Warum akzeptiert Netanjahu einen Geisel-Deal, den er wochenlang ablehnte?
![](https://heise.cloudimg.io/width/700/q75.png-lossy-75.webp-lossy-75.foil1/_www-heise-de_/imgs/18/4/5/0/2/9/9/9/2023-1120_VON_Hostages-family-March-to-Jerusalem-4002608e0ed5b37f.jpeg)
Angehörige und Freunde von Hamas-Entführten verlangen von der israelischen Regierung, die Geiseln mit einem Deal zu retten. Bild: Screenshot Democracy Now
50 Geiseln sollen nach Israel zurückkehren, vier Tage Waffenruhe. Ein richtiger Schritt, aber warum erst jetzt, und was kommt danach? Eine Einordnung.
Gestern stimmte das Kriegskabinett in Israel für das Hamas-Angebot, rund 50 israelische Geiseln freizulassen, die beim Überfall am 7. Oktober in den Gazastreifen entführt wurden. Im Gegenzug verspricht die israelische Regierung eine Waffenpause während der schrittweisen Übergabe.
Die Pause sollte eigentlich laut Hamas heute um zehn Uhr beginnen, während sich beide Seiten auf die Freilassung der Geiseln vorbereiten. Doch nun teilt Israel mit, dass man mit der Freilassung nicht vor Freitag beginnen werde.
Die Einigung wurde international mit Erleichterung aufgenommen. Viele Angehörige warten nun gespannt und ängstlich, ihre entführten Familienmitglieder – es sind Kinder, Mütter und Frauen – in Empfang zu nehmen.
Die Übergabe soll phasenweise und in Gruppen à zwölf bis 13 Personen über vier Tage geschehen. Im Gegenzug erklärt sich die israelische Regierung bereit, 150 minderjährige und weibliche palästinensische Gefangene freizulassen. (Man geht von rund 8.000 Palästinensern in israelischen Gefängnissen aus. Davon werden mindestens 1.000 ohne Anklage oder Prozess, oft schon seit Jahren, festgehalten. Palästinenser unterstehen im besetzten Westjordanland dem israelischen Kriegsrecht.)
Die Frage ist, warum die Netanjahu-Regierung dem Geisel-Deal nun zustimmte, den sie über Wochen zurückwies bzw. nicht ernsthaft verhandelte. Denn ein solches Angebot der Hamas wurde Israel bereits unmittelbar nach der Entführung und dann immer wieder gemacht.
So berichtete der britische Guardian, dass Personen, die mit den Verhandlungen um eine Geiselfreilassung vertraut sind, bestätigten, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu ein derartiges Abkommen im Zuge von Verhandlungen "vollständig ablehnte, kurz nachdem militante Hamas-Kämpfer am 7. Oktober einen historischen Überfall auf israelisches Gebiet verübt hatten."
Indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas wurden schließlich von Katar vermittelt. Vier entführte Frauen wurden dabei von der Hamas am 20. und 24. Oktober freigelassen. Aber auch diese "Testballons", mit der die Hamas unilateral demonstrieren wollte, dass man bereit ist für einen größeren Deal, reichten nicht, um Netanjahu umzustimmen.
Am 24. Oktober, als Israel kurz davor stand, die Bodenoffensive im Gazastreifen zu starten, erhielt die US-Seite die Nachricht, so Reuters, dass die Hamas den Parametern eines Abkommens zur Freilassung von Frauen und Kindern zugestimmt habe, was eine Pause und einen Aufschub der Bodeninvasion bedeuten würde.
US-Beamte diskutierten mit den Israelis darüber, ob die Bodenoffensive verschoben werden sollte oder nicht. Die Israelis argumentierten, dass die Bedingungen für einen Aufschub nicht ausreichend seien, da es keinen Beweis für das Leben der Geiseln gebe.
Netanjahu verlangte von der Hamas eine vollständige Liste mit den Namen und Angaben zu jeder in Gaza festgehaltenen Person. Ohne diese Liste in den Händen, sei er nicht bereit, die Bombardierungen einzustellen und eine Invasion auszusetzen.
