Vor Gericht und auf hoher See

Recht und Moral in der Dissensgesellschaft - Kapitel 1

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Im Jahr 2016 wird in Lahore (Pakistan) eine 16-jährige Frau von ihrer Mutter lebendig verbrannt. Ihr Verbrechen lag darin, den Mann ihrer Wahl geheiratet zu haben. Über 1.000 Fälle dieser und ähnlicher Art werden jährlich in Pakistan polizeilich registriert. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Junge Frauen müssen sterben, weil sie sich "moralisch falsch" verhalten. Ein Schutzgesetz wird nicht verabschiedet, weil religiös gebundene Politiker das Parlament blockieren. In der Schweiz gilt ein Tierschutzgesetz, das einem Wellensittich den Anspruch auf eine Lebensgefährtin/Lebensgefährten einräumt. Alles andere wäre unmenschlich. Wenn das Wohlergehen eines Wellensittichs hier geschützter ist als die eines verliebten Mädchens dort, bleibt die moralische und rechtliche Synchronisierung der globalen Verhältnisse ein frommer Wunsch.

Waren diese Probleme zunächst Betrachtungen jenseits der Grenzen, werden gegenwärtig die sozialethischen Minima westlicher Gesellschaften vor Ort angetestet. Im Juni 2016 berichten Medien, dass mit den Flüchtlingen auch "Kinderbräute" nach Deutschland kommen. Welcome Refugees. Ihr seid unsere moralische Frage. Hier entzünden sich Wertkonflikte, die normative Entscheidungsprobleme aufwerfen. Werden Gesetze notwendig, diese Ehen zu annullieren und die Minderjährigen staatlich zu schützen? Oder verlangt die Toleranz gegenüber fremden Wertsystemen, solche Ehen hinzunehmen?

Wer diese Fragen bereits im Selbstverständnis des "freien Westens" für vorentschieden hält, mag sich vorsehen. Die moralische Selbstbeschreibung der unhintergehbaren Freiheit unserer Lesart stößt auf eine disparate Topografie inkompatibler Wertsysteme, Dunkelzonen der Menschenrechtsverletzungen und krassen Unrechts. Die rechtlichen wie moralischen Abschichtungen zwischen freiheitlichen Demokratien und Schurkenstaaten, Rechts- und Unrechtsstaaten, Terrororganisationen und Geheimdiensten, gerechten und ungerechten Kriegen werden permanent provoziert.

Einer, der auszöge, das Fürchten zu lernen, hätte von Guantanamo Bay bis Pjöngjang, von Abu Ghuraib bis Falludscha und vielen anderen Unrechts- und Katastrophenorten reichlich Gelegenheit seine Resilienz gegenüber den juristischen und moralischen Ungeheuerlichkeiten einer globalen Dissensgesellschaft anzutesten. Dort, wo die normativen Verfestigungen westlicher Freiheit nicht mehr gelten, übt die Weltgesellschaft die Verdrängung der dunklen Seite der demokratischen Macht. Die CIA kooperierte mit anderen Ländern, um in Geheimgefängnissen außer Landes den eigenen Rechtsstaat zu vergessen. Der Kenntnisstand der US-Regierung über diese rechtsfreien Räume reichte nicht weit. Die Taliban wurden so oft besiegt, dass inzwischen keiner mehr an ihren Untergang glaubt. Das Vertrauen in die demokratisch vorgesehene, juristische Kontrolle unserer Sicherheitsagenturen wurde schwer beschädigt.

Dieser Moralexport und viele seiner Varianten unterminieren die globalen Träume einer Annäherung von kulturell heterogenen Wertwelten. Wer akzeptiert eine Moralberatung von Protagonisten der Freiheit, die ihre eigenen Werte mit Füßen treten? Oder sind das nur punktuelle Exzesse freiheitlicher Gesellschaften, deren rechtsstaatliche Grundierung stark genug ist, die verfassungsrechtlich abgesicherten Freiheitsproklamationen einzulösen?

Die Geschichte des Rechts ist das generationenübergreifende Drama einer zerstrittenen Menschheit. Die Topografie von Herrschern und Unterworfenen, Gesetzgebern und Gerechtigkeitssuchern, Richtern und Revolutionären, Bürgern und Bösewichten mag in der metaphorischen Unterscheidung von "Land und Meer" beschrieben werden: Das Recht erdet die aus dem Lot geratene Welt in seinen Sicherheiten, Institutionen, Gesetzeswerken, Rechtsdogmen, Ewigkeitsklauseln, Hochsicherheitstrakten und Ordnungskräften.

Zur maritimen Seite hin sieht es anders aus: Normfluten, Rechtsstreitigkeiten, die sich auf Jahrhunderte erstrecken, Gerechtigkeitskollisionen, die die Gerechtigkeit gegen sich selbst richten, Schauprozesse und Selbstjustiz, Parallelwelten in religiös streitbaren Gemeinden und in der elenden Zwangsgemeinschaft "Knast".

Vor allem aber bestimmt eine Einsicht den Kurs, der Sebastians Brants Narrenschiff als Flaggschiff der christlichen Seefahrt erscheinen lässt: "Vor Gericht und auf hoher See bist Du in Gottes Hand allein." Dieser Notruf, der auf deutschen Gerichtsfluren längst in der Wiederholungsschleife läuft und von dem die Boulevardpresse nicht schlecht lebt, folgt nicht lediglich mangelnden Navigationskünsten untergehender Prozessparteien im Angesicht eines übermächtigen Gerichts. Viele Profis formulieren das nicht weniger eindeutig: "In Deutschland kann man, statt einen Prozess zu führen, ebenso gut würfeln", erklärte der Bundesverfassungsrichter a.D. Prof. Willi Geiger1.

