Wanglian
Cyber-Liebe in China
In bestimmten Altersgruppen und sozialen Schichten nimmt auch in China die Nutzung des Internet seit einigen Jahren stark zu. Dass dies nicht ohne Folgen bleiben würde, wird jene Experten, die sich mit den soziokulturellen und sozialpsychologischen Konsequenzen der gesellschaftlichen (also längst nicht nur: wirtschaftlichen und technologischen) "Modernisierung" dieses Landes befassen, nicht sehr überraschen. Auf ihre Analysen darf man gespannt sein. Doch auch im chinesischen Alltag, in den absolut nicht von Expertenjargon gekennzeichneten Diskursen der Internetnutzer (sowie jener Menschen, die sich in den Printmedien zum Internet äußern), finden sich interessante Echos jenes Wandels, den die verstärkte Nutzung des Internet in vielen Beziehungen ausgelöst hat. Auch in der "Liebe". "Cyber-Liebe" ist inzwischen auch in China ein unübersehbares Phänomen.
Läuft dies, wie manche Technologiebegeisterte in China inzwischen behaupten, auf eine "Revolution" der zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus? Oder erweist sich der zunehmende Einsatz der neuen, interaktiven, sich der menschlichen "Kommunikation" anbietenden Technologie vor allem als Mittel und Symptom zunehmender Entfremdung und Vereinzelung, als Flucht aus der Realität? Die kursierenden Anekdoten des internetbezogenen öffentlichen Diskurses entbehren jedenfalls oft nicht der Komik, manchmal auch nicht der Tragik.
- Fall 1: Der Student Li Hua an einer Universität in Nanning hat im Internet eine Freundin mit dem Namen 'Engel' kennengelernt. An einem Abend im April 2003 treffen sie sich wieder pünktlich im Netz. Li hat zum ersten Mal vorgeschlagen, dass die beiden Liebenden sich endlich einmal persönlich treffen sollten. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Im selben Monat, schon nach mehr als hundert Cyber-Rendezvous, hat der Engel endlich ja gesagt. Aufgeregt geht er zum Treffpunkt und sieht - seine Stiefmutter!
- Fall 2: Lao Xu wohnt in Guangzhou, geschieden, schon über 40. Sein Name im Chatroom ist "David", die Geliebte heißt "Anna" und hat Sympathie und Verständnis für den Geschiedenen. Nach einem halben Jahr Online-Liebe denkt er nun an Heirat. Immerhin ist dies seine zweite wahre Liebe. Er schlägt vor: Masken weg und richtig kennenlernen! Ohne zu zögern kommt das "Einverstanden" von Anna. Am Treffpunkt: Weißes Hemd, graue Hose, braune Ledertasche hat er in der rechten Hand - alles wie verabredet; warum ist sie noch nicht gekommen? Doch, seine Tochter ist gekommen, so schnell, dass er keine Zeit mehr hat zu verschwinden: Er warte auf einen Kollegen, sagt er. Und die Tochter: Sie erwarte gerade eine Studienkollegin. Beide hoffen aber, dass eine(r) von beiden schnell verschwindet. Und im nächsten Moment sind die beiden erschrocken, schreckensbleich: Das ist die Anna mit dem lila Rucksack und dem grauen karierten Rock! Ein Alptraum: Seine Sehnsucht nach einer Liebesheirat bedeutet für die Tochter nur ein Trauma.
