War Propaganda-Nestor Lippmann wirklich Propaganda-Kritiker?

Ein Spin-Doktor als Meilenstein der Pressekritik? Eine Replik mit Thesen.

In meiner Lippmann-Kritik Und wer hat die Fake News erfunden? stellte ich jüngst einige Thesen seiner aktuellen Herausgeber, der Professor:innen Silja Graupe und Walter Ötsch, in Frage. In ihrer Replik Propaganda und Demokratie warfen sie mir ein falsches Narrativ und eine ins Gegenteil verdrehende Fehldeutung Lippmanns vor.

Dem meiner Ansicht nach zu sehr belobigten Präsidenten-Berater, Think-Tank-Direktor und Neoliberalismus-Nestor Walter Lippmann (1889-1974) stellte ich den Schriftsteller, Publizisten und sozialistischen Aktivisten Upton Sinclair (1878-1968) entgegen. Lippmann beriet zehn US-Präsidenten und war neben Kissinger und Brzezinski ein berühmter Direktor des regierungsnahen, u.a. von Rockefeller finanzierten CFR (Councel on Foreing Relations).

Präsidentenberater Lippmann und der Sozialist Upton Sinclair

Das Duo Graupe/Ötsch gab jüngst Texte zu Presse und Freiheit heraus, die Lippmann 1920 publizierte. Sie deuten diese als Meilenstein der Pressekritik. Meine Deutung sieht diese Texte aber im Kontext der großen Upton-Sinclair-Publikation des Jahres 1919: "The Brass Check: A Study of American Journalism", die meiner Ansicht nach diese Bezeichnung eher verdient. Lippmanns kleinere und weit weniger kritische Texte von 1920 deute ich als ablenkende, abwiegelnde Reaktion des US-Establishments auf Sinclairs aufrüttelnde Enthüllungs-Studie.

Auf diese Kernthese meines Artikels geht die Replik von Graupe und Ötsch nur insoweit ein, dass sie nicht wüssten, ob Lippmann die große "Study of American Journalism" des damals schon weltberühmten US-Autors Sinclair gekannt habe, als er, Lippmann, seine kleinen "Studies of American Journalism" schrieb.

Wenn nicht, hätte der weltgewandte, rundum belesene, mit allen publizistischen Wassern gewaschene Lippmann damit eine überraschende punktuelle Rechercheschwäche gezeigt. Zumal Sinclair und Lippmann sich kannten und 1914 zerstritten hatten, vermutlich wegen einer zunehmenden Anpassung ans Establishment des jungen Lippmann.

Beriet Lippmann Woodrow Wilsons Wahlkampagne?

Wahlkämpfe allgemein und insbesondere vielleicht solche in den USA sind oft hart und schmutzig, voller Intrigen, Lügen und Manipulationen, etwa wie der innerparteiliche Kampf von Hillary Clinton gegen den "sozialistischen" Demokraten Bernie Sanders. Wer was zu verantworten hat, dürfte schwer zu ermessen sein, auch aus historischer Distanz. Die Replik von Graupe/Ötsch kritisiert meine Einschätzung der Position Lippmanns zum Wahlkampf 1916 so:

Lippmann war niemals, wie Barth schreibt, "Propagandaberater" des US-Präsidenten Woodrow Wilson, schon gar nicht "für seine Wiederwahl 1916".

Walter Ötsch und Silja Graupe, Propaganda und Demokratie

Wer war meine Quelle für diese Einschätzung Lippmanns? Überraschenderweise waren es meine Kritiker selbst. Graupe und Ötsch schrieben 2018 in ihrer Einführung zur Neuübersetzung von Lippmanns "Public Opinion":1

Anfang 1916 bricht Lippmann mit alten Freunden und tritt für eine Wiederwahl von Woodrow Wilson ein. Er wird von diesem in sein Sommerhaus eingeladen und veröffentlicht vor dem Republikanischen Konvent ein langes Interview. Wilson gewinnt mit dem Slogan "He kept us out of War" die Wahl, Lippmann erkennt aber früh, dass Wilson auf einen Kriegseintritt hinsteuert. Diese Richtung intendiert auch Lippmann.

