freizeit ausgeht, der bislang noch nicht mit einer Umverteilung des Reichtums verbunden ist, dann scheint im Augenblick die freie Zeit mit einem steigenden Medienkonsum kompensiert zu werden. Das meint ja auch Informationsgesellschaft. Medienkonsum fördert nicht gerade Aktivität oder gesellschaftliches Engagement. Schon seit frühester Kindheit setzen sich die Menschen täglich über Stunden den Medienwelten aus. Hinterläßt das keine Spuren? Entstehen dadurch nicht auch neue Erwartungen?
Ulrich Beck: Die Medien beruhen teilweise darauf, die Menschen abhängig zu machen. Das Medium wird zur Droge. Ich habe mich einmal mit Computertechnikern und -programmierern unterhalten, die mir sagten, daß sie die Menschen abhängig machen wollen. Das ist ja auch ein wesentlicher Trick der Marktherstellung, dem man sich realistisch stellen muß. Ich weigere mich nur - und das ist das Faszinierende am Konzept der zweiten Moderne -, einzelne dieser Trends einfach zu verallgemeinern. Aus unserer intellektuellen Herkunft springt unsere Phantasie stärker an, wenn man kulturpessimistische Strömungen zeichnet, aber sie ist sehr viel schwächer in der Wahrnehnung einer Vielfalt unterschiedlicher Strömungen. Dafür fehlt uns auch die Begrifflichkeit. Aber eine solche Phantasie wäre notwendig, weil vieles von dem, was sich in dieser Gesellschaft vor sich geht, gerade unterhalb der gewohnten Stereotypen geschieht. Das eben macht es so aufregend, sich ein Stück auf das, was ich vorläufig zweite Moderne nenne, einzulassen und andersartige Konflikte herauszuarbeiten.