Die Hamas antwortete, sie könne die Liste ohne eine Kampfpause nicht vorlegen, da die geschätzten 240 Geiseln von unterschiedlichen Gruppen an verschiedenen Orten im Gazastreifen festgehalten würden. Der Guardian hält das für glaubwürdig. Es sei ein Hinweis darauf, "dass selbst die Hamas-Führung nicht mit Sicherheit weiß, wie viele Menschen gefangen gehalten werden, wo sie sich befinden oder wie viele die Bombardierungen überlebt haben."
Israel mit Unterstützung der US-Regierung ging darauf nicht ein. Man unterließ es, einen Weg zu finden, einen Deal zu vereinbaren. Das israelische Militär intensivierte vielmehr die Kämpfe mit Bodentruppen, die in den Norden einmarschierten.
Nach dem Beginn der israelischen Bodenoffensive am 27. Oktober seien die Verhandlungen dann langsam wieder aufgenommen worden. Aber Netanjahu habe weiterhin eine harte Linie bei Vorschlägen verfolgt, die Waffenstillstände von unterschiedlicher Dauer im Austausch für eine unterschiedliche Anzahl von Geiseln vorsahen, so berichten Quellen aus dem Umfeld der Verhandlungen.
Zugleich habe die Hamas ihre ursprünglichen Forderungen immer weiter zurückgeschraubt. Mitglieder der Organisation hatten zu Beginn noch erklärt, man wolle mit den Geiseln Tausende palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen befreien. Doch "jedes Mal wurde die israelische Gegenforderung härter", sagte eine mit den Verhandlungen vertraute Person dem Guardian.
Auch innerhalb des israelischen Establishments soll Netanjahu einen Hardliner-Kurs gefahren haben. Der Geheimdienst Mossad, der hauptverantwortlich ist bei Geisel-Verhandlungen, drängte auf eine Lösung für die Entführten. Doch der israelische Premierminister soll das immer wieder abgeblockt und dann noch schärfere Bedingungen gefordert haben.
Der Druck in Israel und den USA ist stetig gewachsen
Das Geisel-Abkommen, dem jetzt das israelische Kabinett zugestimmt hat, lag nach Angaben von Haaretz auch schon vor einer Woche auf dem Tisch, aber Netanjahu habe es zurückgewiesen, wie alle Angebote vorher.
Warum also kommt jetzt plötzlich doch die Einigung bei einem Deal, der schon sehr viel früher hätte beschlossen werden können? Bessere Bedingungen für Israel können nicht der Grund dafür gewesen sein. So heißt es im Guardian:
Drei mit den Gesprächen vertrauten Quellen zufolge sah der ursprüngliche Deal die Freilassung von Kindern, Frauen, älteren und kranken Menschen im Gegenzug für eine fünftägige Waffenruhe vor. Die israelische Regierung lehnte das jedoch ab und demonstrierte ihre Ablehnung mit der Einleitung der Bodenoffensive.
Im jetzt vom israelischen Kabinett beschlossenen Abkommen erhält die Hamas zudem die Zusicherung, dass im Gegenzug 150 gefangene Palästinenser aus israelischen Gefängnissen freigelassen werden. Israel hat also keineswegs mehr Zugeständnisse erhalten, eher umgekehrt.
Der Meinungsumschwung ist wohl am Ende von außen gekommen, und hat vor allem mit dem gewachsenen Druck zu tun, sowohl innerhalb der israelischen Gesellschaft, also auch in den USA.
Denn schon früh verlangten Angehörige von Hamas-Entführten in Israel, dass Netanjahu die Geiselbefreiung ganz oben auf die Tagesordnung setzen müsse. Sie forderten einen Deal mit der Hamas, der einen Gefangenenaustausch und eine Feuerpause enthalten würde.
Am 18. November gingen schließlich Tausende in Jerusalem auf die Straße, um die israelische Regierung aufzufordern, mehr für die Freilassung von Geiseln im Gazastreifen zu tun. Vor allem Netanjahu, der schon wegen der Justizreform massiv im Land unter Druck steht, geriet immer mehr in die Kritik. In der Tageszeitung Haaretz, der "New York Times von Israel", wurde in Kommentaren bereits sein Rücktritt gefordert.