Der Glaube an die harmonische Verschränkung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Verfahren als Trias des Rechtsstaats ist unrettbar verloren. "Die Rechtsprechung ist schon seit langem konkursreif. Sie ist teuer, nicht kalkulierbar und zeitraubend. Der Lotteriecharakter der Rechtsprechung, das autoritäre Gehabe, die unverständliche Sprache und die Arroganz vieler RichterInnen im Umgang mit dem rechtsuchenden Bürger schaffen Misstrauen und Ablehnung".2

Warum richten sich also zahllose Kritiken gegen die Unvorhersehbarkeit des Rechtssystems und besteht gleichzeitig die allergrößte Bereitschaft, das je eigene Recht mit viel Aufwand einzufordern und überzeugt zu sein, das Gericht werde das so und nicht anders sehen? Bereits das ist ein paradoxer Befund: Wenn das Recht unberechenbar ist, müsste es doch besser sein, einen großen Bogen um Prozesse und Gerichte zu machen.

Fundamental ist die Selbstkritik der Zunft, die der literarisch hochbegabte Jurist Goethe so formulierte: "Es erben sich Gesetz und Rechte // Wie eine ew'ge Krankheit fort; // Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte // und rücken sacht von Ort zu Ort. // Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage…" Mephistopheles und Goethe waren beide vom Fach. Der Umschlag des Rechts in Unrecht ist der Widerstreit, der sich als Daseinsberechtigung ausweist. Mephisto wurde zum Namensgeber eines Prinzips, dass sich an der diesem Ort die Dinge in ihr Gegenteil verkehren können: Gerechtigkeit verwandelt sich in Ungerechtigkeit, Recht wird zu Unrecht. Das begründet den Verdacht, dass es für Gesellschaften wichtiger ist, ein Rechtssystem zu besitzen, als die Frage zu beantworten, ob es widerspruchsfreien Prinzipien folgt oder gar Gerechtigkeit im höheren oder höchsten Sinne produziert. Dieser von Zweifeln geplagte Glaube an den Rechtsstaat wird durch überlang dauernde Verfahren bei Behörden und Gerichten vermutlich stärker unterminiert als durch (dem Gesetz der Statistik folgend) ungerechte Entscheidungen.

So wie sich die Produktion unter Marktbedingungen regelmäßig nicht an individuellen Konsumenten, sondern Konsumententypen orientiert, sind Regeln für große Kollektive generalistisch, was die individualisierende Betrachtung zur besonderen Legitimationsproblematik vieler Verfahren werden lässt. Das beeinträchtigt nicht die großen Ordnungsleistungen des Rechtssystems, wohl aber die Befriedigung und Befriedung des Einzelnen im Recht. Wenn Verursacher einer Verkehrsordnungswidrigkeit ein individualisierendes Verfahren einfordern, stoßen sie - zu Recht! - auf Grenzen. Wer sich mit höchsten Hoffnungen dem Recht anvertraut, um für die Ungerechtigkeiten kompensiert zu werden, die ihm von seinem Ehepartner, Nachbarn, Chef oder gar der Gesellschaft bzw. den "Verhältnissen" zugefügt wurden, wird überraschend erfahren, wie weit die Selbstbeschränkungsbereitschaft des Rechts reicht.

Noch erstaunlicher ist, dass solche Überraschungen aus den herrschenden Ansichten über die Funktionsweise dieses Systems regelmäßig ausgeblendet werden. "Die Gesellschaft ist einfach zu der neuen Gottheit geworden, an die wir unsere Klagen und Schadensersatzforderungen richten, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllt, die sie geweckt hat."3

Diese klassisch liberalistische Feststellung markiert eine unwiderrufliche Zuständigkeitsverlagerung, die sämtliche Agenturen des Staates betrifft. Liberale befürchten, dass der Sozialstaat, der als Wohlfahrtsstaat verdächtigt wird, dem omnipotenten Regulierungsstaat gefährlich nahekommt. Der Glaube, dass der Sozialstaat die Bürger in eine ökonomische Abhängigkeit schickt und die Eigentumsordnung konterkariert, ist ein hartnäckiges liberalistisches Credo. Je stärker Technologien zum Wegfall von Arbeitskräften führen, ohne dass Arbeitsplätze nachwachsen, wird dieser parareligiöse Freiheitsmythos immer weniger Gläubige erreichen.

Doch man muss weiter ausgreifen, um die Verunsicherungen gegenüber einem Rechtssystem zu deuten, dessen Gerechtigkeitsprogramm die eigene Demontage gleich mitzuliefern scheint. Den Wechsel von metaphysischen Entschädigungsinstanzen zu irdischen wollen viele Beobachter nicht nachvollziehen, weil die weltlichen Surrogate göttlicher Vorsehung und eines unhintergehbaren Willens die Verhaltenserwartungen von Rechtssuchenden nicht (mehr) befriedigen. Die Gerichte operieren zwar vorgeblich häufig "in der Verantwortung vor Gott", aber stellen ihre Fehlbarkeit seit Jahrtausenden tagtäglich unter Beweis.

Die Verhältnisse waren nie gerecht, zuvor aber in göttlich erfüllten Gerechtigkeitskonzeptionen so harmonisierbar, dass sie mit dem erlittenen Schicksal versöhnten. Wenn sich Gott nach der alten Glaubensregel "Credo, quia absurdum est" ("Ich glaube, weil es unvernünftig ist") nicht erwartungsgemäß verhält, durfte auch dieses Systemversagen als vorläufig unerforschliche Weisheit auf Gottes unbegreiflichen Wegen ausgelegt werden. Vorrationale Gerechtigkeitskonzeptionen bieten den immensen Vorteil, dass jenseits von Antigone und ihren spätmodernen Brüdern wie Schwestern nicht jede Entscheidung auf die individuelle Richtigkeitsauffassung heruntergebrochen werden musste:

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Matthäus 5,10

Die Auflösung ungerechter Verhältnisse durch eine posthume Kompensationsgarantie trägt erheblich zur Selbstbeschwichtigung bei, die im querulatorisch gefährdeten Prozess der Gerechtigkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Staat kann zu seinen Gunsten eine göttliche Exklusivität, unhinterfragt über den Verhältnissen zu schweben, nicht mehr erfolgreich reklamieren. Er steht in einer sich ausdifferenzierten Welt unter immer größerem Rechtfertigungsdruck, was nicht nur Apokalyptiker als Existenzkrise wahrnehmen.

