Vor Gericht und auf hoher See

Seite 4: Back to the roots?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kann man nicht das für gerecht halten, was "natürlich" ist? Der Rückgriff auf die Natur ist ein ebenso klassischer wie riskanter Gestus, das Recht zu justieren. Für Aristoteles war es eine natürliche Tatsache, dass Menschen zusammenleben. Der Mensch ist von Natur aus ein Sozialwesen und sein Wunsch, gut zu leben, setzt politisches Handeln voraus. Das beantwortet längst nicht die Frage, nach welchen Kriterien dieses Zusammenleben als "natürlich" zu gelten hat.

Selbst wenn die den Regeln der antiken Polis folgende Sozialstruktur zum Beleg herangezogen worden wäre, wird dieses Kriterium in späteren Gesellschaften immer unschärfer bis unterbestimmt, wenn die äußeren Bedingungen eines Gemeinwesens sich radikal wandeln. Die verwickelte Geschichte des Naturrechts ist vor dem Hintergrund einer immer fortgeschritteneren Naturbeherrschung zu lesen, in der Glaube an die Natürlichkeit als Rechtsquelle immer fragwürdiger wird. Das schärfste Verdikt gegen das Naturrecht stammt vermutlich von Jeremy Bentham in seiner berühmten Betrachtung aus dem Jahre 1795 zur französischen Menschenrechtserklärung:

Natürliche Rechte sind schlichter Unsinn: natürliche und veräußerliche Rechte, rhetorischer Unsinn, - Unsinn auf Stelzen.

Benthams Erregung über den Unsinn verdankt sich dem starken Glauben nicht nur an die Kraft des positiven Rechts, sondern an konkretisierbare Regelungsinhalte. Insofern werden Menschenrechte in dieser Lesart nicht besser, wenn sie kodifiziert werden, aber inhaltsleer blieben. Das Naturrecht will in besonderer Weise überzeugen, weil es jeder verstehen, wenn nicht "erfühlen" kann, während die positiven Gesetze nicht viel mehr zu besagen scheinen, als dass sie funktionieren, weil sie funktionieren.

Die Attraktivität natürlicher Rechte liegt in ihrer hervorragenden Kombinierbarkeit mit aufklärerischen, ökonomischen und politischen Interessen. Wenn es ein natürliches freies Recht auf Schifffahrt gibt, wie es Hugo Grotius nicht zuletzt für niederländische Interessen formulierte, konnten andere Staaten, insbesondere konkurrierende Seefahrernationen, nicht mit partikularen Regelungen eingreifen. Wenn die Gemeinsamkeit ein natürlicher Wesenszug der Gattung "Mensch" ist, werden Privilegien begründungsbedürftig. Wie ambivalent solche Ableitungen sind, wird spätestens an diesem Umschlagplatz der juridischen Gleichheit klar. So formuliert § 16 des österreichischen ABGB heute noch (in der damaligen Schreibweise):

Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.

Laien halten oftmals eine Entscheidung für ungerecht, ohne dieses Gerechtigkeitsgefühl im positiven Recht wiederzufinden. Juristen denken in ihrer Praxis nicht allzu oft an Gerechtigkeit, wenn doch das Rechtssystem durch den Rekurs auf seinen höchsten Wert regelmäßig nicht direkt zu beeinflussen ist - anders formuliert: bereits beantwortet ist. Für Friedrich Dürrenmatt stehen Gerechtigkeit und Recht in einem Ausschlussverhältnis: "Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat." Ähnlich beschrieb Walter Benjamin zuvor diese Nichtbeziehung:

Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.

Der Richter ist in einer komfortablen Situation. "Ein Richter spricht Recht, insofern er das Recht hat, Recht zu sprechen: damit mündet der unendliche Regress in einen Kreislauf, der Kompetenz heißt."8 Das schafft ab einem bestimmten Grad der Ausdifferenzierung für Prozessbeobachter Verdruss, der durch bestimmte Rechtsarten noch verstärkt wird. Was im Steuerrecht gerecht oder ungerecht ist, wissen "in letzter Instanz" die Götter - die aber eben gegenwärtig nicht mehr tätig werden und vorläufig nicht befragt werden können. So wird der oberste, höchste Wert, der das Rechtssystem zusammenhält, von einer einst strahlenden zu einer zwielichtigen Kategorie.

"Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur." Julius von Kirchmann beklagte, dass die juristische Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht und darüber selbst zur Zufälligkeit wird. Kirchmanns Generalvorbehalt gegen das fragile Recht in seinem Vortrag "Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" (1848) artikulierte, was viele vor und nach ihm dachten: Wie kann eine Wissenschaft, die sich dem Richtigen, Gerechten nicht nur in der Theorie verschreibt, so zufällig in ihren Ergebnissen erscheinen? Wo ist die Fortschrittsfunktion einer Wissenschaft, die sich in wuchernden Regelungswerken ständig neu zu erfinden scheint?

Immanuel Kant, der den kategorischen Imperativ als vorderhand griffige Formel einer formal definierten Gerechtigkeit präsentierte, wusste andererseits um die Widerspenstigkeit der Wirklichkeit gegen aufgedrängte Prinzipien:

Wohlfahrt aber hat kein Princip, weder für den, der sie empfängt, noch der sie austheilt (der eine setzt sie hierin, der andere darin): weil es dabei auf das Materiale des Willens ankommt, welches empirisch und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist.

Diese Begriffsschwäche wird über die moralischen Fronten hinaus immer wieder zum Thema. Für Friedrich Nietzsche war die "allgemeine Wohlfahrt kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel". Bei Nietzsche spürt man das Ressentiment gegenüber einer Gesellschaft, in der die Existenz des Einzelnen zu einer sozialstaatlichen Verrechnungseinheit verkümmert.

Die Normierung, weit über den Begriff des Rechts hinaus verstanden, schien das Signum des Industriezeitalters zu sein. Gehören nicht die Formalisierung der Ethik, die Standards der Industriegesellschaft und die Vermassung des Einzelnen zu einer gesellschaftlichen Tendenz, auf die eine faschistische Politik gut zugreifen kann?

Jonathan Littell zeigte in seinem kontrovers diskutierten Roman "Die Wohlgesinnten", wie sich die Implementation des formalistischen Geistes in einen faschistischen Kontext fast mühelos bewerkstelligen lässt: Verkoppelt man die Kantische Pflichtethik mit dem Prinzip "Führerworte haben Gesetzeskraft" gelangt man zu einem neuen, nicht weniger kategorischen Imperativ: "Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde. Es gibt keinen Widerspruch zwischen diesem Prinzip und dem kategorischen Imperativ."

In dem fiktiven Gespräch des Protagonisten mit Eichmann wird die Anschlussfähigkeit der moralischen Meisterphilosophie an den antirationalistischen Führerkult demonstriert. An diesem wunden Punkt der formalen Vernunft wird das Dilemma fundamentaler Begründungen offengelegt: die fatale Geschmeidigkeit, mit der sich hochmögende Ideen rekombinieren lassen, um unbehelligt von ihren Ursprungskontexten zu gefährlichen Überläufern zu werden.