Vor Gericht und auf hoher See

Seite 3: Die neuen Leiden des Gewissens

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Wer vor einigen Jahrzehnten ein Hemd kaufte, entschied sich in einem simplen Bezugsrahmen, ob es ihm passte, ob es schön oder modisch schien oder/und ob er es sich leisten konnte. Diese Zeiten seligen Konsumierens sind vorbei. Könnte der geringe Preis dafür sprechen, dass es sich um Kinderarbeit handelt? Wurden die Mindestlohngrenzen bei dieser Produktion eingehalten? Ist auf das Fairtrade-Gütesiegel Verlass? Sind die verwendeten Materialien umweltfreundlich? Führt der Kauf der Einkaufstüte dazu, dass bald noch mehr Plastik im Meer schwimmt? Unterstütze ich mit diesem Kauf ein Monopolunternehmen? Ist es nicht verkehrt, ein Hemd zu tragen, das mich nolens volens zum Werbeträger einer Marke werden lässt?

Die Kaufentscheidung wird zu einem moralisch, rechtlich und kognitiv aufwändigen Vorgang, der kaum je zufriedenstellend gelöst werden kann, sondern den einzelnen Konsumenten in einen Regress von moralischen Fragen schickt. Die Wahrscheinlichkeit wird bei der Vielzahl von Variablen immer größer, dass die Entscheidung falsch ist. Vom Shoppen als Lifestyle-Akt zur spätmodernen Gewissensnot des schäbigen Konsumenten hat uns eine Moral geführt, die immer umfassender in ihren Zuständigkeitsansprüchen wurde.

Die Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber komplexen Gemengelagen des Weltgeschehens kann so hypertroph werden, dass wir uns moralisch von der Welt abwenden und von Verantwortung freizeichnen. Kommt es dann zur Rücknahme moralischer Differenzierungen und zahlreicher Rücksichtnahmen auf andere Interessen? Frühere Gesellschaften konnten mit dem ihnen mehr oder minder bekannten Weltelend gut leben, ohne die Vernetzungen von eigener Lebensweise und fremder sehen zu müssen. Aber droht nicht die Gefahr, dass diese Globalisierung moralischer Perspektiven zu einem Rückfall in eine moralische Unberührtheit fühlt?

Was globaler Politik und internationalen Rechtsordnungen nicht gelingt, wird jetzt dem einzelnen aufgebürdet. Das Gewissen ist ein plastisches bis korrumpierbares System moralischer Selbstprüfung. Je mehr Informationen und hypothetische Konsequenzen moralischer Entscheidungen eingespeist werden, desto diffuser gestalten sich Entscheidungen. Spende ich für Initiativen gegen den Hunger in der Dritten Welt oder führen solche Hilfen zu noch mehr Elend? Anlässlich der Seenotrettung von Flüchtlingen erfolgen regelmäßig so standardisierte wie erregte Diskurse über die Unabdingbarkeit unmittelbarer Hilfe in Lebensgefahr im Verbund mit Argumenten über die Folgen ungeregelter Migration. Jenseits der Alltäglichkeit moralischer Handlungen, die unmittelbar Unrecht und Elend korrigieren, werden Gewissensfragen "aporetisch", d.h. sie entführen uns in konsequentialistisch unabsehbare Szenarien.

Immanuel Kant beschrieb in der "Metaphysik der Sitten" das Gewissen so: "Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen ("vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen") ist das Gewissen." Jeder weiß, wie dieser Gerichtshof funktioniert. Es kommt zu einer Verdopplung des Selbst, der Mensch ist Angeklagter und Richter zugleich. Adam Smith hat in der "Theorie der ethischen Gefühle" diesen Konflikt mit dem Bild eines Spiegelkabinetts erfasst. Niemand entwickelt Moral aus sich selbst heraus. Die Gesellschaft vermittelt stattdessen in jedem Einzelnen moralische Ansprüche, die zur internen Kontrollinstanz werden, der das "kleine Ich", der zitternde Angeklagte, gegenübersteht. Der von Thomas von Aquin entfaltete Begriff "conscientia", das Mitwissen, kündet von dieser Spaltung, die vielleicht auch in der Semantik des "Gewissens" als eines gemeinschaftsbezogenen Wissens begründet ist.