Weniger denn je greifen Gesellschaften auf einen Kanon unerschütterlicher Regelungsgrundsätze zurück, wenn sie von den Anmutungen einer globalen Weltwirtschaft, heterogen strukturierten Gesellschaften und Techno-Visionen eingeholt werden, die tief in die moralische Konstitution des Menschen eingreifen. Die Differenz der Meinungen, der Bruch von Regeln, die Kollision von Werten beschreiben den kriegerischen "Normalzustand", der in Normtatbeständen aufgefangen, entfaltet und entschärft werden soll.

Irdische Gerichte versagen als Schicksalskompensationsinstanzen, so oft sie auch als solche missdeutet werden. Dem Recht werden Aufgabenerfüllungen zugemutet, die bei anderen gesellschaftlichen Agenturen besser aufgehoben wären oder aber solchen, die nicht von Menschen Maß bestimmt werden, also dem "Jüngsten Gericht" und ähnlichen Totalrevisionen. Das Dilemma quält: So lange bis sich die göttliche Gerechtigkeit vollzieht, möchte man regelmäßig nicht warten und muss bereit sein, auch weniger vollkommene Entscheidungen zu treffen und zu ertragen.

Im Anfang war das Recht

Im Anfang war das Recht? Eine der frühesten Aussagen zur kosmischen Streitkultur stammt von dem Vorsokratiker Heraklit. Danach ist Recht Streit und alles geschieht notwendig aus dem Streit heraus. "Polemos" ist das Prinzip der Weltordnung - was verkürzt mit "Krieg" übertragen werden kann. Der Konflikt, nicht die Harmonie, ist das zuverlässigste Element menschlichen Zusammenlebens.

Streit und Dissens, genauer: Mord und Totschlag ist in vielen Mythologien das vorgängige Weltverhältnis. Und die rechtlichen Konsequenzen folgen unmittelbar: Eva steht im Paradies unter Rechtfertigungszwang wegen der Verletzung eines göttlichen Verbots, das in der "Parallelwertung des Laien" schwer nachvollziehbar ist. Die Schlange ist als Anstifterin eine juridische Figur so wie Gott von der Rolle des Schöpfers schnell zu der des Richters wechselt. Die göttliche Entscheidung gegen Gottes Urgeschöpfe ist ein juristisches Drama, die Urgestalt des Prozesses schlechthin, der mit einem folgenreichen, bis heute und darüber hinaus reichenden Bannfluch beendet wird. Genau genommen ist es eine lebenslängliche Strafe mit dem paradoxen Effekt, dass der Mensch in diesem Gefängnis einer widerständigen Welt zur Freiheit und Selbstreflektion verurteilt wird.

Ist das beschwerdefähig? Der US-Senator Ernie Chambers leitete im Jahr 2007 ein Verfahren gegen Gott ein, um in einem Aufwasch die Theodizee, aber auch die grotesken Seiten der amerikanischen Justiz zu erledigen. Chambers behauptete, um seinen Antrag auf eine einstweilige Verfügung zu substantiieren, Gott sei für zahlreiche Katastrophen verantwortlich, angefangen von göttlichen Terror-Drohungen bis hin zu Naturkatastrophen ("Acts of God"). Gott habe ihn und Abermillionen von Erdbewohnern bedroht. Chambers berief sich auf Hiob und dessen Kinder. Die für Gott kritisch verlaufende Theodizee ist ein altes Motiv, das Voltaire in "Candide" gegen Leibniz' Wort der beste aller möglichen Welten wirkungsmächtig pointierte. Prozessual definiert gilt: "Die Auferstandenen klagen plötzlich in allen Sprachen Gott an: Das wahre jüngste Gericht."4

Dieser Prozess wäre die Antwort auf den vorhergehenden Paradiesprozess, der unter rechtsstaatlichen Kriterien revisionsbedürftig ist. Der Senator rechtfertigte sein Rechtsschutzbedürfnis im Übrigen mit dem justizkritischen und säkularen Hinweis auf zahlreiche "sinnlose" Verfahren. Chambers ist bisher nicht erfolgreich gewesen. Insbesondere lehnte im Oktober 2008 das Gericht den Antrag ab, weil eine Zustellung der Anklage an den Beschuldigten nicht möglich sei. Chambers akzeptierte das nicht. Denn wenn Gott doch alles wisse, kenne er ohnehin die Klageschrift.

Das unbrüderliche Verhältnis zwischen Kain und Abel, die nächste juristische Episode nach der zügigen Räumungsvollstreckung gegen Adam und Eva, gegen die keine Rechtsmittel vorgesehen waren, endet im Kapitalverbrechen. In diesen biblischen Auftakterzählungen der Menschheitsgeschichte werden Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren in illegitimen Schnellprozessen vollzogen. Die Geburt der Zivilisation aus dem Geist tödlicher Streitigkeiten ist der eigentliche Skandal dieser Mythen. Das Verhältnis des christlichen Gottes zu seinen Kindern folgt der Grundordnung des Dekalogs, ist also wesentlich präskriptiv geprägt, was durch die jedenfalls für Menschen unvorsehbare Gnade besonders unterstrichen wird.

