Vor 20 Jahren: Als Hartz IV Deutschland grundlegend veränderte – und wie es nachhallt

Bild: Travelmaid/ Shutterstock.com

Vor 20 Jahren trat Hartz IV in Kraft. Die Maßnahmen verändern die Gesellschaft bis heute. Damals ahnte kaum jemand: Die Folgen reichen weit über Deutschland hinaus.

Vor 20 Jahren, am 1. Januar 2005, trat Hartz IV in Kraft und sollte die Sozialsysteme und die Wirtschaft in Deutschland nachhaltig verändern. Dabei war die nach dem damaligen VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz benannte Maßnahme weit mehr als eine arbeitsmarktpolitische Reform, wie sie vor allem aus Kreisen der Wirtschaft seit vielen Jahren gefordert wurde.

Ein zentrales Kapitel von Hartz-IV regelte die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wie es in der technokratischen Sprache von Politikern und Ökonomen hieß. Die Schlagworte hießen "Fördern" und "Fordern".

Ersteres bezog sich auf die Unterstützung bei der Arbeitssuche, letzteres auf die Peitsche der Sanktionen, mit denen Menschen diszipliniert werden sollten, die sich angeblich oder tatsächlich zu wenig um einen Job bemüht hatten.

Tatsächlich war die Agenda 2010 eine Maßnahme, die das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit deutlich zuungunsten der abhängig Beschäftigten verschoben hat. Sie wurde über viele Jahre von wirtschaftsnahen Instituten und Medien vorbereitet, die gegen die angeblich zu hohen Ansprüche in der Gesellschaft polemisch angeprangert hatten.

Damit waren nicht die Kapitalvertreter gemeint. Im Gegenteil: Deren Profite sollten steigen. Die Kosten der Ware Arbeitskraft sollten sinken. Die Lohnabhängigen insgesamt sollten den Gürtel enger schnallen, nicht nur die Arbeitslosen.

Die lange Geschichte der Agenda 2010

Bereits 1982 wurde im sogenannten Lambsdorff-Papier, benannt nach dem damaligen FDP-Vorsitzenden und Bundeswirtschaftsminister Otto Graf-Lambsdorff, die Verbilligung der Ware Arbeitskraft gefordert, um die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen, wie es in der technokratischen Sprache der Wirtschaft heißt.

Das Papier markierte das Ende der sozial-liberalen Koalition und den Beginn der Ära Kohl, die deutlich wirtschaftsliberale Thesen propagierte, die von der nachfolgenden rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder aufgegriffen wurden.

Nach dem Ausscheiden des kurzzeitigen Finanzministers Oskar Lafontaine war der Weg für diese Politik frei. Am 12. Juni 1999 wurde das Schröder-Blair-Papier der Öffentlichkeit vorgestellt, in dem sich die Vorsitzenden der britischen und deutschen Sozialdemokraten zum Wirtschaftsliberalismus bekannten. Bereits im Dezember 1998 hatte sich das "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" konstituiert, das in Arbeitsgruppen den Umbau der Wirtschaft im Sinne des Kapitals vorbereiten sollte.

Wichtige Zuarbeit leistete auch die Bertelsmann-Stiftung, die mit ihrer Studie "Beschäftigungspolitik im internationalen Vergleich" ebenfalls dafür warb, die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen.

Hier entstanden die Blaupausen für die Agenda 201. Wieder einmal zeigte sich, dass SPD und Grüne in der Regierung mehr Politikinhalte im Interesse des Kapitals umsetzen konnten, als wenn die Union mit der FDP an der Regierung gewesen wäre. Das lag vor allem daran, dass die Führungen der DGB-Gewerkschaften diese Politik unterstützten. Tatsächlich gab es von der DGB-Spitze zunächst kaum Kritik an der Agenda 2010.

Hunderttausende auf der Straße

Das hieß aber nicht, dass es keinen Widerstand gegen diese Politik gab. Seit dem Sommer 2004 entwickelte sich, ausgehend von Ostdeutschland, eine massive Protestwelle unter dem Motto: "Weg mit Hartz IV - denn heute wir, morgen ihr". So lautete die zentrale Parole, die der arbeitslose Bürokaufmann Andreas Ehrholdt im Juli 2004 auf Plakate schrieb, mit denen er zu den ersten Montagsdemonstrationen in Magdeburg aufrief.

Damit traf er den Nerv vieler Menschen. Zuerst kamen einige Hundert, in der folgenden Woche waren es dreimal so viele und bald gingen auch in vielen anderen ostdeutschen Städten Tausende auf die Straße. Auf dem Höhepunkt am 30. August 2004 demonstrierten in über 200 Städten mindestens 200.000 Menschen gegen das Hartz-IV-Gesetz.

Die Zahl der Protestierenden blieb über mehrere Wochen auf diesem hohen Niveau. Die Proteste wurden zunächst von keiner größeren Organisation getragen, hatten aber eine Vorgeschichte. Bereits 2003 hatte es in Berlin erste Sozialproteste gegeben, an denen sich vor allem parteiunabhängige Initiativen beteiligten. Höhepunkt war am 1. November 2003 eine bundesweite Großdemonstration in Berlin gegen die Verarmungspolitik, an der sich hunderttausende Menschen beteiligten, ohne dass eine Partei oder DGB-Gewerkschaft dazu aufgerufen hatte.

Trotz dieser großen Protestbereitschaft vieler Menschen konnte die Durchsetzung der Agenda 2010 nicht verhindert werden. Sie führten aber zum Ende der ersten rot-grünen Bundesregierung. Sie erlitt einen massiven Vertrauensverlust, Bundeskanzler Schröder musste schließlich vorgezogene Neuwahlen ausrufen, die er 2005 knapp verlor.

