Vor Gericht und auf hoher See
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Recht und Moral in der Dissensgesellschaft - Kapitel 1
Im Jahr 2016 wird in Lahore (Pakistan) eine 16-jährige Frau von ihrer Mutter lebendig verbrannt. Ihr Verbrechen lag darin, den Mann ihrer Wahl geheiratet zu haben. Über 1.000 Fälle dieser und ähnlicher Art werden jährlich in Pakistan polizeilich registriert. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Junge Frauen müssen sterben, weil sie sich "moralisch falsch" verhalten. Ein Schutzgesetz wird nicht verabschiedet, weil religiös gebundene Politiker das Parlament blockieren. In der Schweiz gilt ein Tierschutzgesetz, das einem Wellensittich den Anspruch auf eine Lebensgefährtin/Lebensgefährten einräumt. Alles andere wäre unmenschlich. Wenn das Wohlergehen eines Wellensittichs hier geschützter ist als die eines verliebten Mädchens dort, bleibt die moralische und rechtliche Synchronisierung der globalen Verhältnisse ein frommer Wunsch.
Waren diese Probleme zunächst Betrachtungen jenseits der Grenzen, werden gegenwärtig die sozialethischen Minima westlicher Gesellschaften vor Ort angetestet. Im Juni 2016 berichten Medien, dass mit den Flüchtlingen auch "Kinderbräute" nach Deutschland kommen. Welcome Refugees. Ihr seid unsere moralische Frage. Hier entzünden sich Wertkonflikte, die normative Entscheidungsprobleme aufwerfen. Werden Gesetze notwendig, diese Ehen zu annullieren und die Minderjährigen staatlich zu schützen? Oder verlangt die Toleranz gegenüber fremden Wertsystemen, solche Ehen hinzunehmen?
Wer diese Fragen bereits im Selbstverständnis des "freien Westens" für vorentschieden hält, mag sich vorsehen. Die moralische Selbstbeschreibung der unhintergehbaren Freiheit unserer Lesart stößt auf eine disparate Topografie inkompatibler Wertsysteme, Dunkelzonen der Menschenrechtsverletzungen und krassen Unrechts. Die rechtlichen wie moralischen Abschichtungen zwischen freiheitlichen Demokratien und Schurkenstaaten, Rechts- und Unrechtsstaaten, Terrororganisationen und Geheimdiensten, gerechten und ungerechten Kriegen werden permanent provoziert.
Einer, der auszöge, das Fürchten zu lernen, hätte von Guantanamo Bay bis Pjöngjang, von Abu Ghuraib bis Falludscha und vielen anderen Unrechts- und Katastrophenorten reichlich Gelegenheit seine Resilienz gegenüber den juristischen und moralischen Ungeheuerlichkeiten einer globalen Dissensgesellschaft anzutesten. Dort, wo die normativen Verfestigungen westlicher Freiheit nicht mehr gelten, übt die Weltgesellschaft die Verdrängung der dunklen Seite der demokratischen Macht. Die CIA kooperierte mit anderen Ländern, um in Geheimgefängnissen außer Landes den eigenen Rechtsstaat zu vergessen. Der Kenntnisstand der US-Regierung über diese rechtsfreien Räume reichte nicht weit. Die Taliban wurden so oft besiegt, dass inzwischen keiner mehr an ihren Untergang glaubt. Das Vertrauen in die demokratisch vorgesehene, juristische Kontrolle unserer Sicherheitsagenturen wurde schwer beschädigt.
Dieser Moralexport und viele seiner Varianten unterminieren die globalen Träume einer Annäherung von kulturell heterogenen Wertwelten. Wer akzeptiert eine Moralberatung von Protagonisten der Freiheit, die ihre eigenen Werte mit Füßen treten? Oder sind das nur punktuelle Exzesse freiheitlicher Gesellschaften, deren rechtsstaatliche Grundierung stark genug ist, die verfassungsrechtlich abgesicherten Freiheitsproklamationen einzulösen?
Die Geschichte des Rechts ist das generationenübergreifende Drama einer zerstrittenen Menschheit. Die Topografie von Herrschern und Unterworfenen, Gesetzgebern und Gerechtigkeitssuchern, Richtern und Revolutionären, Bürgern und Bösewichten mag in der metaphorischen Unterscheidung von "Land und Meer" beschrieben werden: Das Recht erdet die aus dem Lot geratene Welt in seinen Sicherheiten, Institutionen, Gesetzeswerken, Rechtsdogmen, Ewigkeitsklauseln, Hochsicherheitstrakten und Ordnungskräften.