So wie das Erwachen der Menschheit juridisch beginnt, endet die Geschichte der Gattung in christlicher Lesart wieder: Mit einem göttlichen Strafgericht, das sämtliche Verhältnisse juristisch bewertet und endgültig befriedet - im Guten wie im Bösen. Der Widerspruch zwischen der göttlichen Liebe und den grausamsten Strafen ist trotz kolossalen dogmatischen Einsatzes der Theologie für Menschen nicht auflösbar. "Denn ohne Zweifel ist nichts so sehr unsrer Vernunft anstößig, als wenn man sagt, daß die Sünde des ersten Menschen strafbar gemacht habe diejenigen, die, so weit ab von jenem Ursprung, unfähig scheinen daran Theil zu nehmen." (Blaise Pascal) Das Gottesgericht ist eine klassische Vorstellung, die das Verfahrensverständnis menschlicher Prozesse auch heute noch durchweht.

Die Verschränkung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit reicht weiter, als es in dieser Entscheidung thematisiert werden musste. "Fiat justitia, pereat mundus" - "Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde". Der Spruch, der in diversen Varianten ("Fiat justitia, ruat caelum - "Der Gerechtigkeit soll Genüge geleistet werden und wenn der Himmel einstürzt") seit der Renaissance überliefert ist, macht zugleich unmissverständlich klar, dass das Geschäft der Gerechtigkeit eine immerwährende Aufgabe ist. Wenn die Welt untergeht, endet die Justiz, so ungestillt die Gerechtigkeitsbegehren gegenüber einem Gericht auch sein mögen, über dessen Kontrollmöglichkeiten wenig bekannt ist.

Paradies wie Hölle sind als Schicksalsvollzugsanstalten von allen weiteren juridischen Aufgaben befreit, was mindestens den Verdacht aufkommen lässt, dass es sich "in the long run" um spannungsarme Orte handelt. Die Hölle ist im Übrigen unter der Geltung des Grundgesetzes eine verfassungswidrige Institution, weil sie die Überprüfung der ewigen Freiheitsstrafe ausschließt. Dass das Grundgesetz "in der Verantwortung vor Gott" verfasst wurde und es zugleich nicht nur an dieser Stelle biblischen Grundaussagen widerspricht, wenn es von der staatlichen Neutralitätsverpflichtung ausgeht, zeigt wie freischwebend bis paradox Wertungsfragen in fundamentalen Rechtstexten behandelt werden dürfen.

Bis zur völligen Auflösung des Juridischen in nachgeschichtlichen Zuständen ist ein Ende der Verrechtlichung unserer Lebensverhältnisse eher unwahrscheinlich. Das veranlasste Thomas Bernhard anzuklagen: "Die Welt eine ganz und gar, durch und durch juristische, wie Sie vielleicht nicht wissen. Die Welt ist eine einzige ungeheure Jurisprudenz. Die Welt ist ein Zuchthaus!"

Wo zwei oder mehr Menschen zusammenkommen, konstituieren sich rechtliche Beziehungen, die im Laufe der Jahrtausende immer differenzierter wurden. Streitigkeiten im Kinderzimmer eröffnen bereits einen luziden Einblick in eine Rechtspraxis, die ihre frühen Anfänge vergessen lässt. Bei den frühaufgeklärten "kids" herrschen inzwischen dezidierte Rechtsauffassungen. Ein aufgebrachter Siebenjähriger, dem seine Mutter entnervt eine Ohrfeige gegeben hatte, weil er mit einem Spielkameraden einen Höllenlärm gemacht hat, brüllt: "Für so was schlägt man doch kein Kind. Außerdem hättest Du mir vorher sagen müssen, dass ich aufhören soll." Kritik an der repressiven und vor allem rechtswidrigen Maßnahme und ihrer fehlenden "Vollzugsandrohung" setzen die Mutter unter gehörigen Legitimationsdruck.

Nicht nur diese fehlsame Mutter, die Szene ist alltäglich. Das Recht ist ein Anschauungsunterricht für Lebensweisen oder "Verkehrsformen", wie es vor Jahrzehnten hieß, die Gesellschaften erst formen. Hinter dieser Ordnung beginnt oft das Chaos. Schon Tacitus (58 n. Chr - 120 n. Chr) mahnte die Überregulierung in Zeiten an, in denen weder europäische Gurkengrößen noch globale Abgasskandale zu erörtern waren: "Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen." Das wurde in Zeiten beklagt, in denen Väter ihre Neugeborenen wie Hausmüll an der nächsten Ecke deponierten, ohne dass rechtlicher Regelungsbedarf gefordert worden wäre.

Im Zuge der Verrechtlichungen und Überregulierungen moderner Gemeinwesen wird häufig übersehen, dass mit der besseren Selbstaufklärung des Rechts über sich und seine Anwendungsfälle Kompetenzen geschwunden sind. Das Strafrecht hat seine übergriffige Zuständigkeit eingebüßt, "Hexen", Geisteskranke, Kinder oder sogar artübergreifend Tiere aburteilen zu können. Hier entsorgte das Recht, angeleitet von einer wissenschaftlich grundierten Aufklärung, diskriminierende Kategorien und etablierte Schutzzonen, die einem Rechtssystem der Zukunft gleichwohl immer noch rudimentär erscheinen könnten. Denn Gefängnisse und Psychiatrien, mit denen wir auf deviantes Verhalten antworten, könnten mit einem anderen Maßstab der Humanität vermessen späteren Standards der Menschenwürde fundamental widersprechen.

Vom Affenhügel zur zerstrittenen Weltgesellschaft

Selbst Affen kennen Gerechtigkeit. Fühlen sie sich ungerecht behandelt, reagieren sie so verärgert, dass sie sogar auf Belohnungen verzichten. Die Primaten warfen in einem Experiment Belohnungen, die sie sonst angenommen hätten, aus der Versuchskammer, wenn zuvor ein anderes Tier grundlos eine Belohnung erhalten hatte. Wenn Schimpansen Futter weggenommen wird, reagieren sie aggressiv. Doch wenn andere Tiere der Gruppe dasselbe Schicksal ereilt, nehmen sie daran keinen Anteil und greifen nicht ein. Die solidarische Dimension einer korrektiven Gerechtigkeit ist Tieren fremd.