Graupe/Ötsch; In: Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird

Hat Präsident Wilson mit dem wendigen Intellektuellen Lippmann (heute hieße so jemand Spin Doctor) in seinem Sommerhaus nur übers Wetter geplaudert? Oder angesichts seiner anstehenden Wiederwahl nicht doch eher über seine Wahlkampagne? Welche Rolle spielt das genannte Interview, das Lippmann offenbar mit Wilson führte, wenn nicht Teil von dessen Kampagne zu sein?

Immerhin startete Lippmann anschließend eine steile Karriere in Wilsons Stab. Daraus könnte man durchaus folgern, Lippmann hätte sich schon 1916 als Berater seine Sporen bei Wilson verdient. Zumal Wilson hätte froh sein sollen, den cleveren Lippmann aus dem Gefolge seines Hauptkonkurrenten bei dieser Wahl, Teddy Roosevelt, abwerben zu können.

Machte Lippmann Erste-Weltkriegs-Propaganda?

Die Replik von Graupe und Ötsch auf meinen Artikel bedauert, dass "der von uns geschätzte" Noam Chomsky einem Narrativ aufgesessenen ist, "das oft zu hören ist und Lippmann ursächlich mit den US-Propagandamaßnahmen in den Jahren 1917 und 1918 in Verbindung bringt". Meiner Auffassung nach kann eine solche Verbindung kaum völlig abgestritten werden, wie zu zeigen ist.

Meine Formulierung, Lippmann hätte für US-Präsident Wilson die beispiellose Propaganda-Kampagne organisiert, war zugegebenermaßen eine Vereinfachung: Lippmann war nicht persönlich Chef, aber doch ein, wenn nicht der maßgebliche, Ideengeber im Hintergrund des berüchtigten Creel-Committee.

Graupe und Ötsch gestehen zu, Lippmann habe die Idee zu dieser Propaganda-Agentur Präsident Wilson brieflich am 6.2.1917 vorgeschlagen. Lippmann sei zuvor seit längerer Zeit mit Präsident Wilsons Chefberater Colonel House befreundet gewesen. Dass für die Realisierung von Lippmanns Idee nicht seine Ausarbeitung diente und nicht er, sondern George Creel zum Chef bestellt wurde, mag seine Rolle schmälern.

Aber Lippmann war Einflüsterer und blieb im Hintergrund auch aktiv in die Wilson-Administration eingebunden: In das Geheimprojekt "The Inquiry", aus dem später das bekannte Council on Foreign Relations (CFR) hervorging, "vor allem von einflussreichen Bankern, Wirtschaftstreibenden und Rechtsanwälten gegründet", so Graupe und Ötsch.2

Wenn Lippmann später Kritik am Creel Committee übte, kann man diese auch so deuten, dass er sich durch die Berufung Creels an dessen Spitze übergangen fühlte. Oder dass er die ausufernde Gräuel-, Lügen- und Hasspropaganda für unappetitlich oder auch nicht zielführend hielt.

Dass Lippmann rein gar nichts mit der Kriegspropaganda Wilsons zu tun hatte, ist schwer vorstellbar. Einen Hinweis auf Lippmanns wegweisende Rolle in Wilsons Kriegspropaganda geben sogar Graupe und Ötsch selbst in ihrer "Public Opinion"-Einführung:3

Als Anfang Februar 1917 die Deutschen den unbeschränkten U-Boot-Krieg ausrufen und auch US-Schiffe versenken, verfasst Lippmann eine seiner wirkungsvollsten Kolumnen. Er erklärt die USA als Teil der "Atlantischen Gemeinschaft" (Atlantic Community): Sie sollen an der Seite der Briten... in die Schlacht ziehen... Lippmann schreibt dann für Wilson ein Memorandum für den Kriegseintritt, das Wilson aufgreift, als der russische Zar am 15.März abdanken muss: Die USA müssen... für "die Demokratie" kämpfen und "die Welt sicher für die Demokratie" machen.

Graupe/Ötsch: In: Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird

Lippmanns Stichworte für Wilsons Kriegspropaganda waren wegweisend weit über beide Weltkriege hinaus: Die "Atlantic Community", die für "die Demokratie" kämpfen und "die Welt sicher für die Demokratie" machen soll, wird uns noch heute so präsentiert.

