Wann ist Kritik "verschwörungstheoretisch", wann ist Protest "rechts"?
Seite 6: Frankreich: Über die politische Funktion von Verschwörungsglauben
- Wann ist Kritik "verschwörungstheoretisch", wann ist Protest "rechts"?
- Die Thüringen-Connection
- Zum konkreten Verhalten der rechtsextremen Kräfte in der Corona-Krise
- AfD und Verschwörungspresse in Deutschland
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Ende März 2020 befragte ein Umfrageinstitut im Auftrag der sozialdemokratischen Jean Jaurès-Stiftung sowie des sich mit Verschwörungstheorien beschäftigenden Think-Tanks Conspiracy Watch eine Auswahl von 1.008 Französinnen und Franzosen über ihre Auffassungen zu den Ursachen der Covid19-Pandemie.
Dabei stellte sich heraus, dass eine krasse Polarisierung auftrat, wenn man die Ergebnisse in ihrer Gesamtheit mit den Angaben zur parteipolitischen Einstellung der Befragten kreuzte.
Insgesamt gaben demnach 17 Prozent der Befragten an, das neue Coronavirus (SARS Cov-2) sei "im Labor entstanden", und zwar "absichtlich" dort geschaffen worden. Weitere neun Prozent gingen demnach davon, das Virus sei zwar unabsichtlich, jedoch "durch einen Unfall" in einem Biowaffen- oder sonstigen Forschungs-Laboratorium entstanden.
Damit liegt Frankreich, mit einem Anteil insgesamt einem Viertel der Befragten für beide Antworten zusammengenommen, unterhalb des Prozentsatzes etwa in der US-amerikanischen Bevölkerung: Dort stimmten anlässlich einer Umfrage des Pew Research Center zwischen dem 10. und dem 16. März dieses Jahres respektive 23 Prozent ("absichtlich") und sechs Prozent der These vom Laborunfall, einer der beiden Antwortvorschläge, zu.
Zwischen den USA und China war die Behauptung einer künstlichen Erschaffung des Virus, durch die jeweilige Gegenseite, bekanntlich mehrfach wechselseitig eingesetzt worden.
Auffällig wird es jedoch auf der französischen Seite, sobald man die innenpolitischen Präferenzen der Befragten berücksichtigt. Die zur Verschwörungstheorie neigenden Antworten liegen nämlich in quasi jeder einzelnen Wählergruppe mit einer, wie auch immer gearteten, Parteiorientierung unterhalb des Gesamtdurchschnitts.
Bei den nicht parteigebundenen Wählerinnen und Wählern liegt der Wert knapp über dem Schnitt, bei denen der linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise (LFI, "Das unbeugsame Frankreich") auf der Durchschnittslinie. Doch die Anhängerschaft des rechtsextremen Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung", bis 2018 Front National) stellt gewissermaßen den dicken Ausreißer dar.
In ihr glauben allein 40 Prozent, das Virus sei "mit Absicht" in finsteren Laborhallen erzeugt worden, und noch einmal fünfzehn Prozent kommen hinzu, die an eine Erzeugung im Labor ohne Absicht glauben. Zum Vergleich: Bei der Präsidentenpartei LREM (La République en marche), deren Anhängerinnen und Anhänger zweifellos in jeglicher Hinsicht an die Rationalität der regierenden Eliten glauben - oft auch zu Unrecht - sind es in Gänze nur zwei Prozent für beide Antwortoptionen zusammengenommen.
Diese Ausgangssituation führte kurz nach Veröffentlichung dieser Umfragewerte zu einer innenpolitischen Kontroverse. Am 30. März reagierte Marine Le Pen in einem Interview beim Sender Franco Info auf eine Nachfrage dazu, indem sie die offenkundig in ihrer eigenen Wählerschaft verbreiteten Einstellungen offensiv verteidigte:
Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie schlecht ich über diese Art von Studie über das Verschwörungsdenken (le complotisme) denke. Dass die Leute sich fragen, ob dieser Virus natürlicher Herkunft ist oder ob er nicht aus einem Labor entsprungen sein kann, das ist eine Frage des gesunden Menschenverstands.
Marine Le Pen
Die LREM-Abgeordnete Aurore Bergé griff die RN-Vorsitzende daraufhin am folgenden Tag beim Rundfunksender Sud Radio mit den Worten an, Marine Le Pen versuche, "den Virus des Verschwörungsdenkens (virus du complotisme) in unserem Land einzupflanzen".