Verkürzt lässt sich sagen, dass das Gerechtigkeitsempfinden eine evolutionäre Eigenschaft ist, die in ihrem sozialen Anspruch gemessen werden kann. So tritt die globale Moral nicht lediglich als eine verzerrte, hypertrophe Familienpolitik auf, sondern liegt in der Logik der Entgrenzung und Überschreitung - vom Oikos zur Polis, von der Gattung zum Mitgeschöpf, von der Dorfgemeinschaft zur Weltgesellschaft. Dass die Maßstäbe moralischen Handelns darüber zu Irritationen führen, ist das fundamentale Problem einer späten Moral, die sich immer weniger auf ihre Intuitionen verlassen kann. Denn je mehr Entscheidungskategorien zur Verfügung gestellt werden, desto unabsehbarer wird die Struktur moralischen Handelns.

Die Dynamik von Gerechtigkeitserwägungen, die gegeneinander streiten, ist über die Jahrtausende für das Selbstverständnis von Gesellschaften, ihren Aufgang und Niedergang, erheblich. Welcher Krieg wäre nicht auf die gerechte Sache gestützt worden, obwohl der "casus belli" seit je als Vorverlagerung der Nebel des Krieges gelten kann. Regelmäßig hat der Sieger Recht, wenn er seine Geschichte schreibt. Dabei ist die Trennschärfe zwischen Gerechtigkeit, Rache und Wut nicht selten so diffus, dass im Gebrüll der Parteien von der Idealität der Gerechtigkeit nicht viel übrigbleibt.

Im 18. und 19. Jahrhundert wird die Idee des "gerechten Krieges" zugunsten der Souveränität kriegführender Nationen verworfen, ohne dass die Rechtfertigung des Krieges nicht weiterhin jeden Krieg - auf beiden Seiten der Front - wenigstens propagandistisch begleitet hätte. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center wurde die Idee des "just war", des gerechten Kriegs, in dem "A Letter from America: What We're Fighting For" von zahlreichen Hochschulprofessoren erneut bemüht. Die primäre moralische Rechtfertigung des Kriegs sei es, Unschuldige zu schützen. Die diesem Programm folgenden Kriege gingen später als unter falschen Vorwänden geführte, mithin ungerechte Kriege in die Geschichte. So wenig Verlass auf gerechte Kriege ist, so wenig Vertrauen verdient eine Doktrin, die moralische Maßstäbe verabsolutiert.

Die weltliche Gerechtigkeit. - Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben - mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld jedermanns…

Von dieser Feststellung Friedrich Nietzsches, die mehr als hundert Jahre zurückliegt, sind wir immer noch weit entfernt, wenn das Bundesverfassungsgericht Ende 2007 konstatiert5:

Jede Strafe, nicht nur die Strafe für kriminelles Unrecht, sondern auch die strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht, setzt Schuld voraus. Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und dem Verschulden des Täters stehen. Dem Richter muss grundsätzlich die Möglichkeit belassen werden, die von ihm verhängte Strafe dem Grad des Verschuldens und der Schwere des Unrechts anzupassen, die im Einzelfall gegeben sind. Er darf nicht durch eine zu starre gesetzliche Strafandrohung gezwungen sein, eine Strafe zu verhängen, die nach seiner Überzeugung Unrecht und Schuld des Täters nicht entspräche.

Es geht nicht allein um die kategorial durch und durch unklare Frage, ob es "Schuld" als objektive Wirklichkeit einer Psyche gibt, sondern den Umstand, dass - wie Testverfahren zeigen - die Fiktion der Schuld, die Unterstellung, dass Menschen schuldig werden können, bereits ein höheres Verantwortungsgefühl begründet. Wenn die Differenz von Schuld und Unschuld erfolgreich vermittelt wird, ist das für Gesellschaften vorzugswürdig gegenüber der verwickelten Wahrheitsfrage, ob es überhaupt zulässig ist, Sanktionen mit fragilen Begrifflichkeiten wie "Schuld" zu legitimieren. Die Durchleuchtung menschlichen Verhaltens in der Psychologie und Psychoanalyse hat den juristisch vermessenen Menschen erledigt, was indes seinen weiteren Einsatz in der Strafjustiz nicht hindert.

Es geht nicht länger um die moralischen Kämpfe, die Nietzsche, Kierkegaard, Dostojewski und zahlreiche Moralisten wie Immoralisten als persönliche Krisen durchlitten. Moralentwürfe wie die Ethik des Existenzialismus, der den Menschen zum Entwurf seiner Freiheit auffordert, lösen immense Legitimationsprobleme aus. Ihrer Anmutung des aufwändigen moralischen Selbstentwurfs steht eine Mentalität entgegen, die "ganz entspannt im Hier und Jetzt" aus der Indifferenz eine Tugend macht.

Sich selbst Regeln zu geben, die zudem mit den Regeln anderer harmonieren, ist mühseliger und fehleranfälliger, als tradierte Regeln zu übernehmen - oder zu ignorieren. Der Umschwung moralischer Appelle in spätmoderne Indifferenz ist ein Effekt globaler Probleme und kognitiv überforderter Zeitgenossen. Zwischen Klimawandel, "MeToo" oder Migrationsproblemen werden viele apathisch gegenüber unzähligen moralischen Fragen, die uns tagtäglich im globalen Zugriff von Medien aufgedrängt werden. Die moralische Dauersensibilisierung hat den paradoxen Effekt, zugleich gegen globales Mitgefühl zu immunisieren.