Hat Lippmann die Inhaftierung des Sozialisten Debs gerechtfertigt?

Die Inhaftierung des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten war keine Kleinigkeit in der Geschichte der USA. In der Wahl 1912 erzielt der US-Sozialist Eugene Debs, obwohl man ihn inhaftiert hatte, an die eine Million Stimmen.

Ein für die USA sensationelles Ergebnis, den Republikaner Taft wählten auch nur 3,5 Millionen US-Bürger, Lippmanns Freund Teddy Roosevelt lag dazwischen. Ich schrieb zu Upton Sinclairs "Study of American Journalism", sie beweise "1919 knallhart, dass die US-Presse mehrheitlich tendenziös gegen Debs und überhaupt gegen alles, was sozialistisch war, gehetzt hatte.

Von fairen und freien Wahlen konnte folglich keine Rede sein. Lippmann dagegen rechtfertigt noch 1920 die Inhaftierung von Debs und bezichtigt den Sozialisten der "Agitation". Die Replik von Graupe und Ötsch bestreitet, mich falsch zitierend, meine Thesen:

Lippmann hatte für die neue Behörde andere Intentionen und sprach sich wiederholt gegen Creel aus. Lippmann war auch gegen die bald einsetzende Zensur. Ihn mit dem Espionage Act, der in einer ersten Fassung bereits am 5. Februar 1917 im Senat und im Repräsentantenhaus eingebracht wurde, in Verbindung zu bringen, ist nicht belegt.

Lippmann war auch kein "Drahtzieher der Unterdrücker sozialer Bewegungen", wie Barth schreibt. Barth unterstellt Lippmann, er hätte noch 1920 die Inhaftierung des US-amerikanischen Sozialisten Eugen V. Debs gerechtfertigt, er dreht dabei das, was Lippmann in Liberty and The News sagt, in das Gegenteil um.

Walter Ötsch und Silja Graupe, Propaganda und Demokratie

Zunächst einmal: Hier wurde ich in einem entscheidenden Punkt falsch zitiert: Bei mir firmierte Lippmann als Drahtzieher nicht "der Unterdrücker", sondern "der Unterdrückung" sozialer Bewegungen. Im irrigen Zitat wird mir implizit unterstellt, ich würde Lippmann als Mann hinter Wilson und seinem Stab sehen. Ich sehe ihn jedoch nur als Spin-Doktor oder höchstens intellektuelles Mastermind mit viel Charme und der sophistischen Begabung, Menschen zu überreden.

Lippmann versucht in Liberty and The News meiner Ansicht nach, von Sinclairs bahnbrechender Propaganda-Studie abzulenken, wobei er seine Leser einlullt, bezirzt und zu verwirren trachtet. Lippmann schreibt zu Eugene V. Debs eine kurze Passage4, die mit einem Zitat von John Stuart Mill beginnt, einem großen Nestor des Utilitarismus, in der angelsächsischen Philosophie ein Klassiker:

"Sogar Meinungen verlieren ihre Unantastbarkeit, wenn die Umstände, unter denen sie zum Ausdruck kommen, so sind, dass sie wie eine direkte Aufreizung zu einer Übeltat wirken." (Mill-Zitat aus On Liberty)

Offensichtlich gibt es hier kein Entrinnen für Männer wie den Sozialisten Eugene V. Debs, den Gewerkschafter William Dudley Haywood oder alle, die Kriegsanleihen boykottieren. Das Argument ist exakt das Gleiche, das zur Begründung der Verurteilung von Debs verwendet wurde.

Walter Lippmann

Lippmann führt in seiner ziemlich wirren Argumentation für ein seiner Meinung nach richtiges Verständnis von (Presse-) Freiheit drei Verteidiger der Freiheit an: Russel, Milton und Mill. Bei jedem findet er irgendwo eine Einschränkung der Freiheit, bei Mill eben bezüglich der direkten "Aufreizung zu einer Übeltat".

