Wahlboykott im Iran
Die Parlamentswahl im Iran hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer Wahl über das System der islamischen Republik entwickelt
Ein uralter Witz, den sich die Iraner gerne erzählen, geht so: In einem iranischen Dorf, das keinen Namen hat und genauso gut auch für den ganzen Iran stehen könnte, ist Wahltag und nun werden die Stimmen ausgezählt. Am Ende des Auszählens bricht das ganze Dorf in Chaos aus, einige Bewohner stürzen ehrfürchtig auf ihre Knie und preisen Allah, andere laufen los, um allseits zu verkünden, was gerade passiert ist: "Ein Wunder ist geschehen! Ein Wunder!" Inmitten dieser Hysterie kommt ein Reisender ins Dorf und will sich erkundigen, was es mit diesem Wunder, von dem alle reden, auf sich hat. "Zur Wahl angetreten sind nur Amir und Ali", erklärt ihm ein Dorfbewohner. "Aber wer hat gewonnen? Yusuf!"
Solche Wunder sind bei der aktuellen Parlamentswahl im Iran undenkbar. Um unwillkommene Wendungen der göttlichen Vorsehung, die ja immer möglich sind, auszuschließen, hat man dieses Mal von vorneherein nur Yusuf als Kandidat zugelassen. Yusuf steht in diesem Zusammenhang für jene Kandidaten, die vom Wächterrat zur Wahl zugelassen wurden. Von den rund 16.000 Kandidaten, die sich registriert haben, wurde fast die Hälfte disqualifiziert - die meisten davon aus dem Lager der Reformer. So konnten sich diesmal fast ausschließlich konservative Hardliner den Parlamentswahlen stellen.
Wie viele Iraner den Wahltermin am Freitag tatsächlich wahrnahmen, weiß man noch nicht mit Sicherheit. Und wird man vielleicht auch nie wissen: Das hängt davon ab, wie viel Vertrauen man den offiziellen Zahlen aus dem Iran schenkt. Erfahrungsgemäß wird es vier bis fünf Tage dauern, bis ein Ergebnis bekanntgegeben wird. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die Nichtwähler klar als Sieger hervorgehen.
Die aktuelle Dezimierung der Kandidaten durch den Wächterrat hat nämlich alles übertroffen, was die Iraner an manifester Manipulation bisher schon gesehen hatten. Damit dürfte sich das iranische Regime aber selbst geschadet haben. Unerwarteterweise hat sich die aktuelle Parlamentswahl zu einer Wahl über das gesamte politische System Irans entwickelt. Wählen (egal, welchen Kandidaten) steht für eine Stimme für das Regime. Nicht-wählen steht für eine Stimme dagegen.
Landesweit riefen Reformer, Prominente und unzählige Normalbürger in Medien und Social Media zum Boykott der Wahl auf. Wer zu dieser Wahl geht, gilt in großen Teilen der iranischen Bevölkerung als Verräter, als Steigbügelhalter des Regimes. Hashtags wie "ra-y bi ra-y" (Keine einzige Stimme) oder "angosht dar khun" (Finger im Blut) fluten das Internet: Wer seine Finger dazu einsetzt, diesem System eine Stimme zu geben, der tauche seinen Finger in das Blut der vielen hundert Demonstranten, die das Regime in den letzten Monaten getötet hat.
Die Kritik beschränkt sich nicht nur auf Widersacher des theokratischen Systems. Auch Präsident Hassan Ruhani, der dem Lager der Reformer angehört, nannte die aktuelle Wahl bereits im Januar in einer Kabinettssitzung eine Farce: "Erzählt den Leuten nicht, es gebe für jeden Sitz im Parlament 17 oder 170 oder 1700 Kandidaten", rief er. "1700 Kandidaten von wie vielen Fraktionen? 17 Kandidaten von wie vielen Parteien? Von einer Partei? Das ist keine Wahl", schimpfte er, ohne dass seine Worte etwas verändern konnten.
Es war ein ebenso eindeutiger wie trauriger Beweis dafür, wie irrelevant und machtlos das Präsidentenamt wird, sobald es von einem Mann besetzt wird, der den Hardlinern rund um den Obersten Revolutionsführer und den Revolutionsgarden nicht in den Kram passt.
Der Wächterrat - Schaltstelle der iranischen Politik
Die Rolle des Wächterrats ist entscheidend, um den aktuellen Unmut im Iran zu verstehen. Die Säuberung der Kandidatenliste von möglicherweise subversiven, "unislamischen" Elementen durch den Wächterrat war dieses Mal besonders radikal, gehört aber zur zentralen Aufgabe des Wächterrats seit seiner Gründung durch Revolutionsführer Khomeini im Jahr 1980.
