Wählen bis zum richtigen Ergebnis
In Venezuela und Irland haben Referenden stattgefunden. In beiden Staaten werden sie wiederholt. Das Echo darauf ist unterschiedlich
Mit demokratischen Entscheidungen ist das so eine Sache: Oft gehen sie nicht so aus, wie die jeweilige politische Führung es gerne hätte. Erleben musste das bereits Ende 2007 Venezuelas Staatschef Hugo Chávez. Auf seine Initiative hin sollte die Verfassung reformiert werden. Doch das Vorhaben wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt. Ähnlich erging es der EU-Führung wenige Monate später. Ebenfalls knapp lehnte die irische Bevölkerung in einem Referendum den so genannten EU-Reformvertrag ab und stürzte die Union damit in eine tiefe Krise. Die Initiatoren der Abstimmungen in Caracas und Dublin kamen zu dem gleichen Schluss. Beide wollen die verlorene Abstimmung wiederholen. Die Reaktion auf dieses Ansinnen könnte in beiden Fällen unterschiedlicher nicht sein.
Schon Josef Stalin soll festgestellt haben, dass nicht die Wähler das Resultat bestimmen, sondern diejenigen, die ihre Stimmen zählen. Es ließe sich eine weitere Variante hinzufügen: Die Wahlen werden so oft wiederholt, bis das Ergebnis im Sinne der Initiatoren ausfällt. Völlig transparent, mit Kontrolle und Wahlbeobachtern. Aus der Luft gegriffen sind solche Überlegungen nicht, denn in westlichen Industriestaaten läuft angesichts der aktuellen Systemkrise längst eine Diskussion über die Grenzen der Demokratie. Vor wenigen Wochen schlug der außenpolitische Chefkommentator der britischen Financial Times die Errichtung einer – wenn nötig antidemokratischen – Weltregierung vor. Und in einem deutschen Politikmagazin fragt ein Journalist, der unter anderem für die ARD arbeitet, „ob nicht speziell die Ausdehnung des demokratischen Prinzips auf immer weitere Bereiche unserer Gesellschaften neue Probleme geschaffen und zu Fehlentwicklungen geführt hat.“
Irland: Zweite Abstimmung und Ruf nach PR-Kampagne aus Brüssel
Mit dieser Meinung würde der Autor in Brüssel auf breite Zustimmung stoßen. Die EU-Führung hatte schließlich dafür gesorgt, dass der verfassungsähnliche Reformvertrag der Bevölkerung in 26 der derzeit 27 Staaten der Union gar nicht erst zur Abstimmung vorgelegt wird. Allein in Irland konnte die Bevölkerung entscheiden – und votierte gegen das Papier. In mindestens zwei weiteren Mitgliedsstaaten – Frankreich und Niederlande – hätten die Menschen den Reformvertrag ebenfalls abgelehnt, wenn ihnen die Möglichkeit dazu gegeben worden wäre. In Frankreich änderte die Regierung im Februar 2008 jedoch kurzerhand die Verfassung, um ein bis dahin notwendiges Plebiszit abzuwenden.
Globalisierungskritische Gruppen hatten vergebens gefordert, dass die EU-Verfassung in allen Mitgliedsstaaten zur Volksabstimmung gestellt wird. Das Netzwerk Attac und zahlreiche Gewerkschaften in der EU argumentierten mit den einschneidenden Folgen: die Demokratie würde mit dem Reformvertrag eingeschränkt, Militarisierung forciert und öffentliche Dienstleistungen der Privatisierung anheim gegeben.
Trotz dieser massiven Bedenken fand keine Debatte statt. Allein das Nein der Iren hat den Verfassungsprozess gestoppt. Akzeptiert wurde das weder in Brüssel noch von der liberal-konservativen Regierungspartei Fianna Fáil von Irlands Ministerpräsidenten Brian Cowen. Mitte Dezember gaben beide Seiten bekannt, die Abstimmung wiederholen zu wollen. Zuvor hatte die EU-Kommission einige Zugeständnisse gemacht. Irland bekommt einen eigenen Vertreter in der EU-Kommission und mehr Freiheiten in Steuer- und Familienpolitik. Der deutsche SPD-Europaabgeordnete und Vorsitzende des Verfassungsausschusses Jo Leinen forderte zugleich eine von EU-Parlament und Kommission zentral gesteuerte PR-Kampagne. Sie müsste in allen EU-Ländern durchgeführt werden, weil überall mit Widerständen gegen die Brüssler Politik zu rechnen sei, so Leinen Mitte September.