Dass er hier mit Debs anschließt, der nicht nur 1912, sondern auch 1919 für eine Rede auf Basis des berüchtigten, totalitär anmutenden Espionage Act bzw. des noch schärferen Seduction Act inhaftiert wurde, ist verstörend.

Der zu zehn Jahren Haft (!) verurteilte Debs wurde zwar nach Kriegsende 1920 freigelassen, starb aber 1926 mutmaßlich an den Folgen der unmenschlichen Haftbedingungen. Das Regime, das Debs inhaftierte, war dasselbe, für das Lippmann als Spitzenfunktionär gearbeitet hatte, was seine Wahl dieses "Beispiels" einer sophistischen Plänkelei umso zynischer wirken lässt.

Lippmann fährt in seinem Sermon fort und kommt zwei Seiten später noch einmal kurz und ebenso abwertend auf Debs:5

Soll in der modernen Gesellschaft eine umfassende Toleranz gegenüber abweichenden Ansichten erreicht werden, so wird dies nicht einfach dadurch geschehen, dass man die Prozesse des Sozialisten Eugene V. Debs durch die Gerichte bringt, und schon gar nicht durch die Androhung, diese Gerichte anzufechten, wenn sie der Agitation nicht nachgeben.

Walter Lippmann

Die angesprochene "Agitation", der die Gerichte "nicht nachgeben" sollen, ist zweifellos jene Rede von Eugene V. Debs, für die man ihn erneut inhaftiert hatte. Selbst wenn Lippmann die Verurteilung der "Agitation" und der "Aufreizung zu einer Übeltat" im Zusammenhang mit Debs anderen in den Mund legt: Eine Kritik an der politischen Verfolgung Debs ist bei Lippmann schwerlich zu erkennen, eher schon ein beiläufiges Nachtreten.

Folglich drehte ich Lippmanns Wertung auch keineswegs "in das Gegenteil um", wie mir unterstellt wurde. Lippmanns wirres Lamento für eine angeblich wahre (Presse-) Freiheit endet mit der banalen Forderung, man solle den "Wahrheitsgehalt der Informationen, die unser Handeln bestimmen, schützen und steigern".6

Lippmann versus Sinclair: Die Rechtfertigung einer auf Propaganda gestützten Eliten-Herrschaft

1919 scheint Lippman in kurzen Artikeln gegen Propaganda und für eine freie Presse zu argumentieren, wenn auch zaghafter als Sinclair und dessen großangelegte Studie zum Thema nicht erwähnend. Nachdem es Upton Sinclair trotz aller Widerstände gelingt, das Thema Propaganda und Presse durch die Verbreitung von "The Brass Check" weiter in die Öffentlichkeit zu bringen, legt Lippmann nach.

Er holt 1922 mit einem ähnlich umfangreichen Buch zum Gegenschlag aus und würzt seine nunmehr offene Verteidigung von Propaganda mit einigen bissigen Seitenhieben auf Sinclair, freilich tief versenkt im letzten Viertel des Wälzers.

In Lippmanns 375-Seiten-Werk "Public Opinion", dt. Die öffentliche Meinung, kippt seine Pressekritik aus "Liberty and The News" in die Rechtfertigung einer auf Propaganda gestützten Eliten-Herrschaft. Lippmann wird zum antidemokratischen Advokaten der Elitenherrschaft, wie Rainer Mausfeld schreibt. John Dewey sah in "Public Opinon" die effektivste Anklage der Demokratie seiner Zeit.7

Lippmann analysiert, wie Propaganda funktionieren kann und er wendet sich sogar explizit gegen Sinclair -dessen Buch sich trotz Medienboykott seitens der Pressekonzerne immer besser verkaufte, was weiteres Totschweigen wohl aussichtslos erscheinen ließ. Das macht Lippmann freilich recht geschickt, es gelingt ihm noch heute uns mit seinem Räsonieren über die Erkennbarkeit der Wahrheit einzuwickeln.