Die Chefin der rechtsextremen Partei fühlte sich deswegen wohl herausgefordert. In einer elektronischen Aussendung an alle, auf ihre Mailinglisten eingetragenen Sympathisanten vom selben Tag erfährt die geneigte Leserschaft: "Die Regierung ist der größte Lieferant von Fake News seit Beginn dieser Krise!"
Inhaltlich dreht es sich dabei dieses Mal jedoch nicht um verschwörungstheoretische Pseudoerklärungen der globalen Wirklichkeit, sondern eher um handfeste und zum Teil auch begründete innenpolitische Attacken gegen das Regierungslager.
Es geht um dessen manifeste Planlosigkeit in den ersten Wochen der Corona-Krise; die vor allem in der Anfangsphase verbreiteten manifesten Lügen - Gesichtsmasken böten keinerlei Schutz, wurde zunächst behauptet, was allerdings nur kaschierte, dass es nicht ausreichend Gesichtsmasken gab -, denen die Regierung später selbst widersprach; die Unfähigkeit, ausreichend Tests zum Nachweis einer Infektion bereitzustellen… An dieser Stelle verrichtet der RN in gewissem Sinne schlicht seinen Job als Oppositionspartei, wie es im Übrigen andere Oppositionskräfte auch tun.
Der taktische Schwenk der Le Pen-Partei
In der Sache nimmt der RN dabei eine Position ein, die sich insofern diametral von jener etwa der deutschen AfD unterscheidet, als die französische extreme Rechte in ihrer jüngeren Argumentation stets Wert auf den staatlichen Schutz der Bevölkerung legte und dabei u.a. Ausgangsbeschränkungen befürwortete.
Jedenfalls ab Ende März dieses Jahres. Wenige Tage zuvor hatte die Chefin der Partei allerdings noch das Gegenteil vertreten. Auch Marine Le Pen vollzog also einen taktischen Schwenk in ihrer Argumentation, ähnlich wie die deutsche AfD - jeweils, um einen Angriffswinkel für Attacken auf die Regierung zu finden, doch in umgekehrter Richtung.
Es ist übrigens wahrscheinlich, dass es Marine Le Pen und den übrigen Anführern und Anführerinnen des RN in Wirklichkeit selbst relativ egal ist, ob der Virus nun aus einem biochemischen Labor, einem Fledermauskörper oder einem Gürteltier stammt… und dass sie selbst möglicherweise nicht an die verschwörungstheoretische Erklärung dafür glauben.
Es kann ihnen jedoch nicht gleichgültig bleiben, dass solche Thesen in ihrer eigenen Wählerschaft einen starken Anklang finden und dort offenkundig Bedürfnisse bedienen.
Offizielle Zielschreiben rechter Agitation
Die Parteiführung des RN konzentriert sich unterdessen in ihren eigenen Angriffen eher auf andere Zielscheiben. In ihrer Agitation stehen vor allem Angehörige der sozialen Unterklassen in den banlieues, also in Trabantenstädten mit Hochhaussiedlungen, im Vordergrund.
Ihnen wird von Seiten des RN und in den Spalten ihm nahe stehender Medien wie dem Wochenmagazin Valeurs actuelles oder durch den TV-Journalisten Eric Zemmour immer wieder und wieder vorgeworfen, sie seien es, die sich nicht an Ausgangssperren und Mobilitätsbeschränkungen hielten.
Nun trifft es zu, dass in einigen besonders markanten Sozialghettos Verstöße gegen die Auflagen, und eine von diesen überforderte oder aber zum Einschreiten unwillige Polizei zu beobachten sind. Es ist allerdings auch leichter, sich daran zu halten, wenn man in einem Landhaus oder in einem geräumigen Innenstadtappartement als in einer überbelegten Hochhauswohnung lebt, wie auch Innenminister Christophe Castaner bei einer Pressekonferenz einräumen musste.
Die Zahl der mutwilligen Verstöße dürfte allerdings auch nicht höher liegen als unter individualistisch gesonnenen Besserverdienenden, die sich partout nicht von ihrem Sonnenbad oder Jogging abhalten lassen möchten (oder vom Aufenthalt am Zweitwohnsitz; lt. Angaben der Telefon-Anbieter befanden sich seit Beginn der Aufenthaltsbeschränkungen 17 Prozent der Pariser Abonnent/inn/en in anderen Landesteilen…), nur weil irgendwo ein paar Rentner an Covid-19 erkranken könnten. Dies betonte selbst Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye, die auch einräumte, es gebe "ein rassistisches Geschmäckchen" bei der Ausrichtung eines Teil der Polizeikontrollen.
