Warnung aus Indien: Das System "Wirtschaftswachstum um jeden Preis" eskaliert

Müllberg in Kolkata-Dhapa

Kolkata-Dhapa: Sollten die Temperaturen weiter so ansteigen, wird ein Leben in Indiens Großstädten nur schwer möglich sein. Bild: Gilbert Kolonko

Über Feuerwehrsignale für das weltweite Wirtschaftssystem – mit indischen Lektionen für Deutschland. Wo bleibt die Weitsicht? Essay.

Nicht nur die derzeitige Hitzewelle in Indien zeigt erneut auf, dass die Schäden eines neoliberalen Wirtschaftswachstums seine Errungenschaften übersteigen. Das ist auch in Deutschland ohne derart dramatische Naturkatastrophen zu sehen.

Dass es in Indien heiß ist, ist nichts Besonderes, das ist es jedes Jahr im Sommer: Doch wird es immer heißer, dazu jedes Jahr früher und über einen längeren Zeitraum. Schon im April purzelten in vielen indischen Bundesstaaten die Hitzerekorde.

Aktuell klettert das Thermometer in der indischen Hauptstadt New Delhi seit dem 13. Mai täglich über 40 °C.

Zwischen 40 °C und 50 °C

Am 29. Mai zeigten die 20 Messstationen der indischen Hauptstadt zwischen 45 °C und 50 °C Grad an. Im Nachbarbezirk von Delhi, in Mungeshpur, wurde die Rekordtemperatur von 52,9 °C gemessen.

Ein Ende der Hitzewelle ist nicht in Sicht: In den nächsten 16 Tagen sollen die Temperaturen in Delhi zum Teil wieder auf 50 °C steigen. Nachts soll es dann nur noch auf knapp unter 40 Grad Celsius abkühlen – der Körper kann sich dabei nicht mehr erholen.

Das ist ähnlich wie bei Bergsteigern in der sogenannten Todesszone: Ab 7.000 Metern Höhe baut der Körper ab, eine Akklimatisierung ist nicht mehr möglich. Bis in den August hinein ist es in der Regel noch sehr heiß in Delhi – der Regen kommt in der Regel erst im Juli. Doch damit steigt auch die Luftfeuchtigkeit.

Von Ende April bis in den Mai hinein litt die 15,7-Millionen-Einwohner-Metropole Kolkata (früher: Kalkutta) unter einer Hitzewelle mit Temperaturen bis 43 °C. In der Hauptstadt des östlichen Bundesstaates West-Bengalen kommt zur Hitze noch die hohe Luftfeuchtigkeit hinzu – Kolkata liegt in der Nähe des Golfs von Bengalen, einem Randmeer des Indischen Ozeans.

Trotz frühzeitiger Warnung: Behörden sind überfordert

Die Maßnahmen der Behörden, der Bevölkerung Erleichterung zu schaffen, waren völlig unzureichend.

Eine Temperatur von 50 °C mit einer Luftfeuchte von 80 Prozent besitzt zum Beispiel eine Kühlgrenztemperatur von 36 °C. Schon bei einer Kühlgrenztemperatur von 35 °C ist menschliches Überleben nicht mehr möglich, da sich der menschliche Körper durch Schwitzen nicht mehr selbst abkühlen kann.

Bereits im Jahr 2012 sagten Klimaforscher voraus, dass Kolkata 2032 regelmäßig 44 Grad erreichen werde und 48 Grad im Jahr 2052.

Klimaanlagen: Die Nachteile der Technik

In Salt Lake, das zum Großraum Kolkata gehört, waren es diesen April schon 43,5 Grad. "Ab Ende April war konzentriertes Arbeiten in der Wohnung nur für ein paar Stunden am Tag möglich", sagte der Journalist und Aktivist Sushovan Dhar, der bewusst ohne Klimaanlage auskommt: "Ich bin auch während der Hitze viel unterwegs. Das wäre nicht möglich, wenn sich mein Körper an die Kühle gewöhnt. Zudem bin ich früher mit Klimaanlage viel öfter krank geworden."