Dass dieser innere Gerichtshof weder einer normierten Verfahrensordnung noch gefestigten Prinzipien folgt, hat jeder Mensch schon oft erlebt. Das Gewissen ist korrumpierbar. Je offener moralische Fragen in einer Gesellschaft erörtert werden, je mehr Dissens in einer Gesellschaft über die Prinzipien der Ethik herrscht, desto offener werden diese inneren Gerichtsverfahren, die auf viele sich widersprechende Argumente zurückgreifen können. Wer heute verantwortlich "Ich" sagt, meint die ganze Welt. Dieses Tribunal kann so unangenehm werden wie jedes Gericht, wenn uns Fragen an die Grenzen des moralisch Erträglichen treiben.

Moralische Appelle, die zum Standard politischer Verlautbarungen gehören und Betroffenheitskulturen, die unseren Alltag umranken, stumpfen langfristig ab. Viele Beobachter sind sich einig: Dieses späte Individuum ist eine überlastete Instanz, die im Druck von zahllosen Regelsystemen, zuvor unvorstellbaren Alltagsbeschleunigungen und einer explosiven Technologie dazu übergehen könnte, ein noch nicht kodifiziertes Menschenrecht auf Ignoranz und Erschöpfung einzufordern. Bei kognitiver Überlastung verschlechtern sich moralische Standards, wie die Verhaltensökonomie mehrfach demonstriert hat.

Die Fragilität von Sitten, Gebräuchen und Konventionen, die Demontage klassischer Institute des Zusammenlebens wie der Ehe können nicht umstandslos durch individuelle Neuentwürfe ersetzt werden. Institutionelle Sicherheiten präsentierten zuvor Antworten auf viele Fragen des alltäglichen Lebens, die heute erst gefunden werden müssen. Wir leben im Zeitalter der permanenten "Neujustierung" des Selbst in einem moralischen Gelände, dass ständig nachkartografiert werden muss.

Wie wertvoll wird in einer solchen Welt das Nichtwissen? Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst ein "Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung". Das schützt nach dem Bundesgerichtshof den Einzelnen davor, "Kenntnis über ihn betreffende genetische Informationen mit Aussagekraft für seine persönliche Zukunft zu erlangen, ohne dies zu wollen".7 Die "Lesbarkeit der Natur" (Hans Blumenberg) hat weitreichende Folgen für die juristische Behandlung sozialer Wirklichkeiten. Wenn "Schicksale" im Buch der Natur offengelegt werden, können juristische Anknüpfungen bereits im Vorgriff auf mögliche Zukünfte erfolgen. Der Visionär und Science-Fiction-Autor Philip K. Dick setzte im "Minority Report" dieses unheimliche Vorwissen für die Verbrechensbekämpfung ein, ein übersinnliches Wissen, das bereits vor der Entstehung des Verbrechens vorliegt. "Precrime" scheitert in Dicks moralischer Geschichte an Verlaufsformen, die sich der "Präkognition" entziehen. Einfach gesprochen: Nur das, was sich realisiert, ist Wirklichkeit.

Das präventive Prinzip konnte im Roman die je zu späte Reaktion der Justiz nicht ersetzen. Bleibt uns die logische Anordnung, erst Verbrechen, dann Aufklärung, dann Strafe auf ewig erhalten? "Precrime" macht gegenwärtig bei den Ordnungskräften im Rahmen von "Predictive Policing" bereits eine erstaunliche, wenn auch ausbaufähige Karriere. Der Aufklärungsalgorithmus verarbeitet zahlreiche Informationen, errechnet Verbrechensbegehungsmuster, vertraut auf "Repeat Victimisation" und kalkuliert auf Routineaktivitäten von Tätern und Opfern. Erbgutauswertungen und digital analysierte Verbrechensentstehungsgeflechte nebst zahllosen anderen potenziellen Algorithmen sind Instrumente für eine immer besser planbare Zukunft, die Orwells Überwachungsfantasien moderat erscheinen lassen mag.