- Fall 3: 5. November 2002 früh am Morgen in der Stadt Chengdu an einer Brücke: Eine vernarrte Frau mit dem Namen Huang Ting wollte, nachdem sie die ganze Nacht vergeblich auf ihren Cyber-Freund gewartet hatte, gerade ins Wasser springen. Aufmerksame, schnell handelnde Passanten haben sie im letzten Moment gerettet. Später gab der jüngere Bruder zu: Er war's, der die Verabredung nicht eingehalten hatte. Die Mutter der einer Cyber-Liebe verfallenen jungen Frau, heißt es, lag wegen eines Herzinfarkts im Krankenhaus, der Bruder war vom empörten Vater aus dem Haus vertrieben. Sie ist 28 und ging vor einem halben Jahr mit dem Namen "Qingwu Feiyang" (Sanftes Aufwehen) in einen Chatroom. "Ich habe Dich schon lange beobachtet", tippt "Lengku Daodi" (Cool bis zum Ende): "Du bist bestimmt ein schönes Mädchen!" Von nun an unterhielten sie sich prächtig. Sie aber wollte endlich die Cyber-Welt des Netzes überschreiten und die yuanfen, also Schicksalsfügung, real werden lassen. Der Treffpunkt: ein Teehaus am Fluss. So geschah die Geschichte am Anfang.
- Fall 4: Eine 22jährige Frau und ein 24jähriger Mann dachten schon an Heirat. Die Eltern beiderseits kümmerten sich auch gerade darum. Der Mann wollte aber plötzlich nicht mehr, weil er nun im Netz seine Liebe gefunden hatte, nein, er war inzwischen schon verheiratet - online! Die verzweifelte junge Frau nahm 80 Schlaftabletten ein und schnitt sich in die Pulsader auf. Dies geschah am 18. März 2003 in Nanjing.
Gewiss, das klingt alles sehr melodramatisch und wie von schlechten Propagandisten erfunden. Aber es sind keine erfundenen Geschichten und die Reihe der Fälle kann fortgesetzt werden. In China ist unter den Internetnutzern wanglian (Cyber-Liebe) en vogue! Ein 72jähriger Mann aus Hubei schlägt sogar einen Wanglian-Tag vor: den 25. Mai. Dafür hat er sogar ein Buch geschrieben: Drei Generationen Cyber-Liebe. Für ihn ist in dem digitalen Zeitalter wanglian ein unvermeidlicher Weg, natürlich einer von vielen. Er ist davon überzeugt, dass der Wanglian-Tag genau so wie etwa der Valentinstag und der Muttertag früher oder später weltweit verbreitet sein wird.
Selbstverständlich sind es fast ohne Ausnahme nur junge Leute, die von der Cyber-Liebe fasziniert sind, aber nur fast. Eine 58jährige Frau aus der Stadt Ha'erbin flirtet sehr oft im Netz:
Ich habe ein junges Herz. Im Chatroom bin ich ein Mann, natürlich nur 23 Jahre alt. Am liebsten gehe ich ins Sina.com. Dort habe ich den Namen 'Fische', weil viele junge Leute glauben: Fische sind temperamentvoll, romantisch und einfühlsam. Dort habe ich eine ganze Menge Mädchen kennengelernt. Du fragst mich, ob jemand sich in mich verliebt. Klar, sehr viel sogar! Aber in dem Moment haue ich ab. Ich wollte eigentlich nur scherzen und nicht die Mädchen, die es ernst meinen, verletzen.
Es gibt natürlich Leute, die nicht nur scherzen. Die Frau ist auch nicht die einzige, die im Netz ihr Geschlecht ändert. Cyber-Liebe ist im Moment oft der erste Schritt zum Geld. Wang Mou aus der Stadt Zhaoqing hat im Chatroom ein junges Mädchen mit dem schönen Namen 'Shisi' (Lyrisches Denken) kennengelernt, so lyrisch, dass er fast innig durch den Bildschirm in die Augen des Mädchens sehen kann. Treffpunkt ist in einer Bar, Zeit: 20. August 2002, um 20 Uhr. Das Mädchen erscheint aber nicht. Stattdessen kommt ihr Cousin: Die Cousine käme ein bisschen später. Der Cousin will nun mit dem Handy von Wang seine Cousine anrufen. Weil es in der Bar zu laut ist, will er draußen telefonieren. Der gute Wang wartet und wartet auf seine Cyber-Liebe, die sich nicht blicken lässt. Der Cousin kommt auch nicht mehr zurück - er hat sich aus dem Staub gemacht mit dem importierten Handy, das mehr als 2000 Yuan gekostet hat: fast drei Monatseinkommen eines Durchschnittschinesen. Diese Geschichte mit dem "Cousin" wiederholte sich noch fünf Mal, bevor er verhaftet wurde.