Venezuela: Mehrheit für neues Referendum über einen Artikel
Szenenwechsel: Venezuela im Dezember. Ein Jahr nach dem Scheitern eines Referendums über die Reform der Verfassung soll auch in dem südamerikanischen Land eine Abstimmung wiederholt werden. Die linksgerichtete Regierung in Caracas will aber nicht, wie Anfang Dezember 2007, das ganze Reformpaket mit über 69 Artikeln zur Wahl stellen. Stattdessen sollen die 17 Millionen Wahlberechtigten im ersten Quartal 2009 allein darüber entscheiden, ob der Präsident wieder gewählt werden kann. Bislang ist eine mehrfache Wiederwahl in Venezuela nicht möglich.
Eingebracht wurde der Vorschlag zur erneuten Abstimmung über den Artikel 230 der Verfassung von der Nationalversammlung. Mindestens 50 der insgesamt 167 Abgeordneten waren dafür nötig. Ein leichtes Spiel für die Regierung, denn seit einem Wahlboykott der Opposition hat die regierende Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) 140 Sitze inne. Die Gegner der Staatsführung unter Hugo Chávez übten deswegen scharfe Kritik an dem Vorhaben. Die Regierung, so hieß es von ihrer Seite, umgehe bewusst die zweite Option zur Einberufung eines Referendums. Neben dem Parlament können in Venezuela 15 Prozent der Wahlberechtigten – gut 2,5 Millionen Menschen – ein Plebiszit beantragen. Chávez habe den Weg über die Nationalversammlung gewählt, weil er diese Unterstützung nicht habe.
Regierungsanhänger starteten daraufhin noch im Dezember eine Unterschriftensammlung. Binnen einer Woche trugen sich 4,7 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner in die Listen ein. Trotzdem hält die Kritik an dem Vorhaben an. Ungeachtet der dokumentierten Zustimmung erklärte der Erzbischof von Caracas, Jorge Urosa, die Abstimmung „entspricht nicht dem Empfinden des venezolanischen Volkes“. Dieses hätte das Vorhaben schließlich schon im Vorjahr abgelehnt. Chávez´ Hinweis, dass 2007 insgesamt 69 Artikel geändert werden sollten und nun lediglich einer zur Abstimmung stehe, trifft bei seinen Gegnern auf taube Ohren.
Europäsche Presse zeigt mangelnde Distanz
Das Urteil des Erzbischofs wird mehrheitlich auch von der europäischen Presse geteilt. „Venezuelas Präsident Hugo Chávez“, so schrieb die Deutsche Presse-Agentur (dpa) am 3. Dezember, „macht Druck für das neue Referendum, das ihm eine möglichst unbegrenzte Amtszeit eröffnen soll.“ Mit der neu angesetzten Abstimmung in Irland ging die Agentur gut eine Woche später sehr viel wohlwollender um. „Der EU-Reformvertrag von Lissabon bekommt eine neue Chance“, hieß es in einer dpa-Korrespondenz. Die Staats- und Regierungschefs hätten „den Weg für eine erneute Volksabstimmung in Irland im Herbst kommenden Jahres frei(gemacht)“.
Der Vergleich zeigt vor allem eines: die mangelnde Distanz vieler Medien. Während die Bedenken der Kritiker des Reformvertrages kaum zur Geltung kamen, wird das Abstimmungsmanöver der EU-Führung in Irland fast kommentarlos hingenommen. Zugleich bezeichnet der anfangs erwähnte Autor, der über ein Übermaß an Demokratie in westlichen Gesellschaften nachdenkt, die Staatsführung in Venezuela als „Typus der `autoritären Demokratie´“ der die „dunkle Seite der Demokratie“ verkörpere.
Dabei zeigt gerade die Entwicklung des EU-Systems, wie wichtig eine kritische Auseinandersetzung der Medien mit den Brüssler Eliten wäre. Als den Iren Mitte Dezember ein eigener Vertreter in der EU-Kommission zugestanden wurde, wetterte der deutsche SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen gegen diesen Kompromiss. Angesichts der bevorstehenden Erweiterung der Union auf bis zu 35 Mitglieder käme bei einem EU-Vertreter pro Land dann etwa ein Fünftel der Kommissionsmitglieder aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Dies führe zu einer „Verschiebung der politischen Gewichte“ innerhalb der Kommission, zitiert ihn die dpa. Konkret bedeutet das: Die demokratischen Strukturen müssen ständig so verändert werden, dass die bisherige Eliten ihre Macht bewahren.
Der Aufschrei in der Presse darüber blieb aus.