Doch vor der Haustür anonymisieren sich die Rechtsbeziehungen auch. Unser Nachbar wird vor allem dann zu einer greifbaren Lebenswirklichkeit, wenn der juristische Klassiker "zuschlägt": Die Äste seines Gartens ragen auf unser Grundstück. Der Fetisch des unberührbaren Eigentums nötigt oft genug zur juristischen Bewertung von Empfindlichkeiten: "Die von den Klägern als wesentlich empfundene Beeinträchtigung durch den Klang herabfallender Eicheln im Herbst erachtet der Senat demgegenüber nicht als erhebliche Beeinträchtigung."6 Der Kläger wird es nicht eingesehen haben: Empfindlichkeit kennt keine Grenzen, Empfindlichkeit kennt kein Pardon.

Inzwischen geriert sich das Recht hysterisch und werden subjektive Ansprüche immer weiter aufgebläht: Im Jahr 2007 klagt der Verwaltungsrichter Roy Pearson in Washington auf Schadensersatz gegen eine Reinigung, die seine Hose in der Wäsche verloren hatte ("pants lawsuit"). Kostenpunkt: 54 Millionen Dollar, nachdem zunächst 67 Millionen Dollar gefordert waren. Die Reinigung warb schließlich mit einer Garantieerklärung "Satisfaction Guaranteed", was der nach dem verlorenen Prozess auch gleich aus dem Amt entlassene Richter so interpretierte, dass seine Befriedigung erst durch eine Entschädigungsleistung in Millionenhöhe wiederhergestellt werden könnte. Diesen Richtertypus stellte sich Aristoteles auf der Suche nach dem perfekten Richter mit dem göttlichen Fingerspitzengefühl für billige Entscheidungen vermutlich nicht vor.

Wer nicht Recht bekommt, bescheidet sich auf die immergrüne Regel: Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei. Doch von welchem Recht redet der, der ein höheres Recht als das von Gerichten ausgeurteilte zu kennen scheint? Dass dieses imaginäre Recht, dem nicht Genüge getan wurde, die konkrete Rechtsprechungspraxis ständig in Frage stellt, eines der prägenden Momente einer Dissensgesellschaft ist, gehört zu alltäglichen Gerichtspraxis. Das kann zu uneinholbaren Enttäuschungen führen, wenn die Parteien sich nicht "befriedet" fühlen - wie etwa in jenem Fall, in dem der Kläger auf einen Vergleichsvorschlag des Gerichts erwiderte: "Ich habe heute den Glauben an das deutsche Recht verloren". Der Beklagte stand auf und meinte: "Ich auch". Das ist nicht der Grundkonsens über ein gerechtes Verfahren, das das Gesetz meint, sondern die Einigkeit der Zerstrittenen, dem keine Rechtsprechung beikommt.

Die neuen Leiden des Gewissens

Wer vor einigen Jahrzehnten ein Hemd kaufte, entschied sich in einem simplen Bezugsrahmen, ob es ihm passte, ob es schön oder modisch schien oder/und ob er es sich leisten konnte. Diese Zeiten seligen Konsumierens sind vorbei. Könnte der geringe Preis dafür sprechen, dass es sich um Kinderarbeit handelt? Wurden die Mindestlohngrenzen bei dieser Produktion eingehalten? Ist auf das Fairtrade-Gütesiegel Verlass? Sind die verwendeten Materialien umweltfreundlich? Führt der Kauf der Einkaufstüte dazu, dass bald noch mehr Plastik im Meer schwimmt? Unterstütze ich mit diesem Kauf ein Monopolunternehmen? Ist es nicht verkehrt, ein Hemd zu tragen, das mich nolens volens zum Werbeträger einer Marke werden lässt?

Die Kaufentscheidung wird zu einem moralisch, rechtlich und kognitiv aufwändigen Vorgang, der kaum je zufriedenstellend gelöst werden kann, sondern den einzelnen Konsumenten in einen Regress von moralischen Fragen schickt. Die Wahrscheinlichkeit wird bei der Vielzahl von Variablen immer größer, dass die Entscheidung falsch ist. Vom Shoppen als Lifestyle-Akt zur spätmodernen Gewissensnot des schäbigen Konsumenten hat uns eine Moral geführt, die immer umfassender in ihren Zuständigkeitsansprüchen wurde.

Die Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber komplexen Gemengelagen des Weltgeschehens kann so hypertroph werden, dass wir uns moralisch von der Welt abwenden und von Verantwortung freizeichnen. Kommt es dann zur Rücknahme moralischer Differenzierungen und zahlreicher Rücksichtnahmen auf andere Interessen? Frühere Gesellschaften konnten mit dem ihnen mehr oder minder bekannten Weltelend gut leben, ohne die Vernetzungen von eigener Lebensweise und fremder sehen zu müssen. Aber droht nicht die Gefahr, dass diese Globalisierung moralischer Perspektiven zu einem Rückfall in eine moralische Unberührtheit fühlt?

Was globaler Politik und internationalen Rechtsordnungen nicht gelingt, wird jetzt dem einzelnen aufgebürdet. Das Gewissen ist ein plastisches bis korrumpierbares System moralischer Selbstprüfung. Je mehr Informationen und hypothetische Konsequenzen moralischer Entscheidungen eingespeist werden, desto diffuser gestalten sich Entscheidungen. Spende ich für Initiativen gegen den Hunger in der Dritten Welt oder führen solche Hilfen zu noch mehr Elend? Anlässlich der Seenotrettung von Flüchtlingen erfolgen regelmäßig so standardisierte wie erregte Diskurse über die Unabdingbarkeit unmittelbarer Hilfe in Lebensgefahr im Verbund mit Argumenten über die Folgen ungeregelter Migration. Jenseits der Alltäglichkeit moralischer Handlungen, die unmittelbar Unrecht und Elend korrigieren, werden Gewissensfragen "aporetisch", d.h. sie entführen uns in konsequentialistisch unabsehbare Szenarien.

