Warum Wahlbörsen Abstimmungsergebnisse besser vorhersagen können

Seite 2: "Repräsentativität wäre sogar hinderlich"

Ist für eine Wahlbörse eine Mindestmenge an Spielern wichtig? Und spielt hier Repräsentativität gar keine Rolle? Würde es trotzdem funktionieren, wenn nur Männer oder Akademiker oder Unterschichtsangehörige sich beteiligen?

Walter Mohr: Entgegen der Meinung von Experten, die nie eine Wahlbörse durchgeführt haben, genügen etwa 50 Stammspieler, wie unsere Wahlbörse in den letzten Jahren gezeigt hat. Durch Vergleich mit Schwarmintelligenz und effizienten Märkten sieht man, dass diese Teilnehmergruppe einige besondere Eigenschaften besitzen sollte. Am wichtigsten ist der aktive kompetente Handel, damit die gesammelten Informationen in aussagefähige Kurse und eine gute finale Prognose eingebracht werden können. Wir unterstützen die Teilnehmer dabei u.a. durch ein Diskussionsforum, Wahlstatistiken und kleine Prämien.

Repräsentativität wäre sogar hinderlich. Die früheren Befragungen von Teilnehmern an Wahlbörsen bei uns und in Österreich zeigen, dass die Teilnehmer aus allen Altersschichten stammen, dass es deutlich mehr Männer sind, ein überdurchschnittlicher Bildungsabschluss besteht und vor allem ein starkes politisches Interesse vorliegt. Eine große Heterogenität hinsichtlich der politischen Einstellungen ist dabei hilfreich. Individuell sollten sich die Spieler durch Unabhängigkeit, Aktivität, Fairness und Motivation auszeichnen. Man nimmt gemeinsam an einem öffentlichen Experiment teil und möchte gute Ergebnisse abliefern.

Zu Ihrer Letzten Frage: Unter den Teilnehmern sind also deutlich mehr Männer, überdurchschnittlich viele Akademiker und somit eher unterdurchschnittlich viele Unterschichtsangehörige.

Sie sagen provokativ, Repräsentativität sei für eine Wahlbörse hinderlich. Wie kann man denn ohne Repräsentativität das Wahlverhalten aller Wähler prognostizieren?

Walter Mohr: An Wahlbörsen werden, wie ausführlich in unserem Buch dokumentiert ist, im Mittel bessere finale Prognosen erzielt. Dazu braucht man neben der technischen Plattform etwa 50 Stammspieler, die aktiv handeln und gut miteinander in vielen gemeinsam durchgeführten Wahlen eingespielt sind. Wichtig ist ferner eine breite Streuung ihrer politischen Meinungen, was man durch die unterschiedlichen Forumsbeiträge bestätigt sieht. Bisweilen gibt es jedoch sehr linientreue Parteifans, insbesondere von der AfD, die versuchen, die Aktien ihrer Partei nach oben zu kaufen. Größtenteils werden diese Verzerrungen durch andere Mitspieler ausgeglichen.

Für das erfolgreiche Mitspielen an einer Wahlbörse sind noch zwei weitere Voraussetzungen von Belang. Zum einen ein besonderes Interesse für Politik und zum anderen eine gewisse Vertrautheit mit dem Handel an einer Börse. Letzteres kann man schnell lernen, wie Schüler mit ihrer erfolgreichen Wahlbörse zu einer Landtagswahl in Schleswig-Holstein demonstriert haben. Am wichtigsten ist jedoch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Spielgemeinschaft mit dem Ziel, eine gute Prognose zu erreichen und möglichst besser zu sein als die meisten Umfrageinstitute.

Die Erstellung guter Prognosen mittels Wahlbörsen oder einfacher Modelle (Regeln) ist lern- und trainierbar, wie in den auch für Nichtstatistiker interessanten Büchern von Tetlock und Gardner (Super Forecasting. Die Kunst der richtigen Prognose) sowie von Kahnemann, Sibony und Sunstein (Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt und wie wir sie verbessern können) aufgezeigt wird. Unsere Spezialprognose mit dem Prognosys-Master-Vote ist dafür ebenfalls ein eindrucksvolles Beispiel.

Medien sind skeptisch

Sie sagten, dass Medien ihre Wahlbörse nicht übernehmen wollen. Woher rührt die Ablehnung? Erscheint Journalisten das Vorgehen von Meinungsforschungsinstituten mit Umfragen seriöser? Schreckt sie das Zocken ab? Gibt es eingefahrene Verbindungen zwischen Medien und Meinungsforschungsinstituten? Welche Gründe könnten dahinterstehen?

Walter Mohr: Um die Frage zu beantworten, sollte man mit einer Gegenüberstellung von Umfragen und Wahlbörsen beginnen.