Liebe spielen
Für viele chinesische Internetnutzer hat das neue Medium mit seiner imaginären Welt und seiner unglaublichen Kapazität mehr oder weniger schon die eigene Denk- und Lebensweise verändert. In manchen Kreisen ist shang wang le ma? (Warst du heute schon im Internet?) fast schon ein Grußwort geworden. Eine Umfrage (März 2002) in der Provinz Jiangsu zeigt, dass 80% der Studenten dort regelmäßig ins Internet gehen, und zwar 15% von ihnen wegen des Studiums, 25% wegen Online-Spielen; 60% gehen in den Chatroom. In Shanghai ist das Hauptziel für 52,6% Schülerinnen, die ins Internet gehen, der Chatroom. Nicht wenige junge Leute sind chatroom-süchtig geworden. Das ist wohl auch der Grund, warum die chinesischsprachigen Webportale wohl weltweit die vielfältigsten Chatrooms anbieten. Gerade hier passiert etwas, das in der chinesischen Internetdebatte ab und zu als 'Damoklesschwert' bezeichnet wird: es eröffnet sich ein neuer Weg für unzählige Straftaten.
"Schöne Frauenschlange" in einem der Chatrooms war eine Clique, bestehend aus einer Frau und drei Männern, die eine Zeit lang im Stadtwald von Zhengzhou bei online verabredeten Treffen die verliebten Männer ausraubten. Eine Frau mit dem Chatroom-Namen "Mädchen pur" in der Stadt An'shan ließ jedes Mal offline nach der 'wahren' Liebe Geld und Wertsachen mitgehen. Ein Gastarbeiter aus der Inneren Mongolei in Shandong hatte durch im Chatroom angebahnte Abenteuer gleichzeitig mehrere Verhältnisse mit Frauen, die er vor der 'Heirat' um Zigtausende von Yuan betrogen hat. Aufsehenerregend sind fast immer jene Berichte, welche die Cyber-Liebe als Vorspiel zu einem realen Stelldichein mit anschließender Vergewaltigung schildern.
Obwohl solche Kriminalfälle oft in den chinesischen Medien berichtet werden, scheint die Cyber-Liebe doch ein Magnet zu sein, der viele Internetnutzer anzieht. Wan de shi xin tiao, heißt es im Mode-Chinesisch: Das Spiel geht ja um's Herzklopfen. Das Herzklopfen hört aber nicht jeder, nicht mal bei Ehepaaren. Außer dem Indiz, dass man nun mehr Zeit online verbringt, gibt es kein Anzeichen eines Seitensprungs - im Netz. Ist es mit der Cyber-Geliebten (oder dem Liebhaber) schon so weit, dass der Schritt ins Reale erfolgen soll, dann ist alles auch schon zu spät. Es ist ein Spiel, aber kein Spiel im eigentlichen Sinne. Es handelt sich oft um mehr als nur um das Herzklopfen; es ist auch eine Art 'Erweiterung des Blickfeldes', um hier eine populäre Anschauung in bezug auf Internet heranzuziehen:
Eine Frau aus Suzhou ist 16 Jahre verheiratet, hat eine 15jährige Tochter. Vor zwei Jahren hat sie einen Computer gekauft, damit ihr Mann im Internet recherchieren kann. Nun ist er nach Feierabend nur im Netz und hat inzwischen mehr als 20 Cyber-Freundinnen landesweit, vier davon sind seine richtigen Geliebten. So macht er auf seinen Dienstreisen oft einen Abstecher. Er fährt sogar extra nach Shandong und Wuxi - und sagt hemmungslos offen zu seiner Frau: "Ich fahre zu den Cyber-Freundinnen." Das ist natürlich nicht mehr online, sondern offline, also die Realität. Die Frau will nun die Scheidung.