Der Wächterrat setzt sich seitdem aus 12 Mitgliedern zusammen, von denen die eine Hälfte Geistliche sind und vom Obersten Revolutionsführer Ali Khamenei ernannt werden und die andere Hälfte aus Laien besteht, vom Justizchef vorgeschlagen und vom Parlament gewählt wird. Irans Justizchef wird zurzeit vom Ultra-Hardliner Ebrahim Raisi verkörpert. Raisi ist der Mann, der den Iran am liebsten permanent vom globalen Internet abschotten würde, für eine rigorose Geschlechtertrennung steht und Musikkonzerte verbieten will, weil sie mit der "reinen Lehre" des Islam nicht vereinbar seien. Außerdem wird Raisi in letzter Zeit vermehrt als möglicher Nachfolger für den greisen Ali Khamenei in der Position des Obersten Revolutionsführers genannt.
Naturgemäß ist der Wächterrat also ein sehr konservatives Organ, er ist das Lenkrad, mit dem die Hardliner die wenigen demokratischen Prozesse im Iran nach eigenen Vorstellungen steuern. Der Rat segnet sowohl die Kandidaten für die Präsidentschafts- als auch für die Parlamentswahlen ab und prüft sämtliche Gesetze, die das Parlament verabschiedet, auf ihre Kompatibilität mit dem Islam. Ein unerbittlicher Filter, der das theokratische System vor jeglicher tiefgreifenden Reform bewahrt. Und gerade in dieser Verstrickung demokratischer und totalitärer Elemente liegt eine besondere Perfidie.
Stabil wie kaum eine andere Diktatur in der Region, feierte die islamische Republik im vergangenen Jahr ihr 40-jähriges Bestehen. Der Erfolg liegt größtenteils in der Ergänzung des theokratischen Systems mit republikanischen Elementen. Der Iran hat im Unterschied zu den meisten Diktaturen kein Ein-Parteien-System. Stattdessen hatten die Iraner bislang tatsächlich die Wahl zwischen meist zwei Lagern: den "Konservativen" und den "Reformern". Die Konservativen sind im Grunde lupenreine Islamisten. Die Reformer hingegen stehen für eine graduelle Öffnung des Systems, sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch, die jedoch aufgrund der Beschaffenheit des Systems immer sehr schnell an ihre Grenzen stieß.
Indem dem iranischen Wahlvolk ein äußerst geringer, aber immerhin noch vorhandener Spielraum überlassen wurde, schützte sich das Regime vor offenem Widerstand. Die Hoffnung, dass die Reformer vielleicht doch etwas bewegen könnten, ließ jedes Mal Druck aus dem Kessel und hielt die Gegner des Regimes lange Zeit ruhig. Nur einmal, angesichts der offensichtlich manipulierten Wiederwahl Mahmud Ahmadinedschads im Jahr 2009, erlosch diese Hoffnung kurzzeitig - und brachte eine Million desillusionierte und wütende Iraner auf die Straßen.
Was kann ein Wahlboykott bewirken?
In einer ganz ähnlichen Krise wie 2009 befindet sich die Islamische Republik Iran auch jetzt. Der Reformer Ruhani versprach Reformen, wirtschaftlichen Aufschwung, mehr Frauenrechte. Konkret geändert hat sich nichts. Am schlimmsten sieht es für die Wirtschaft aus. Um geschätzte 4,8 Prozent ist das iranische Bruttoinlandsprodukt 2018 eingebrochen, weitere minus 9,5 Prozent waren es im Jahr 2019. Tendenz weiter sinkend.
Dabei sah es zu Beginn der zweiten Amtszeit Ruhanis im Jahr 2017 noch rosig aus. Die Wirtschaft war im Aufschwung, der Atomdeal und verbesserte Beziehungen zur EU versprachen massenhaft Investitionen aus dem Ausland. Erst Trumps Ausstieg aus dem Atomdeal, die darauffolgenden Sanktionen und die militärischen Beinahe-Eskalationen, die im Januar zu einem Höhepunkt kamen, hievten die Hardliner im Iran wieder an die Macht.
Das konservative Establishment ist sich im Iran einig, dass es eine einheitliche Front braucht, um den völlig enthemmten USA und unzuverlässigen europäischen Partnern die Stirn bieten zu können. Dementsprechend mobilisierten die islamistischen Konservativen rund um Ali Khamenei alle Kräfte und Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen, um das Land wieder unter die umfassende Kontrolle der Hardliner zu bringen.
Leidtragende dieser Dynamik sind die Iranerinnen und Iraner. Ein Wahlboykott scheint im Augenblick ihre letzte Möglichkeit einer wirksamen Mitbestimmung zu sein. Wenn nur genügend Menschen sich dem Boykott anschließen und die Wahlzettel unausgefüllt bleiben - so lautet die Hoffnung - dann wird offensichtlich, dass das System der islamischen Republik keinen Rückhalt in der Bevölkerung mehr hat. Und dass dem System damit auch jegliche Legitimation abhandenkommt.
Ausgerechnet der fundamentalistische Justizchef Ebrahim Raisi bestätigt dieses Kalkül mit drohenden Worten: "Wer die Wahlen schwächt, steht im Lager des Feindes."