Dies hielt und hält die extreme Rechte nicht von intensiver Hasspropaganda gegen diese angeblich von lauter undisziplinierten Sozialschmarotzern bevölkerten Zonen ab. François de Voyer, Präsident des Cercle Audace - ein Zirkel, in dem RN-Anhänger und Konservative zusammen kommen sollen - sprach in diesem Zusammenhang in Abwandlung des auf der Rechten traditionell verwendeten Begriffs der zones de non-droit (rechtsfreien Räume), Ende März von zones de non-France.
Und Marine Le Pen behauptete, es finde eine "Eskalation" statt, weil nunmehr die Moscheen - die während der Dauer der Ausgangsbeschränkungen, ebenso wie Kirchen, sämtlich geschlossen bleiben - über Lautsprecher ihre Gebetsaufrufe verbreiteten.In einem von ihr angeführten, angeblichen Beispiel in der Nähe von Montpellier recherchierte die französische Presse jedoch nach: Es entpuppte sich als Falschbehauptung. Die Moschee hatte vollständige Ruhe bewahrt. Unterdessen war aus dem geöffneten Balkonfester eines Anwohners kurzzeitig Gebetsgesang aus einer Stereoanlage in seiner Privatwohnung gedrungen.
Ansonsten nutzte und nutzt die französische extreme Rechte die Gunst der Stunde vor allem, um wiederholt ein grundsätzliches Plädoyer für Grenzschließungen und -kontrollen, die angeblich Schutz böten, vorzutragen.
Ein Artikel der Politologin Speranta Dumitru vom 07. April dieses Jahres in der renommierten populärwissenschaftlichen Zeitschrift The Conversation widerlegte dies allerdings ausdrücklich: Sei das Virus einmal auf einem Staatsgebiet präsent, machten Grenzschließungen keinerlei Unterschied mehr.
Mittlerweile wurde ja bekannt, bei nachträglichen Tests an Lungenentzündungspatienten vom vergangenen Winter habe sich ergeben, dass der erste Coronavirus-Fall, damals noch unerkannt, wohl schon am 16. November 2019 im elsässischen Colmar verzeichnet worden sei; im Raum Paris wurde ein erster Lungenkranker, welcher an Covid-19 litt, mit dem Datum 27. Dezember 2019 identifiziert. Ab da half wohl definitiv kein Grenzschutz mehr. Doch was kratzt dies die extreme Rechte?
Ihre erbitterte Agitation hat der extremen Rechten im Augenblick allerdings keinen zusätzlichen Sympathiebonus eingehandelt. Im Popularitätsbarometer der führenden Politikfiguren rutschte Marine Le Pen von 26 Prozent Zustimmungswerten Anfang März auf 23 Prozent, Anfang April dieses Jahres, zurück.
Dies hängt den Demoskopen zufolge vor allem mit einem Rückgang ihrer Popularität unter älteren Jahrgängen und in Ostfrankreich, etwa dem besonders von der Pandemie heimgesuchten Elsass, zusammen. Dort werden ihre Angriffe auf die Regierenden derzeit nicht sonderlich goutiert, sondern wird die Bekämpfung der Krankheit als die Aufgabe der Stunde betrachtet, auch unter Zurückstellung parteipolitisch motivierter Profilierungsversuche.
Doch die Wirtschaftstageszeitung Les Echos, die die Umfrage am 02. April 20 vorstellte, warnt jedoch vor möglichen künftigen Entwicklungen: Die extreme Rechte bereite bereits ihre Positionierung für die Krise nach der Krise vor, also die am Horizont heraufziehende Wirtschafts- und Sozialkrise.
Bernard Schmid (48) ist hauptberuflich Rechtsanwalt in Frankreich und ansonsten seit über dreißig Jahren in antifaschistische Aktivitäten involviert. Mehrere seiner insgesamt circa zehn Bücher behandeln die extreme Rechte:
Die Rechten in Frankreich: Von der Französischen Revolution zum Front National (Deutsch)
Die Neue Rechte in Frankreich
Distanzieren, leugnen, drohen. Die europäische extreme Rechte nach Oslo