Führende Sozialdemokraten, darunter auch Mitglieder der mittleren und unteren DGB-Gewerkschaftsebenen, wollten die Politik der Agenda 2010 nicht mehr mittragen. Sie gründeten Wahlbündnisse, die unter tatkräftiger Mithilfe des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine gemeinsam mit der PDS die Partei Die Linke gründeten.

Viele Exponenten dieser Strömung, darunter auch Lafontaine, haben die LINKE allerdings wieder verlassen und sind teilweise im Bündnis Sahra Wagenknecht aktiv. Zumindest bei ihm steht der Widerstand gegen die Agenda 2010 nicht an erster Stelle.

Wenn Protest in Verzweiflung umschlägt

Doch die Proteste gegen die Agenda 2010 endeten nicht mit ihrer Einführung. Am ersten Wochentag im Januar 2005 protestierten im Rahmen der Aktion Agenturschluss tausende Menschen in vielen Städten Deutschlands vor Jobcentern und Arbeitsagenturen gegen die Agenda 2010.

In der Folgezeit gab es kaum noch große Massendemonstrationen, aber die Proteste waren nicht vorbei. Sie konzentrierten sich nun auf die Folgen von Hartz IV für die Betroffenen. Dazu gehörte die solidarische Begleitung zu den Ämtern und zum Arbeitsgericht, wenn über Klagen gegen Sanktionen verhandelt wurde.

Viele Menschen haben sich nach der Einführung der Agenda 2010 aber auch zurückgezogen. Sie mussten die Erfahrung machen, dass die Regierung ihre Vorhaben trotz massiver Proteste durchgesetzt hatte.

Zudem bestimmte nun die Angst das Leben der Menschen mit wenig Geld. Die Androhung von Sanktionen war ein Disziplinierungsinstrument, das längst nicht mehr nur Arbeitslose betraf. Unter den Hartz-IV-Bezieher waren auch Aufstocker, die einer Lohnarbeit nachgingen, von der sie nicht leben konnten.

Viele Lohnabhängige wollten nun alles vermeiden, um nicht in Hartz IV zu fallen. Das bedeutete, dass sie viel weniger rebellierten und auch längere Arbeitszeiten und niedrigere Löhne in Kauf nahmen, nur um nicht unter die Hartz-IV-Gesetze zu fallen. Auch auf der EU-Ebene hatte die Agenda 2010 eine fatale Wirkung.

Ein Dumpingwettbewerb bei den Löhnen nach unten setzte ein. Die Regierungen vieler anderer EU-Staaten versuchten, Programme nach dem Vorbild der Agenda 2010 durchzusetzen, mit der Begründung, dass sie sonst gegenüber der deutschen Wirtschaft nicht konkurrenzfähig seien. Vor allem in Griechenland, Frankreich, Belgien und Spanien kam es zu massiven sozialen Protesten gegen diese Politik.

Gegen die Agenda 2010 auf EU-Ebene

Während der Serie von Krisenprotesten an der Peripherie der EU-Länder in den Jahren 2011 bis 2013 thematisierten soziale Initiativen und Gewerkschafter aus verschiedenen EU-Ländern den Zusammenhang zwischen der Durchsetzung der Agenda 2010 und der Austeritätspolitik in vielen anderen EU-Staaten.

Damals keimte ein letztes Mal die Hoffnung auf, dass es nun möglich sein könnte, die Politik der Agenda 2010 über Ländergrenzen hinweg zu stoppen.

Denn vor allem in Spanien und Griechenland waren die Proteste gegen die Sparpolitik enorm. In Griechenland gab es mit dem Antritt der linken Syriza-Regierung sogar parlamentarische Mehrheiten für ein Ende der Austeritätspolitik.

Doch sie scheiterten an der harten Haltung der EU-Troika. Eines ihrer Gesichter war Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, ein glühender Verfechter der Agenda 2010 in Deutschland, der sie nun auf EU-Ebene ausweiten wollte. In Deutschland waren die sozialen Proteste in den Jahren 2011-12 deutlich schwächer als in anderen Ländern.

Viele, die noch 2004 gegen Hartz IV auf die Straße gegangen waren, beteiligten sich nicht mehr. In dieser Zeit etablierte sich eine neue Partei, die wie Bild und andere konservative Zeitungen dagegen polemisierte, dass "deutsche Steuergelder" an "Pleitegriechen" verschenkt würden. Dies war anfangs ein wichtiges Mobilisierungsthema der neu gegründeten AfD.

Bis heute gehört sie zu den strikten Befürwortern der Agenda 2010 und ist sich in dieser Frage mit Politiker*innen von Union und FDP einig. Die AfD gehört aber auch zu den direkten Profiteuren der Agenda-2010-Politik: Mit ihrer Durchsetzung setzte bei vielen Betroffenen eine Entsolidarisierung ein.

Man wollte sich abgrenzen von anderen einkommensschwachen Menschen wie Bürgergeldempfängern oder Menschen ohne deutschen Pass. Die aktuelle Debatte gegen das Bürgergeld zeigt, wie diese Spaltung funktioniert. So hat die Durchsetzung der Agenda 2010 zum Aufstieg neuer rechter Parteien beigetragen, in Deutschland und auch auf EU-Ebene.

Peter Nowak Der Autor ist Mitherausgeber des Buches "Klassenlos - Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten" (https://diebuchmacherei.de/produkt/klassenlos-sozialer-widerstand-von-hartz-iv-bis-zu-den-teuerungsprotesten/), das im Verlag Die Buchmacher erschienen ist.