Warum Erdgas aus Russland nicht mehr strömt, aber fließt
Seite 2: Vollständig unabhängig? Bundesregierung schließt Einfuhr von russischem LNG nicht aus
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Bundeskanzler Olaf Scholz hatte im September eine vollständige Unabhängigkeit von russischem Gas bis Ende 2023 prognostiziert. Neue Importterminals würden die Einfuhr von Flüssigerdgas aus Norwegen, den USA "und vielen anderen Ländern" ermöglichen, sagte Scholz damals in seiner Rede beim Deutschen Arbeitgebertag in Berlin.
Mit einem Schiff in Wilhelmshaven und einem in Lubmin sind nun schon zwei deutsche schwimmende Import-Terminals in Betrieb. Die Kosten für den Bau weiterer mindestens fünf Terminals haben sich nach Prognosen des Bundeswirtschaftsministeriums seit Planungsbeginn mehr als verdreifacht.
Die Erwartungen der Politik beißen sich nun mit der Realität der Märkte: Die Bundesregierung kann nicht ausschließen, dass deutsche Gasimporteure auch russisches LNG über die neuen Flüssiggasterminals importieren werden.
Russische LNG-Exporte nach Europa sind der Bundesregierung bekannt
Das geht aus den Antworten auf eine Kleine Anfrage aus dem Bundestag hervor, die Telepolis und der Berliner Zeitung exklusiv vorliegt. Privatwirtschaftliche Gashändler müssten ihre Mengen auf dem Weltmarkt beschaffen, wo auch russisches LNG verkauft werde, heißt es in den Antworten an den wirtschaftspolitischen Sprecher der Linksfraktion, Christian Leye. "Der Bundesregierung ist bekannt, dass russisches Flüssigerdgas an Flüssigerdgasterminals in europäischen Nachbarstaaten anlandet."
Zwar wurde im Jahr 2022 nach Kenntnis der Bundesregierung kein russisches LNG direkt nach Deutschland geliefert. Es sei aber nicht auszuschließen, "dass Deutschland im Jahr 2022 indirekt über LNG-Terminals europäischer Nachbarstaaten russisches Flüssigerdgas erhalten hat".
Konkrete Auskunft darüber kann die Bundesregierung aber nicht erteilen. Sie gibt an, keine Daten zum Weitertransport und Verbrauch des russischen Flüssigerdgases in Europa oder indirekte Lieferungen von russischem LNG nach Deutschland zu erfassen.
Bereits Mitte November hatte die Berliner Zeitung unter Berufung auf die Daten der Internationalen Energieagentur (IEA) und die EU-Kommission über gestiegene russische LNG-Lieferungen nach Frankreich, Spanien, Belgien und in die Niederlande im Jahr 2022 berichtet.
In den ersten neun Monaten sollen sie um 46 Prozent auf 16,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas gestiegen sein. Die Menge ist im Vergleich zur Gesamtkapazität der Nord Stream 1 von 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr nicht ganz irrelevant.
Da der europäische Energiemarkt eng verflochten ist, wurden einige Mengen davon wahrscheinlich auch nach Deutschland weiterverkauft. Das Flüssigerdgas soll vom zweitgrößten russischen Erdgasförderer Nowatek stammen, einem privaten, börsennotierten Unternehmen.
Keine Auskunft zu Nebeneffekten für andere Länder
Auch die Frage des Bundestagsabgeordneten Leye, ob eine erhöhte europäische Nachfrage nach LNG die Energieversorgungssicherheit anderer Länder gefährdet, konnte die Bundesregierung nicht beantworten.
"Die Bundesregierung hat bisher keine Berechnung in Auftrag gegeben, die die Effekte der verstärkten deutschen und europäischen Fokussierung auf Flüssigerdgas modellieren würde", heißt es dazu.
Der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller (Grüne) hatte seinerseits bereits im Mai des vergangenen Jahres Nachteile europäischer Hinwendung zum LNG-Markt für andere Kontinenten festgestellt. "Das moralische Dilemma ist furchtbar", sagte Müller in der ZDF-Talkshow Markus Lanz.
Experten gehen davon aus, dass vor allem in Asien Länder mit "volatilen" Verträgen das Nachsehen haben, darunter Kambodscha, Vietnam und Indonesien. Zahlt Europa mehr, machen die Tanker dorthin kehrt und steuern europäische Häfen an.
"Die weltweiten Flüssiggas-Kapazitäten reichen derzeit nicht aus, um die steigende Nachfrage zu befriedigen", sagte der Linken-Abgeordnete Leye gegenüber Telepolis und der Berliner Zeitung.
Leye sieht daher zwei Möglichkeiten: "Entweder es gibt Verhandlungen mit Russland über Frieden und über eine Wiederaufnahme von Gaslieferungen oder die deutschen Gasimporteure kaufen mit voller Billigung der Bundesregierung den ärmeren Ländern der Welt das Flüssiggas vor der Nase weg, weil sie Mondpreise zahlen."
Die "wertegeleitete Außenpolitik" der Bundesregierung sei "teuer und schädlich gerade für die ärmeren Teile der Menschen in Deutschland und dem Globalen Süden", so Leye.
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