Gestern schrieb schließlich Yossi Verter auf Haaretz in einer Analyse mit dem Titel "Netanjahu beugt sich dem öffentlichen Druck und akzeptiert denselben Deal, den er bereits abgelehnt hat":
Der öffentliche Druck, sein Treffen mit den Geiselfamilien und die Stellungnahmen der israelischen Armee (IDF), des [Inlandsgeheimdienstes] Schin Bet und des Mossad haben ihn offenbar umgestimmt. Die Verantwortung liegt letztlich bei ihm. Es ist jedoch immer einfacher, sie mit dem Sicherheitsapparat zu begründen. Es ist nicht das erste Mal, dass Netanjahu während dieses Krieges seine öffentliche Haltung geändert hat. Zu Beginn des Krieges hatte er die Befreiung der Geiseln nicht als prioritäres Kriegsziel angesehen. Als der Druck zunahm, ging er mehr und mehr zu einer humanitären Haltung über, bis er in seinen öffentlichen Äußerungen der Freilassung der Entführten und der Beseitigung der Hamas gleiche Priorität einräumte.
Und auch auf den US-Präsidenten Joe Biden ist der Druck in den Wochen von Israels Gaza-Krieg mehr und mehr gewachsen, bei dem bisher über 11.000 Menschen, Zweidrittel davon Kinder und Frauen, getötet wurden, während die humanitäre Lage zunehmend erodiert.
Letzte Woche wurde ein offener Brief an Biden in der New York Times veröffentlicht, in dem mehr als 500 US-Beamte von rund 40 Regierungsbehörden gegen seine Israel-Politik protestieren. Es zeige die derzeitige Uneinigkeit in der US-Regierung gegenüber dem israelischen Kurs, so die NYT.
Biden wird im Brief aufgefordert, für einen Waffenstillstand (66 Prozent der US-Amerikaner wollen das), die Freilassung der Geiseln und der willkürlich inhaftierten palästinensischen Gefangenen sowie die Wiederherstellung der vollen Versorgung des Gazastreifens einzutreten.
In den letzten Wochen hat es auch große Demonstrationen der Friedensbewegung und Protestaktionen von jüdischen Organisationen in den USA (wie auch in Großbritannien) gegeben, die von der Biden-Regierung verlangen, ihren Einfluss auf Israel zu nutzen, um einen Waffenstillstand zu erwirken und die Lage insgesamt zu deeskalieren.
Dazu kommen zahlreiche Aufrufe von Prominenten und Menschenrechtsgruppen sowie Initiativen und Resolutionen der internationalen Staatengemeinschaft. Mit jedem Tag mehr an Katastrophenmeldungen aus Gaza und einer sich rapide verschlechternden humanitären Lage wurde es für die Biden-Administration schwerer, tatenlos an der Seitenlinie zu verharren und Israel einen Blankoscheck auszustellen.
Dass es den Geisel-Deal jetzt gibt, ist gut und richtig. Damit wird ein erster Schritt getan. Es wäre besser gewesen, er wäre früher gekommen. Der Deal ist das Verdienst von jenen, die von verschiedenen Seiten Druck ausgeübt und bei Gesprächen mit der Hamas vermittelt haben.
Das Abkommen sieht auch vor, dass noch mehr Geiseln jenseits der jetzt 50 in den weiteren Tagen freigelassen werden könnten, wenn die Umstände stimmen. Die Waffenruhe würde pro zehn freigelassene israelische Geiseln um einen Tag von Israel verlängert werden müssen, maximal auf bis zu zehn Tage, wie das Kabinett beschloss. Ob im Gegenzug dafür weitere palästinensische Gefangene freigelassen werden müssten, ist unklar.
Danach, das hat Israel bereits angekündigt, soll der Krieg in Gaza jedoch weitergehen. Denn auch das ist wahr: Eine Feuerpause macht noch keinen Waffenstillstand. Und ein Waffenstillstand macht noch kein Ende des Konflikts.