Das Imaginäre verführt
Die meisten gehen natürlich aus anderen Motiven in einen Chatroom. Es gibt sicher richtig Suchende - auf der Suche nach der "wahren Liebe". Es geht doch, denken sie vielleicht, um Romantisches, obwohl die Tastatur gefühllos ist. Oft ist es aber eine Art Reaktion auf Enttäuschungen und Liebeskummer in der Realität, eine Aktion geboren aus der Einsamkeit. Es gibt Leute, die in der Cyber-Welt Hals über Kopf verliebt sind und so den Menschen im täglichen Leben keines Blickes würdigen.
Warum sind die Gesprächspartner im Netz liebe- und humorvoll, in der Realität aber so stumpfsinnig? Wo ist das schöne Kompliment, das man online bekommt, aber im wirklichen Leben selten hört? Man fängt schließlich an, die Echtheit der Umgebung zu bezweifeln. So bildet sich die Spaltung zwischen dem eigenen Gefühl und der Realität heraus. Man spürt den Schmerz, zieht das Imaginäre vor und fällt wieder ins Netz.
Lassen wir nun ein paar Interview-Partner zu Wort kommen, deren Äußerungen für sich selbst sprechen mögen:
Hong (25, Büroangestellte): "Eigentlich habe ich zwei Liebesanschauungen: Die eine ist wie Cola, prickelnd, süß und temperamentvoll; die andere wie normales Wasser. Ich weiß ganz genau: Wasser ist gesünder als Cola. Aber ich liebe trotzdem Cola. Ich sehne mich nach Romantik und Vielfalt. Cola im Netz ist illusorisch, kann anscheinend dem langweiligen Leben einen Hauch Süßigkeit verleihen."
Dong (29, Postgraduierter): "Ich habe schon ein paar Geschichten von Cyber-Liebe gehört. Es ist romantischer als in einem Eheanbahnungsinstitut. Aber echte Liebe findet man selten im Netz, wo sich die doppelte Moral am idealsten in Positur setzt. Was einem im realen Leben fehlt, sucht man im Internet und findet dort auch eine psychische Balance. Ein Freund von mir z.B. ist sehr schweigsam. Sobald er im Chatroom ist, ist er nicht mehr sein eigenes Selbst: er ist dann lebhaft und redet wie ein Wasserfall, ungezügelt wie eine andere Person."
Chen (45, Schriftsteller): "Ich glaube nicht an Cyber-Liebe. Der Chatroom hat nur einen imaginären Raum angeboten, der dem modernen einsamen Menschen eine Vorstellungsmöglichkeit liefert - für ein bisschen mehr Wunschträume und Phantasiegebilde."
Wang (20, Student): "Was für eine Frau ist sie, am anderen Ende der Netzverbindung? Ich gebe mich oft Phantastereien hin. Wenn dies schon Cyber-Liebe ist, habe ich das erlebt. Es ist so ein Gefühl wie vor einem Gemälde, oder auch auf der Leinwand."
Zhou (24, Buchhalterin): "Wir sprachen sehr viel miteinander, hatten auch sehr viele Gemeinsamkeiten. Ich freute mich immer sehr über seine Emails. Aber eines Tages wollte er meine Telefonnummer; so wurde alles zerstört! In der Cyber-Liebe suche ich doch nur ein geheimnisvolles Gefühl. Ein Telefongespräch bringt einen sofort in die Realität zurück. Auf meinen Vorschlag hin erscheint er nicht mehr auf meinem Bildschirm."
Wu (30, Redakteurin): "Freunde im Netz sollten Regeln einhalten. Man befindet sich im Chatroom, aber trotzdem nicht einander direkt gegenüber. So kann man die Sache unverhohlen oder nackt darlegen. Jede Sprache hat ihre eigene Umgebung. Was ins Netz passt, muss man nicht unbedingt ins reale Leben übertragen. Sonst verletzt man die Spielregeln und erntet nur die Enttäuschung."
(Weigui Fang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des medienwisschaftlich-sinologischen Forschungsprojekts "Das Internet in China" an der Universität Trier)