Immanuel Kant beschrieb in der "Metaphysik der Sitten" das Gewissen so: "Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen ("vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen") ist das Gewissen." Jeder weiß, wie dieser Gerichtshof funktioniert. Es kommt zu einer Verdopplung des Selbst, der Mensch ist Angeklagter und Richter zugleich. Adam Smith hat in der "Theorie der ethischen Gefühle" diesen Konflikt mit dem Bild eines Spiegelkabinetts erfasst. Niemand entwickelt Moral aus sich selbst heraus. Die Gesellschaft vermittelt stattdessen in jedem Einzelnen moralische Ansprüche, die zur internen Kontrollinstanz werden, der das "kleine Ich", der zitternde Angeklagte, gegenübersteht. Der von Thomas von Aquin entfaltete Begriff "conscientia", das Mitwissen, kündet von dieser Spaltung, die vielleicht auch in der Semantik des "Gewissens" als eines gemeinschaftsbezogenen Wissens begründet ist.

Dass dieser innere Gerichtshof weder einer normierten Verfahrensordnung noch gefestigten Prinzipien folgt, hat jeder Mensch schon oft erlebt. Das Gewissen ist korrumpierbar. Je offener moralische Fragen in einer Gesellschaft erörtert werden, je mehr Dissens in einer Gesellschaft über die Prinzipien der Ethik herrscht, desto offener werden diese inneren Gerichtsverfahren, die auf viele sich widersprechende Argumente zurückgreifen können. Wer heute verantwortlich "Ich" sagt, meint die ganze Welt. Dieses Tribunal kann so unangenehm werden wie jedes Gericht, wenn uns Fragen an die Grenzen des moralisch Erträglichen treiben.

Moralische Appelle, die zum Standard politischer Verlautbarungen gehören und Betroffenheitskulturen, die unseren Alltag umranken, stumpfen langfristig ab. Viele Beobachter sind sich einig: Dieses späte Individuum ist eine überlastete Instanz, die im Druck von zahllosen Regelsystemen, zuvor unvorstellbaren Alltagsbeschleunigungen und einer explosiven Technologie dazu übergehen könnte, ein noch nicht kodifiziertes Menschenrecht auf Ignoranz und Erschöpfung einzufordern. Bei kognitiver Überlastung verschlechtern sich moralische Standards, wie die Verhaltensökonomie mehrfach demonstriert hat.

Die Fragilität von Sitten, Gebräuchen und Konventionen, die Demontage klassischer Institute des Zusammenlebens wie der Ehe können nicht umstandslos durch individuelle Neuentwürfe ersetzt werden. Institutionelle Sicherheiten präsentierten zuvor Antworten auf viele Fragen des alltäglichen Lebens, die heute erst gefunden werden müssen. Wir leben im Zeitalter der permanenten "Neujustierung" des Selbst in einem moralischen Gelände, dass ständig nachkartografiert werden muss.

Wie wertvoll wird in einer solchen Welt das Nichtwissen? Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst ein "Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung". Das schützt nach dem Bundesgerichtshof den Einzelnen davor, "Kenntnis über ihn betreffende genetische Informationen mit Aussagekraft für seine persönliche Zukunft zu erlangen, ohne dies zu wollen".7 Die "Lesbarkeit der Natur" (Hans Blumenberg) hat weitreichende Folgen für die juristische Behandlung sozialer Wirklichkeiten. Wenn "Schicksale" im Buch der Natur offengelegt werden, können juristische Anknüpfungen bereits im Vorgriff auf mögliche Zukünfte erfolgen. Der Visionär und Science-Fiction-Autor Philip K. Dick setzte im "Minority Report" dieses unheimliche Vorwissen für die Verbrechensbekämpfung ein, ein übersinnliches Wissen, das bereits vor der Entstehung des Verbrechens vorliegt. "Precrime" scheitert in Dicks moralischer Geschichte an Verlaufsformen, die sich der "Präkognition" entziehen. Einfach gesprochen: Nur das, was sich realisiert, ist Wirklichkeit.

Das präventive Prinzip konnte im Roman die je zu späte Reaktion der Justiz nicht ersetzen. Bleibt uns die logische Anordnung, erst Verbrechen, dann Aufklärung, dann Strafe auf ewig erhalten? "Precrime" macht gegenwärtig bei den Ordnungskräften im Rahmen von "Predictive Policing" bereits eine erstaunliche, wenn auch ausbaufähige Karriere. Der Aufklärungsalgorithmus verarbeitet zahlreiche Informationen, errechnet Verbrechensbegehungsmuster, vertraut auf "Repeat Victimisation" und kalkuliert auf Routineaktivitäten von Tätern und Opfern. Erbgutauswertungen und digital analysierte Verbrechensentstehungsgeflechte nebst zahllosen anderen potenziellen Algorithmen sind Instrumente für eine immer besser planbare Zukunft, die Orwells Überwachungsfantasien moderat erscheinen lassen mag.

Back to the roots?

Kann man nicht das für gerecht halten, was "natürlich" ist? Der Rückgriff auf die Natur ist ein ebenso klassischer wie riskanter Gestus, das Recht zu justieren. Für Aristoteles war es eine natürliche Tatsache, dass Menschen zusammenleben. Der Mensch ist von Natur aus ein Sozialwesen und sein Wunsch, gut zu leben, setzt politisches Handeln voraus. Das beantwortet längst nicht die Frage, nach welchen Kriterien dieses Zusammenleben als "natürlich" zu gelten hat.

Selbst wenn die den Regeln der antiken Polis folgende Sozialstruktur zum Beleg herangezogen worden wäre, wird dieses Kriterium in späteren Gesellschaften immer unschärfer bis unterbestimmt, wenn die äußeren Bedingungen eines Gemeinwesens sich radikal wandeln. Die verwickelte Geschichte des Naturrechts ist vor dem Hintergrund einer immer fortgeschritteneren Naturbeherrschung zu lesen, in der Glaube an die Natürlichkeit als Rechtsquelle immer fragwürdiger wird. Das schärfste Verdikt gegen das Naturrecht stammt vermutlich von Jeremy Bentham in seiner berühmten Betrachtung aus dem Jahre 1795 zur französischen Menschenrechtserklärung:

Natürliche Rechte sind schlichter Unsinn: natürliche und veräußerliche Rechte, rhetorischer Unsinn, - Unsinn auf Stelzen.