Seine charmante Erfindung unserer inneren "Pseudo-Umwelt" aus Stereotypen (sein Begriff geht in unseren Wortschatz ein) lenkt wunderbar ab von jenen konkreten politischen Problemen der freien, aber kapitalistisch organisierten Presse, die Sinclair kritisierte. Lippmann denkt zwar nicht im Traum daran, sich ernsthaft mit Sinclairs Argumenten auseinanderzusetzen, greift ihn aber mit süffisanter Sophistik an:8

Wir werden zeigen, dass Sinclair log, als er behauptete, jemand habe gelogen, und dass jemand log, als er behauptete, Sinclair habe gelogen… Es gibt in der angewandten Psychologie keinen Regelkodex… den Geist des Journalisten zu leiten, wenn er von Nachrichten in das unbestimmte Reich der Wahrheit überwechselt. Es gibt keinerlei Vorschriften, die seinen Geist lenken, noch Regeln, die das Urteil des Lesers oder das des Verlegers zwingend beeinflussen. Seine Version der Wahrheit ist nur seine eigene. Er kann sie nicht beweisen, ebenso wenig wie Sinclair...

Walter Lippmann

Was beschwert sich dieser Sinclair über verlogene Kampagnen gegen ihn selbst und andere Sozialisten und Gewerkschafter, wenn doch kein Psychologe Regeln für die Wahrheit kennt? "The Brass Check" übt eine ausführliche und vernichtende Kritik an der "freien Presse" in den USA, sie sei notorisch verlogen-einseitig, stramm antikommunistisch, korrupt und kriminell.

Dies alles weist Sinclair an konkreten Fallbeschreibungen auf, oft selbst als Betroffener oder Zeuge, wenn etwa Reporter bei ihm einbrachen oder Verleumdungen durch Pressemeldungen ihn sogar einmal ins Gefängnis brachten. Am Ende war es Upton Sinclair persönlich, der "The Brass Check" 1919 im Selbstverlag veröffentlichte und durch zähe selbstorganisierte Werbung immerhin über 150.000 Exemplare zum Selbstkostenpreis vertrieb.

Walter Lippmann sieht in den wenigen, ebenso kurzen wie abfälligen Erwähnungen Sinclairs in seinem Kapitel über "Zeitungen" keinen Grund genauer auf dessen Argumente einzugehen. Ihm genügt, dass "die Presse nicht so allumfassend bösartig und in Verschwörung verstrickt ist, wie Upton Sinclair uns glauben machen will".9

"The Brass Check" und die Pressefreiheit

Upton Sinclair hatte auf 450 Seiten beschrieben und analysiert, wie die sozialistische Position und andere kritische Haltungen im US-Mainstream damals buchstäblich "bis auf‘s Blut" bekämpft wurden. Die kleine Handvoll kritischer Publikationen, die Zehntausenden regimetreuen Schmier- und Kampfblättern die Stirn boten, wurde verfemt, ökonomisch stranguliert, von Krediten, Räumlichkeiten, Druckmaschinen, Papier ferngehalten; ihre Autoren wurden drangsaliert, politisch verfolgt, eingesperrt, sie und ihre Familien bedroht und schlimmstenfalls ermordet.

Die ihnen gegenüber stehenden kapitalistischen Presse-Tycoons, hatten im Hintergrund milliardenschwere Räuberbarone mit paramilitärischen Truppen, schwerbewaffnete "Detekteien" wie Pinkerton, die bei Arbeitskämpfen mit Maschinengewehren anrückten und Streikposten wie Journalisten unter Feuer nahmen. Auch die Familien sozialistischer Aktivisten wurden nicht verschont.

Sinclair beschreibt z.B. die "Colorado Coal-Strikes", wo 11.000 Minenarbeiter im Ausstand waren, um für eine Erhöhung ihrer Hungerlöhne zu kämpfen. Ihre Familien hatten die Arbeiter in einer Zeltstadt abseits in Sicherheit gebracht -doch diese wurde Ziel eines Brandanschlags: drei Frauen und 14 Kinder starben in den Flammen.

Der Massenmord ging als "Ludlow Massaker" in die Geschichte ein. In New York war Upton Sinclair bei einer Protestversammlung von 3000 Menschen, die das Ludlow-Massaker mit Berichten von Augenzeugen bekannt machen wollten. Die Pressereaktion am nächsten Tag: Ein Artikel in "the New York Call, a socialist paper, and two inches in the New York World" -und nicht eine Zeile in den Hunderten anderen New Yorker Zeitungen.10

Sinclair beschreibt, wie er mit Gleichgesinnten vor Rockefellers Büro persönlich gegen das Massaker demonstriert und dabei von Polizisten drangsaliert wird. Er häuft eines solcher Beispiele an das andere, analysiert Hintergründe von Hetzkampagnen, die Rolle der übermächtigen Associated Press im Hintergrund als große Vergifterin der "public opinion".