Auch Dhar weiß, dass Klimaanlagen nicht generell krank machen, aber wenn sie nicht genau eingestellt sind oder verdrecken, können sie schnell zu Atemwegserkrankungen führen.

Aktuell gehen Klimaanlagen in Indien wegen Überlastung auch regelmäßig in Flammen auf. Am 29. Mai musste die Feuerwehr Delhis so oft ausrücken, um Brände zu löschen, wie sonst nur an Diwali – eine Art indisches Silvester.

Der Müllberg in Delhi-Ghazipur überragt die umliegenden Stadtteile. Bild: Gilbert Kolonko

Im nationalen Hauptstadtterritorium (NCT) von Delhi leben 33 Millionen Menschen – New Delhi wird der innerstädtische Bereich genannt. Die aufgeheizten Hochhaus-Ghettos der aufstrebenden Mittelklasse reichen schon bis in die benachbarten Bundesstaaten Haryana und Uttar Pradesh hinein.

32 Prozent der Bewohner Delhis besitzen eine Klimaanlage – Tendenz stark steigend. Doch bei einem genaueren Blick wird klar, dass das Problem der steigenden Hitzetage alleine durch Technik nicht gelöst werden wird. Aktuell hat Delhi einen Rekordstromverbrauch von 8.000 MW. Bangladesch mit 171 Millionen Einwohnern verbraucht im Sommer 15.000 MW. So lässt die indische Regierung mehr Kohlekraftwerke bauen.

Zwar hat Indien einen Rekord in Strom aus erneuerbaren Energien vorzuweisen, mit einer Kapazität von 190 Gigawatt-Stunden, aber auch einen Rekord an Kohleverbrauch von 15 Terrawatt-Stunden.

Wer soll die Arbeiten im Freien ausführen?

Wie Dhar andeutet, ist ein weiterer Nachteil bei der Benutzung von Klimaanlagen, dass das Leben für die Menschen außerhalb der klimatisierten Wohnung zur Hölle wird. Zudem wird die indische Bevölkerung die Fähigkeit verlieren, sich der Hitze anzupassen. Wer soll dann all die Arbeiten im Freien ausführen, die auch im Sommer nötig sind?

In den reichen und heißen Ölstaaten wie Katar tun das die Billigarbeiter, auch aus Südasien – diese und ihre Angehörigen stellen 88 Prozent der Bewohner Katars. Unter den 6.500 Gastarbeitern, die beim Bau für die Infrastruktur für die Fußball-WM in Katar starben, stammten 2.700 aus Indien.

Zweimal machte ich in meinen Sommern in Indien und Pakistan den Fehler, Aircondition in Anspruch zu nehmen: Als ich nach einer fünfstündigen Fahrt von Delhi nach Amritsar bei 45 Grad Celsius aus dem Zug stieg, war ich wie betäubt und kurzatmig. Der fünfstündige Weg, zu Fuß und mit Bussen, über den Grenzübergang Wagah nach Lahore war wie im Fieber-Delirium.

Ein anderes Mal nahm ich mir in Delhi bei 46 Grad Celsius ein Zimmer mit Klimaanlage: Anstatt auf den Straßen zu recherchieren, schaffte ich es die nächsten drei Tage bis zur Weiterfahrt maximal an den Teestand.

Tage oder Wochen bei trockenen 40 Grad Celsius lassen sich schon überstehen. Man kann sogar durch die Wüste bei 50 Grad Celsius wandern. Aber was ist mit den Menschen, die alt oder gesundheitlich eingeschränkt sind, oder nicht das Glück haben, körperlich robust zu sein?

Luft und Wasser

Die Kinder Delhis haben mittlerweile schon mit der Geburt einen Nachteil: Wegen der Luftverschmutzung wachsen sie laut einer Studie mit kleineren Lungen heran als ihre Altersgenossen in der westlichen Welt. Eine andere Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die verpestete Luft in Delhi deren Bewohner durchschnittlich 11,9 Jahre weniger leben lässt.