Bei Umfragen werden die mittels einer Zufallsstichprobe ausgewählten Personen befragt. Die Prozedur ist für die Teilnehmer eher passiv und ohne persönliche Anreize. Die Rohergebnisse der Befragung werden einer geheim gehaltenen Aufarbeitung vonseiten der Institute unterzogen.

Wahlbörsen sind ein Meinungsmarkt mit freiwilligen, interessierten Teilnehmern. Die Kursstellung und Entwicklung der Parteiprognosen kann transparent von jedermann eingesehen werden. Die Spieler sind aktiv durch den Handel einbezogen. Ihre Motivation besteht darin, in der Renditerangliste möglichst weit oben zu stehen oder fundierte Beiträge im Forum zu schreiben. Die Wahlbörse bietet somit Information und Unterhaltung.

Beide Methoden sind fehleranfällig. Bei Umfragen gibt es den nicht zu vermeidenden Zufallsfehler, aber auch systematische Fehler z.B. durch Antwortverweigerung oder falsche Antworten. Das versucht man in den Instituten zu korrigieren, jedoch nicht transparent. An einer Wahlbörse ist eine Verzerrung durch unausgewogene Parteilichkeiten der Teilnehmer möglich. Meistens regelt das der Markt allein.

Hinsichtlich der Aktualität ist die Wahlbörse mehrere Tage voraus, weil entscheidende Ereignisse innerhalb kurzer Zeit in die Kurse eingehen. Bei traditionellen Telefonumfragen benötigt die Durchführung und Auswertung etwa drei Tage. Daher sind sie nicht topaktuell. Es gibt jedoch Institute, die mit reinen Internetanwendungen arbeiten.

Hier geht es schneller. Aber die Ergebnisse in den Ranglisten zur Prognosegenauigkeit sind noch nicht überzeugend. Hinsichtlich der Häufigkeit von Umfragen ist die Situation sehr unterschiedlich. Wie man gerade bei den gleichzeitig stattfindenden beiden Landtagswahlen und der Bundestagswahl feststellt, gibt es dort ein Verhältnis von etwa eins zu zehn. Bei Landtagswahlen sind daher auch die Abstände zwischen den Umfragen relativ groß. Wahlbörsen hingegen messen die politische Stimmung kontinuierlich. In unserer Wahlbörse werden alle fünf Minuten neue Kurse (Einschätzungen) berechnet.

Der heikelste Punkt ist die Medienverbreitung und vor allem die Medienakzeptanz. Diese ist bei den Umfragen außerordentlich hoch. Bei der aktuellen Bundestagswahl sind allein zwölf Institute aktiv. Dazu gibt es langjährige Kooperationen, z.B. INSA mit Bild oder Forschungsgruppe Wahlen mit ZDF. Bei jeder Bundestagswahl gibt es zudem kleinere oder größere Zeitungsgruppen, die mit Umfrageinstituten kooperieren. Auch Parteien geben Aufträge.

Wahlbörsen können das ebenfalls leisten, aber sie werden trotz großer Bemühungen von unserer Seite kaum nachgefragt. Häufig wissen die Entscheider wenig bis nichts über Wahlbörsen. Dafür werden Vorurteile gepflegt, dass nämlich Umfragen seriös seien, weil sie repräsentativ sind. So etwas gibt es in der Wahlbörse nicht. Dort wird nur gezockt. Bei diesen Vorstellungen kann man schwerlich zu einem Geschäftsabschluss kommen. Die meisten Entscheider sind auch nicht bereit, sich die Ranglisten zur Prognosequalität anzuschauen.

Wie wir ausführlich in unserem Buch dokumentiert haben (Mohr, Püschel: Wahlprognosen) liegen in der Gesamtrangliste für die letzten fünf Bundestagswahlen die Forschungsgruppe Wahlen und unsere PESM-Wahlbörse an der Spitze. Knapp dahinter folgt die österreichische Wahlbörse Wahlfieber. Mit deutlichem Abstand sind in dieser Reihenfolge Emnid (Kantar), Allensbach, Forsa, infratest und GMS zu finden. Entsprechend sieht die Gesamttabelle für die Landtagswahlen in den 16 Bundesländern aus.

Durch die bestehenden engen Netzwerke zwischen Medien, Politik und Umfrageinstituten haben wir trotz der dargestellten Stärken unserer Methode seit langer Zeit enorme Schwierigkeiten, in den politischen Meinungsmarkt zu kommen. Mein mutiger, älterer Kollege Ulmer, der häufig die Umfrageinstitute massiv angegriffen hat, hat es schärfer formuliert: "Es besteht ein Kartell aus Meinungsforschungsinstituten, Medien und Politik."

Walter Mohr, Jahrgang 1945, verheiratet, vier Kinder, wohnhaft hoch im Norden mit Blick auf Dänemark (bei Flensburg ), beschäftigt sich seit 50 Jahren mit Prognosen, 25 Jahre Forschungsfirma bis 2018.

Der Artikel ist zuerst bei Krass & Konkret erschienen.