Lippmann antwortet mit Hohn: Warum regt sich dieser Sinclair so auf?

Geht Lippmann darauf ein? Wie verteidigt er die manipulative US-Mainstream-Presse?

Lippmann wirft Sinclair vor, er würde ein Konzept einer absoluten Wahrheit vertreten, die durch "die Finanzwelt" mehr oder weniger bewusst unterdrückt werde.

Aber so meint Lippmann, auch die "antikapitalistische Presse" enthalte "Beispiele von Unfairness und Lügenhaftigkeit": Sinclair könne "niemanden, nicht einmal sich selbst davon überzeugen, dass die antikapitalistische Presse das Heilmittel für die kapitalistische Presse ist".11

Genauer gesagt, fragt Lippmann dort Upton Sinclair süffisant, warum dieser seinen Lesern nicht einfach den Rat gibt "das nächste radikale Blatt zu abonnieren". Als wäre nicht jede einzelne Seite von "The Brass Check" ein flammender Appell genau zu dieser Wahl -und voller Beweise dafür, dass eben diese freie Wahl durch ein korruptes, brutales und tückisches Presseregime unterdrückt wird. Lippmann Antwort scheint vor diesem Hintergrund nicht frei von einer gewissen Häme.

Und die Frage nach Fake News, Lügen, Hetz-Kampagnen? Lippmann wirft einfach wie Pontius Pilatus die Hände in die Luft und seufzt "Was ist Wahrheit!" Wenn es keiner genau weiß, wie die Philosophen sagen, wenn es die breite Masse ohnehin nicht interessiert, die man laut Lippmann am Besten von wichtigen Entscheidungen fern hält oder ihr eine Gehirnwäsche verpasst, warum regt sich dieser Sinclair dann so auf?

Seine radikalen Blätter machen doch ebenso ihre Propaganda und das ist laut Lippmann der Beweis, dass man "den Kapitalismus" nicht "für die Fehler der Presse verantwortlich machen" kann.12 Erstens ist diese Argumentation natürlich logisch falsch und zweitens wird Sinclair damit sehr rüde beiseite gelegt. Andere bewerten Sinclair Beitrag zur Pressekritik noch 80 Jahre später weit freundlicher.

Es war eine Zeit, die der heutigen verblüffend ähnlich ist und insbesondere die Korruption der Demokratie durch politische und wirtschaftliche Eliten widerspiegelt, deren Kontrolle über die Medien das öffentliche Bewusstsein, die Debatte und den Aktivismus abwürgt. Im Gegensatz zu heute war jedoch die radikale Kritik am kapitalistischen Journalismus während der Progressiven Ära ein beherrschendes Thema in der Linken, insbesondere in der sozialistischen, anarchistischen und progressiven Presse.

Dies war das Goldene Zeitalter der radikalen Pressekritik, und Upton Sinclair stand in seinem Epizentrum.

Scott, McChesney, Upton Sinclair und die Widersprüche des kapitalistischen Journalismus

Literatur

Walter Lippmann: Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News. Aus dem Amerikanischen von Karim Akerma. Hg. Walter Otto Ötsch, Silja Graupe. Frankfurt am Main: Edition Buchkomplizen (Westend) 2021

Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird, Hg. Walter Otto Ötsch, Silja Graupe, Frankfurt am Main: Westend 2018, darin die Einführung der Herausgeber S.9-54.

Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? 5.Aufl., Frankfurt, Westend-Verlag 2020 Upton Sinclair: The Brass Check. A Study of American Journalism, Original im Selbstverlag 1919, Nachdruck 2015 von Forgotten Books

Ben Scott/Robert W. McChesney: Upton Sinclair and the Contradictions of Capitalist Journalism, monthlyreview, 1. Mai 2002