Eine weitere gesundheitliche Beeinträchtigung verursachen mit Arsen und Schwermetallen belastete Lebensmittel. Offiziell ist es mittlerweile den Bauern zwar verboten, ihre Felder mit dem Wasser der verdreckten Stadtflüsse wie dem Yamuna zu wässern. Doch regelmäßige Besuche vor Ort zeigen, dass die Bauern weiterhin das verseuchte Flusswasser mit Pumpen auf die Felder leiten.

Auch das Leitungswasser in Delhi ist für den menschlichen Verzehr ungeeignet. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnte der Zugang zu sauberem Trinkwasser in Indien jährlich 400.000 Leben retten.

Auch aus Mangel an Grundwasser pumpen die indischen Bauern weiter verseuchtes Wasser auf ihre Felder. Bild: Gilbert Kolonko

Dazu leiden laut einer anderen Studie 42 Prozent der Bewohner Delhis an Diabetes. Weitere 37 Prozent haben die Vorstufe von Diabetes erreicht – Prädiabetes. Es sind vor allen die Armen in den Großstädten, die davon betroffen sind.

Die Luftverschmutzung ist kein alleiniges Problem der Metropolen. Seit Jahren verzeichnen auch immer mehr indische Kleinstädte erschreckend hohe Feinstaubwerte.

In Delhi sieht es selbst neben einem Neubau der Weltgesundheitsorganisation aus, wie es ausieht. Bild: Gilbert Kolonko

Verpestete Luft gibt es in Indien nicht nur im Winter (obwohl meist nur dann solche Meldungen auch Deutschland erreichen). Selbst während der aktuellen Hitzewelle wurden in Delhi-Groß Noida Feinstaubwerte gemessen, die die Grenzwerte der WHO um das 37-Fache überstiegen.

Gebaut wird, was der aufstrebenden indischen Mittelklasse hilft

Ob vonseiten der Zentralregierung oder von den Regierungen der 28 Bundesstaaten: Gebaut wird, was der aufstrebenden indischen Mittelklasse und damit dem Wirtschaftswachstum hilft. Seit 2014 hat die Regierung unter Premierminister Narendra Modi die Anzahl der Flughäfen von 77 auf 140 nahezu verdoppelt. Dazu wurden 95.000 zusätzliche Straßenkilometer gebaut – der Automarkt boomt in Indien.

Narendra Modi ist nicht an allem Schuld. Auch in Indien ist die Lage komplexer. Bild: Gilbert Kolonko

Das generiert kurzfristiges Wachstum, erhöht aber auch den Ausstoß von CO2 gewaltig, unter dessen Auswirkungen Indien mit am meisten leidet.

Dabei müsste die Regierung endlich in ein funktionierendes Abwassersystem für ihre planlos wachsenden Großstädte investieren oder in ein funktionierendes Müllbeseitigungssystem. 70 Prozent des indischen Oberflächenwassers sind verdreckt.

Yamuna Fluss in Delhi – 70 Prozent des Oberflächen-Wassers in Indien ist verdreckt. Bild: Gilbert Kolonko

Indiens riesige Müllberge qualmen vor sich hin oder gehen wie die Klimaanlagen in Flammen auf.

Nach der jetzt anhaltenden Hitze wird der Regen kommen und die Großstädte überschwemmen, weil diese so betoniert sind, dass das Regenwasser nicht mehr ablaufen kann. Im Himalaja wird der Regen für Erdrutsche sorgen und die Gefahr erhöhen, dass Gletscherseen überlaufen und Staudämme brechen.

Wer nun Indien wegen dieser Kurzsichtigkeit tadelt, der sei daran erinnert, von wem das Land das Wachstumsallheilmittel übernommen hat: vom Westen – der jedoch viele seiner dreckigen Industrien längst ausgelagert hat.

Gestattet sei deshalb ein aktueller Blick nach Deutschland, wo dieses seit Ende des Zweiten Weltkrieges herrschende "überlegene System" seit Langem in etlichen Bereichen krankt. Von Weitsicht keine Spur.