Zur maritimen Seite hin sieht es anders aus: Normfluten, Rechtsstreitigkeiten, die sich auf Jahrhunderte erstrecken, Gerechtigkeitskollisionen, die die Gerechtigkeit gegen sich selbst richten, Schauprozesse und Selbstjustiz, Parallelwelten in religiös streitbaren Gemeinden und in der elenden Zwangsgemeinschaft "Knast".
Vor allem aber bestimmt eine Einsicht den Kurs, der Sebastians Brants Narrenschiff als Flaggschiff der christlichen Seefahrt erscheinen lässt: "Vor Gericht und auf hoher See bist Du in Gottes Hand allein." Dieser Notruf, der auf deutschen Gerichtsfluren längst in der Wiederholungsschleife läuft und von dem die Boulevardpresse nicht schlecht lebt, folgt nicht lediglich mangelnden Navigationskünsten untergehender Prozessparteien im Angesicht eines übermächtigen Gerichts. Viele Profis formulieren das nicht weniger eindeutig: "In Deutschland kann man, statt einen Prozess zu führen, ebenso gut würfeln", erklärte der Bundesverfassungsrichter a.D. Prof. Willi Geiger1.
Der Glaube an die harmonische Verschränkung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Verfahren als Trias des Rechtsstaats ist unrettbar verloren. "Die Rechtsprechung ist schon seit langem konkursreif. Sie ist teuer, nicht kalkulierbar und zeitraubend. Der Lotteriecharakter der Rechtsprechung, das autoritäre Gehabe, die unverständliche Sprache und die Arroganz vieler RichterInnen im Umgang mit dem rechtsuchenden Bürger schaffen Misstrauen und Ablehnung".2
Warum richten sich also zahllose Kritiken gegen die Unvorhersehbarkeit des Rechtssystems und besteht gleichzeitig die allergrößte Bereitschaft, das je eigene Recht mit viel Aufwand einzufordern und überzeugt zu sein, das Gericht werde das so und nicht anders sehen? Bereits das ist ein paradoxer Befund: Wenn das Recht unberechenbar ist, müsste es doch besser sein, einen großen Bogen um Prozesse und Gerichte zu machen.
Fundamental ist die Selbstkritik der Zunft, die der literarisch hochbegabte Jurist Goethe so formulierte: "Es erben sich Gesetz und Rechte // Wie eine ew'ge Krankheit fort; // Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte // und rücken sacht von Ort zu Ort. // Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage…" Mephistopheles und Goethe waren beide vom Fach. Der Umschlag des Rechts in Unrecht ist der Widerstreit, der sich als Daseinsberechtigung ausweist. Mephisto wurde zum Namensgeber eines Prinzips, dass sich an der diesem Ort die Dinge in ihr Gegenteil verkehren können: Gerechtigkeit verwandelt sich in Ungerechtigkeit, Recht wird zu Unrecht. Das begründet den Verdacht, dass es für Gesellschaften wichtiger ist, ein Rechtssystem zu besitzen, als die Frage zu beantworten, ob es widerspruchsfreien Prinzipien folgt oder gar Gerechtigkeit im höheren oder höchsten Sinne produziert. Dieser von Zweifeln geplagte Glaube an den Rechtsstaat wird durch überlang dauernde Verfahren bei Behörden und Gerichten vermutlich stärker unterminiert als durch (dem Gesetz der Statistik folgend) ungerechte Entscheidungen.
So wie sich die Produktion unter Marktbedingungen regelmäßig nicht an individuellen Konsumenten, sondern Konsumententypen orientiert, sind Regeln für große Kollektive generalistisch, was die individualisierende Betrachtung zur besonderen Legitimationsproblematik vieler Verfahren werden lässt. Das beeinträchtigt nicht die großen Ordnungsleistungen des Rechtssystems, wohl aber die Befriedigung und Befriedung des Einzelnen im Recht. Wenn Verursacher einer Verkehrsordnungswidrigkeit ein individualisierendes Verfahren einfordern, stoßen sie - zu Recht! - auf Grenzen. Wer sich mit höchsten Hoffnungen dem Recht anvertraut, um für die Ungerechtigkeiten kompensiert zu werden, die ihm von seinem Ehepartner, Nachbarn, Chef oder gar der Gesellschaft bzw. den "Verhältnissen" zugefügt wurden, wird überraschend erfahren, wie weit die Selbstbeschränkungsbereitschaft des Rechts reicht.
