Wann ist Kritik "verschwörungstheoretisch", wann ist Protest "rechts"?

Seite 2: Die Thüringen-Connection

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Vom Solidaritätsprinzip denkbar weit entfernt - und diese Aussage gilt nicht nur für die Irren unter den Demonstranten - bauten diese Versammlungen in ihrer Mehrheit, wenn auch nicht überall und nicht ausschließlich, auf der Basis von Teilen der FDP und Teilen der AfD auf.

Verbindendes Glied auf sozioökonomischer Ebene war hier vor allem der Wunsch bei Mittelständlern und wütenden Kleinbürgern, dass das Geschäft endlich wieder laufen möge. Auf politischer Ebene fand dies seinen Ausdruck in der Präsenz von Mandatsträgern - bis hin zu Abgeordneten im Bundestag - der AfD bei solchen "Corona-Demonstrationen", aber auch einzelner Vertreter der FDP. Hinzukam das weitgehenden Ausbleibens von Problembewusstsein beim Rest ihrer Gesamtpartei.

Vereinzelt wurden auch Vertreter der CDU gesichtet, vor allem in Thüringen - dort auf örtlicher Ebene sogar als Veranstalter -, wo sich die Landespartei der CDU dann jedoch von solchen Umtrieben distanzierte.

Dass gerade Thüringen einen Schwerpunkt für die Mitwirkung von Angehörigen der FDP - ihr kurzzeitiger Ministerpräsident Thomas Kemmerich lief bekanntlich bei den Protesten mit - darstellte, ist keinem Zufall geschuldet.

Bildete dieses Bundesland doch, wie in Erinnerung sein dürfte, noch zu Anfang dieses Jahres das "Laboratorium" für das Experiment seitens eines Teils der bürgerlichen Rechten - das dann durch ihre Apparate auf Bundesebene ausgebremst wurde -, erstmals die extreme Rechte in Gestalt der AfD in die politische Willensbildung einzubinden.

Wenn auch auf verschämte und offiziell nicht ganz zugegebene Weise führte ein unerklärtes, aber faktisch wirksames Stimmbündnis zwischen AfD, FDP und CDU im Thüringer Landtag zur Wahl des (dann nach kurzer Zeit verhinderten) Ministerpräsidenten Kemmerich. Auch aufgrund der Tatsache, dass sich im Februar wenige Tage danach das rechtsextrem motivierte Attentat in Hanau ereignete, musste dieses Experiment jedoch abgebrochen werden.

Exkurs: Kein normaler demokratischer Fortgang

Dadurch wurde i.Ü. auch nur nachvollzogen, was 1998/99 bereits in ziemlich ähnlicher Form in Frankreich ablief. Damals ließ sich nicht ein - wie jüngst in Thüringen -, sondern ließen sich im März 1998 gleich vier Regionalfürsten der konservativ-wirtschaftsliberalen Rechten in Frankreich mit den Stimmen des neofaschistischen Front National zu Regierungschefs in den Regionalhauptstädten Lyon, Dijon, Amiens und Montpellier wählen.

Noch kurz zur Begründung des neofaschistischen Charakters ihrer Partei, den ihre Nachfolgeorganisation - der heutige Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung") unter Marine Le Pen - mittlerweile etwas besser zu verstecken versucht als der damalige FN unter Jean-Marie Le Pen: Wer an den Bezügen dieser Partei zum historischen Faschismus zweifelt, möge sich nur einmal über die Herkunft ihres bis heute verwendeten Symbols (einer züngelnden Flamme, die aus Italien übernommen wurde) und deren Bezug zu Benito Mussolini informieren.

Auch dabei handelte es sich (ähnlich wie in Thüringen 2020) nicht um erklärte Koalitionen, sondern um unter dem Tisch geschlossene Stimmenbündnisse; auch dort intervenierten die Parteispitzen des bürgerlichen Lagers und blockierten die Fortsetzung des Tabubruchs, der für breite Empörung und zahlreiche Demonstrationen sorgte. Drei der vier Regionalpolitiker sahen danach von weiteren gemeinsamen Schritten zusammen mit dem Front National ab.

Doch der vierte, Charles Million, Regionalpräsident in Lyon und vormaliger Verteidigungsminister unter Jacques Chirac, bis Mitte der 1990er eher als braver Christdemokrat bekannt, ging nachträglich in die Offensive. Dieser französische Thomas Kemmerich blieb seinereits im Amt und gründete zum Jahresende 1998 eine eigene Partei als Abspaltung vom bürgerlichen Lager, die offensichtlich am Scharnier zwischen Konservativen und Rechtsextremen angesiedelt war.

Allerdings scherte ein Teil der konservativ-liberalen Regierungskoalition im Regionalparlament in Lyon im Januar 1999 aus, spaltete ihre Fraktion, ging ein sozial-liberales Bündnis ein und vertrieb Charles Millon vom Sessel des Regionalpräsidenten. Millon blieb in der Folgezeit politisch eher erfolglos. Er blieb jedoch danach im Fahrwasser dessen, was man früher in Deutschland als "Braunzone" bezeichnet, also der zu Faschisten hin offenen Ränder der Konservativen.

Im September 2019 nahm er in Paris an einem Kongress unter Federführung von Marion Maréchal-Le Pen - einer Enkelin von Jean-Marie Le Pen und politischen Rivalin ihrer Tante Marine Le Pen - teil, dessen Inhalte in der Öffentlichkeit breite Empörung hervorriefen, u.a. weil der rechte Starjournalist Eric Zemmour am Rednerpult behauptete hatte, der Nationalsozialismus sei im Vergleich zur islamischen Religion relativ harmlos gewesen.

Charles Millon stand an jenem Wochenende dort ebenfalls auf der Bühne. Dies belegt, falls es denn erforderlich gewesen wäre, dass es eben nicht banal und nicht harmlos ist, wenn bürgerliche Politiker sich auf Stimmbündnisse mit faschistischen Kräften einlassen und diese ins "normale" politische Leben der parlamentarischen Demokratie zu integrieren versuchen, um Mehrheiten zu basteln - auch wenn ein linker Autor, zu dessen Leitlinien mitunter die vorsätzliche Geringschätzung des Antifaschismus zu zählen scheint, mit formalen Argumenten "demokratietheoretisch" Gegenteiliges suggeriert hat.

Nein, es ist eben kein normaler demokratischer Fortgang, sondern hinterlässt tiefe politische Spuren, auch bei den Protagonisten. Thomas Kemmerich scheint diese Beobachtung nun gerade aufs Neue belegen zu wollen.

Nun aber zu den Strategien, mit denen die extreme Rechte in verschiedenen Ländern selbst auf die Corona-Krise zu antworten versucht.