Warum der Ukraine-Krieg in absehbarer Zeit nicht enden wird

Seite 3: Niederlage des Westens

Die Niederlage des Westens hätte Auswirkungen auf das Image der USA als Supermacht, der Nato als größte und mächtigste Militärallianz der Menschheitsgeschichte, der EU als europäisches Integrationsprojekt einschließlich der Ambition, unter US-Führung ein "Global Player Jr." zu werden.

USA

Der relative Machtverlust der USA im globalen System würde beschleunigt. Der Einfluss der USA auf historische Verbündete wie Saudi-Arabien nimmt bereits ab. Saudi-Arabien scheint sich auf eine Verhandlungsinitiative Chinas hin mit dem Iran auszusöhnen. Syrien und das Nato-Mitglied Türkei nähern sich unter russischer Vermittlung wieder an.

In beiden Fällen spielen die USA nicht nur keine Rolle, sondern die Vermittlungen widerstreben sogar den geopolitischen Interessen Washingtons. Die De-Dollarisierung, also die verminderte Nutzung des US-Dollars für den internationalen Handel, nimmt an Fahrt auf.

Das Zahlungssystem Swift erhält perspektivisch Konkurrenz, so dass die nichtwestliche Welt künftig sich dem Sanktionsdruck der USA auch in diesem Bereich immer zu entziehen vermögen wird.

Mit diesen Maßnahmen schwinden die Einflussmöglichkeiten und gleichsam die Einnahmen der USA, womit sich die Frage stellen wird, ob die USA ihre bisherigen Militärausgaben (858 Milliarden US-Dollar im laufenden Haushaltsjahr 2023) weiterhin stemmen werden können. Das muss Washington aber, weil maßgeblich dadurch seine militärische Macht bestätigt wird.

Nato

Der US-amerikanische Machtverlust wirkte sich unmittelbar auf die Kohärenz der Nato aus. Es setzten sich zentrifugale Kräfte frei, da die Niederlage trotz aller Waffenlieferungen und verdeckter operativer Unterstützung eine nie dagewesene Legitimationskrise erzeugte:

Wenn 31 Mitgliedsstaaten mit einem Militärbudget von über 1,175 Billionen US-Dollar (Stand 2021), davon alleine die USA 801 Milliarden US-Dollar (Stand 2021), und einem Gesamt BIP von nahezu 40 Billionen US-Dollar (Stand 2021) im Vergleich zu Russland mit einem Militärbudget von 66 Milliarden US-Dollar (Stand 2021) und einem BIP mit vergleichbaren mageren 1,8 Billionen US-Dollar (Stand 2021) eine Niederlage einfahren würden, könne man schwerlich zur Tagesordnung übergehen.

Europa

Die Europäische Union, die sich zunehmend an den USA ausrichtet und sich deren sicherheits- und energiepolitischen Vorgaben bereitwillig fügt, müsste sich angesichts einer westlichen Niederlage im Sinne des Aspekts einer echten europäischen Souveränität wohl neu erfinden, will es nicht in die absolute Bedeutungslosigkeit stürzen.

Denn Europa ist weder unter russischer noch unter US-amerikanischer "Führung" für uns Europäer wünschenswert – unsere Interessen sind bei seriöser Betrachtung weder mit der einen, noch mit der anderen Großmacht deckungsgleich.

Vielleicht würden im Falle einer Niederlage die Vorstellungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron von einem selbstständigeren Europa dann doch auch konstruktive Debatten in den europäischen Hauptstädten entfalten, statt sie durch gesinnungsethische Reflexe als quasi Hochverrat zu brandmarken.

Fazit

Die Zeitenwende von der uni- hin zu einer multipolaren Weltordnung wird durch eine kriegerische Unordnung begleitet. Der russische Einmarsch in die Ukraine und der damit einhergehende Stellvertreterkrieg sind zwar nicht zwangsläufig, jedoch erwartbare Symptome dieses Umbruchs. Zugleich manifestiert und beschleunigt der Krieg diesen Wandel.

Die Entschlossenheit beider Seiten glicht zwei aufeinander zurasenden Zügen, bei denen die Bremsen vorsätzlich demontiert worden sind, um der Gegenseite die eigene Entschlossenheit zu demonstrieren.

Und diese Entschlossenheit – unterstrichen durch die jeweiligen formulierten Schicksalsfragen seitens Russlands und des Globalen Westens – sind der Grund dafür, dass ein schnelles Ende des Krieges nicht zu erwarten ist.

Es sei denn, die USA zögen den machtpolitischen Showdown mit China zeitlich vor, was eine Konzentrationsverlagerung aller ihrer Potenziale in diesen Raum erforderlich machen würde, mithin die Schicksalsfrage über die künftige Weltordnung geografisch verlagert werden würde.

Dr. Alexander S. Neu, Jahrgang 1969, ist promovierter Politikwissenschaftler. Praktische politische Erfahrungen sammelte er als Mitarbeiter der OSZE im ehemaligen Jugoslawien. Von 2013 bis 2021 Mitglied der Bundestagsfraktion der Linken und deren Obmann im Verteidigungsausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Zuvor war er acht Jahre Referent für Sicherheitspolitik der Fraktion.

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