Noch erstaunlicher ist, dass solche Überraschungen aus den herrschenden Ansichten über die Funktionsweise dieses Systems regelmäßig ausgeblendet werden. "Die Gesellschaft ist einfach zu der neuen Gottheit geworden, an die wir unsere Klagen und Schadensersatzforderungen richten, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllt, die sie geweckt hat."3
Diese klassisch liberalistische Feststellung markiert eine unwiderrufliche Zuständigkeitsverlagerung, die sämtliche Agenturen des Staates betrifft. Liberale befürchten, dass der Sozialstaat, der als Wohlfahrtsstaat verdächtigt wird, dem omnipotenten Regulierungsstaat gefährlich nahekommt. Der Glaube, dass der Sozialstaat die Bürger in eine ökonomische Abhängigkeit schickt und die Eigentumsordnung konterkariert, ist ein hartnäckiges liberalistisches Credo. Je stärker Technologien zum Wegfall von Arbeitskräften führen, ohne dass Arbeitsplätze nachwachsen, wird dieser parareligiöse Freiheitsmythos immer weniger Gläubige erreichen.
Doch man muss weiter ausgreifen, um die Verunsicherungen gegenüber einem Rechtssystem zu deuten, dessen Gerechtigkeitsprogramm die eigene Demontage gleich mitzuliefern scheint. Den Wechsel von metaphysischen Entschädigungsinstanzen zu irdischen wollen viele Beobachter nicht nachvollziehen, weil die weltlichen Surrogate göttlicher Vorsehung und eines unhintergehbaren Willens die Verhaltenserwartungen von Rechtssuchenden nicht (mehr) befriedigen. Die Gerichte operieren zwar vorgeblich häufig "in der Verantwortung vor Gott", aber stellen ihre Fehlbarkeit seit Jahrtausenden tagtäglich unter Beweis.
Die Verhältnisse waren nie gerecht, zuvor aber in göttlich erfüllten Gerechtigkeitskonzeptionen so harmonisierbar, dass sie mit dem erlittenen Schicksal versöhnten. Wenn sich Gott nach der alten Glaubensregel "Credo, quia absurdum est" ("Ich glaube, weil es unvernünftig ist") nicht erwartungsgemäß verhält, durfte auch dieses Systemversagen als vorläufig unerforschliche Weisheit auf Gottes unbegreiflichen Wegen ausgelegt werden. Vorrationale Gerechtigkeitskonzeptionen bieten den immensen Vorteil, dass jenseits von Antigone und ihren spätmodernen Brüdern wie Schwestern nicht jede Entscheidung auf die individuelle Richtigkeitsauffassung heruntergebrochen werden musste:
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Matthäus 5,10
Die Auflösung ungerechter Verhältnisse durch eine posthume Kompensationsgarantie trägt erheblich zur Selbstbeschwichtigung bei, die im querulatorisch gefährdeten Prozess der Gerechtigkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Staat kann zu seinen Gunsten eine göttliche Exklusivität, unhinterfragt über den Verhältnissen zu schweben, nicht mehr erfolgreich reklamieren. Er steht in einer sich ausdifferenzierten Welt unter immer größerem Rechtfertigungsdruck, was nicht nur Apokalyptiker als Existenzkrise wahrnehmen.
Weniger denn je greifen Gesellschaften auf einen Kanon unerschütterlicher Regelungsgrundsätze zurück, wenn sie von den Anmutungen einer globalen Weltwirtschaft, heterogen strukturierten Gesellschaften und Techno-Visionen eingeholt werden, die tief in die moralische Konstitution des Menschen eingreifen. Die Differenz der Meinungen, der Bruch von Regeln, die Kollision von Werten beschreiben den kriegerischen "Normalzustand", der in Normtatbeständen aufgefangen, entfaltet und entschärft werden soll.
Irdische Gerichte versagen als Schicksalskompensationsinstanzen, so oft sie auch als solche missdeutet werden. Dem Recht werden Aufgabenerfüllungen zugemutet, die bei anderen gesellschaftlichen Agenturen besser aufgehoben wären oder aber solchen, die nicht von Menschen Maß bestimmt werden, also dem "Jüngsten Gericht" und ähnlichen Totalrevisionen. Das Dilemma quält: So lange bis sich die göttliche Gerechtigkeit vollzieht, möchte man regelmäßig nicht warten und muss bereit sein, auch weniger vollkommene Entscheidungen zu treffen und zu ertragen.