Benthams Erregung über den Unsinn verdankt sich dem starken Glauben nicht nur an die Kraft des positiven Rechts, sondern an konkretisierbare Regelungsinhalte. Insofern werden Menschenrechte in dieser Lesart nicht besser, wenn sie kodifiziert werden, aber inhaltsleer blieben. Das Naturrecht will in besonderer Weise überzeugen, weil es jeder verstehen, wenn nicht "erfühlen" kann, während die positiven Gesetze nicht viel mehr zu besagen scheinen, als dass sie funktionieren, weil sie funktionieren.

Die Attraktivität natürlicher Rechte liegt in ihrer hervorragenden Kombinierbarkeit mit aufklärerischen, ökonomischen und politischen Interessen. Wenn es ein natürliches freies Recht auf Schifffahrt gibt, wie es Hugo Grotius nicht zuletzt für niederländische Interessen formulierte, konnten andere Staaten, insbesondere konkurrierende Seefahrernationen, nicht mit partikularen Regelungen eingreifen. Wenn die Gemeinsamkeit ein natürlicher Wesenszug der Gattung "Mensch" ist, werden Privilegien begründungsbedürftig. Wie ambivalent solche Ableitungen sind, wird spätestens an diesem Umschlagplatz der juridischen Gleichheit klar. So formuliert § 16 des österreichischen ABGB heute noch (in der damaligen Schreibweise):

Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.

Laien halten oftmals eine Entscheidung für ungerecht, ohne dieses Gerechtigkeitsgefühl im positiven Recht wiederzufinden. Juristen denken in ihrer Praxis nicht allzu oft an Gerechtigkeit, wenn doch das Rechtssystem durch den Rekurs auf seinen höchsten Wert regelmäßig nicht direkt zu beeinflussen ist - anders formuliert: bereits beantwortet ist. Für Friedrich Dürrenmatt stehen Gerechtigkeit und Recht in einem Ausschlussverhältnis: "Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat." Ähnlich beschrieb Walter Benjamin zuvor diese Nichtbeziehung:

Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.

Der Richter ist in einer komfortablen Situation. "Ein Richter spricht Recht, insofern er das Recht hat, Recht zu sprechen: damit mündet der unendliche Regress in einen Kreislauf, der Kompetenz heißt."8 Das schafft ab einem bestimmten Grad der Ausdifferenzierung für Prozessbeobachter Verdruss, der durch bestimmte Rechtsarten noch verstärkt wird. Was im Steuerrecht gerecht oder ungerecht ist, wissen "in letzter Instanz" die Götter - die aber eben gegenwärtig nicht mehr tätig werden und vorläufig nicht befragt werden können. So wird der oberste, höchste Wert, der das Rechtssystem zusammenhält, von einer einst strahlenden zu einer zwielichtigen Kategorie.

"Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur." Julius von Kirchmann beklagte, dass die juristische Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht und darüber selbst zur Zufälligkeit wird. Kirchmanns Generalvorbehalt gegen das fragile Recht in seinem Vortrag "Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" (1848) artikulierte, was viele vor und nach ihm dachten: Wie kann eine Wissenschaft, die sich dem Richtigen, Gerechten nicht nur in der Theorie verschreibt, so zufällig in ihren Ergebnissen erscheinen? Wo ist die Fortschrittsfunktion einer Wissenschaft, die sich in wuchernden Regelungswerken ständig neu zu erfinden scheint?

Immanuel Kant, der den kategorischen Imperativ als vorderhand griffige Formel einer formal definierten Gerechtigkeit präsentierte, wusste andererseits um die Widerspenstigkeit der Wirklichkeit gegen aufgedrängte Prinzipien:

Wohlfahrt aber hat kein Princip, weder für den, der sie empfängt, noch der sie austheilt (der eine setzt sie hierin, der andere darin): weil es dabei auf das Materiale des Willens ankommt, welches empirisch und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist.

Diese Begriffsschwäche wird über die moralischen Fronten hinaus immer wieder zum Thema. Für Friedrich Nietzsche war die "allgemeine Wohlfahrt kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel". Bei Nietzsche spürt man das Ressentiment gegenüber einer Gesellschaft, in der die Existenz des Einzelnen zu einer sozialstaatlichen Verrechnungseinheit verkümmert.

Die Normierung, weit über den Begriff des Rechts hinaus verstanden, schien das Signum des Industriezeitalters zu sein. Gehören nicht die Formalisierung der Ethik, die Standards der Industriegesellschaft und die Vermassung des Einzelnen zu einer gesellschaftlichen Tendenz, auf die eine faschistische Politik gut zugreifen kann?

Jonathan Littell zeigte in seinem kontrovers diskutierten Roman "Die Wohlgesinnten", wie sich die Implementation des formalistischen Geistes in einen faschistischen Kontext fast mühelos bewerkstelligen lässt: Verkoppelt man die Kantische Pflichtethik mit dem Prinzip "Führerworte haben Gesetzeskraft" gelangt man zu einem neuen, nicht weniger kategorischen Imperativ: "Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde. Es gibt keinen Widerspruch zwischen diesem Prinzip und dem kategorischen Imperativ."

In dem fiktiven Gespräch des Protagonisten mit Eichmann wird die Anschlussfähigkeit der moralischen Meisterphilosophie an den antirationalistischen Führerkult demonstriert. An diesem wunden Punkt der formalen Vernunft wird das Dilemma fundamentaler Begründungen offengelegt: die fatale Geschmeidigkeit, mit der sich hochmögende Ideen rekombinieren lassen, um unbehelligt von ihren Ursprungskontexten zu gefährlichen Überläufern zu werden.