Warum die Atomkriegsgefahr im neuen Kalten Krieg weiter eskaliert
Wir befinden uns 90 Sekunden vor Mitternacht, so die Weltuntergangsuhr. Der Ukraine-Krieg ist der zentrale nukleare Hotspot. Und was ist mit dem Nahen Osten?
"Bedrohliche Entwicklungen steuern die Welt weiterhin auf eine globale Katastrophe zu", warnen die Wissenschaftler des Bulletin of the Atomic Scientists am Dienstag. Wie schon im letzten Jahr stellten sie daher die sogenannte Doomsday Clock, die Weltuntergangsuhr, auf 90 Sekunden vor Mitternacht.
Die Forscher erklärten, dass sie zutiefst besorgt seien über den sich verschlimmernden Zustand der Welt.
Doomsday Clock: 90 Sekunden bis zum Ende
Seit ihrer Einführung im Jahr 1947 zeigt diese Uhr an, wie nahe sich die Menschheit vor der Zerstörung der Welt befindet. Sie wird seitdem von einer Forschergemeinschaft, die von Albert Einstein und Wissenschaftlern der University of Chicago gegründet wurde und in dessen Vorstand heute zehn Nobelpreisträger sitzen, jedes Jahr neu gestellt.
Ursprünglich wurde sie als Reaktion auf die Gefahr von Atomwaffen geschaffen, doch im Jahr 2024 spielen auch der Klimanotstand, biologische Bedrohungen und bahnbrechende Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) eine Rolle, wie nah der Zeiger der Uhr vor Mitternacht steht. Gestern hieß es in einer Erklärung:
Letztes Jahr haben wir unsere verstärkte Besorgnis zum Ausdruck gebracht, indem wir die Uhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht gestellt haben – so nah wie nie zuvor an einer globalen Katastrophe –, und zwar zum großen Teil wegen der russischen Drohungen, im Krieg in der Ukraine, Atomwaffen einzusetzen.
Alarmierende Eskalation: Russlands Drohungen
Und diese Gefährdung sehen die Wissenschaftler weiter als gegeben an. Sie verweisen auf die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Februar 2023, den neuen Vertrag zur Reduzierung strategischer Waffen (New Start) "auszusetzen".
Zugleich sei angekündigt worden, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren. Im Juni habe Sergej Karaganow, ein Berater Putins, Moskau aufgefordert, begrenzte Atomschläge gegen Westeuropa in Betracht zu ziehen, um den Krieg in der Ukraine zu einem Ende zu bringen.
Ende Juli drohte der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew, derzeit stellvertretender Vorsitzender des nationalen Sicherheitsrates, mit einem Atomkrieg, falls die Gegenoffensive der Ukraine zur Abwehr russischer Invasoren und zur Rückgewinnung der von ihnen besetzten Gebiete erfolgreich sein sollte.
Nehmen wir einmal an, die von der Nato unterstützte Offensive wäre erfolgreich und sie würden einen Teil unseres Landes von uns abtrennen. Dann wären wir gezwungen, eine Atomwaffe gemäß der Verordnung des russischen Präsidenten einzusetzen.
Zunehmende Gefahr des nuklearen Weltenbrands
Weiter heißt es im Doomsday-Clock-Statement: "Im Oktober stimmte die russische Duma dafür, die Ratifizierung des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen durch Moskau zurückzuziehen, da sich der US-Senat weiterhin weigerte, die Ratifizierung auch nur zu erörtern."
Während in den 1990er-Jahren durch intensive multilaterale Gespräche 80 Prozent der strategischen Atomwaffen der Welt abgebaut wurden, droht nun wieder ein nukleares Wettrüsten. Der New-Start-Vertrag läuft 2026 aus, während bestehende Nuklearabkommen auf Eis gelegt oder ignoriert werden.
Auf die zunehmende Gefahr eines Atomkriegs verweisen auch Kritiker des US- und Nato-Kurses. Sie verlangen ein schnelles Ende des Krieges in Form von diplomatischen Anstrengungen und Verhandlungen. Dafür müsste der Westen unter Führung der Vereinigten Staaten jedoch Russland entgegenkommen in der Frage der Neutralität der Ukraine und einem Beitritt des Landes zum Nato-Militärbündnis eine Absage erteilen.
Kein Ende des Ukraine-Krieges in Sicht
Jedoch fast zwei Jahre nach der Invasion scheint "ein dauerhaftes Ende des russischen Krieges in der Ukraine in weiter Ferne, und der Einsatz von Atomwaffen durch Russland in diesem Konflikt bleibt eine ernsthafte Möglichkeit", heißt es in der Analyse der Bulletin-Forscher.
Russland ist jedoch nur eines der neun Länder der Welt, die über Atomwaffen verfügen.
Die Ausgabenprogramme der drei größten Atommächte – China, Russland und die Vereinigten Staaten – drohen ein dreifaches nukleares Wettrüsten auszulösen, wenn die weltweite Rüstungskontrollarchitektur zusammenbricht. … Und der Krieg im Gazastreifen zwischen Israel und der Hamas hat das Potenzial, zu einem umfassenderen Konflikt im Nahen Osten zu eskalieren, der unvorhersehbare regionale und globale Bedrohungen mit sich bringen könnte.
Israel und Iran im Fokus
So schlug der israelische Minister für das Kulturerbe, Amichai Eliyahu, in einem Interview im November letzten Jahres vor, dass der Abwurf einer "Atombombe" auf den Gazastreifen "eine Option" sei.
Bei einer Ausweitung des Krieges zu einem großen regionalen Krieg würde der Iran zudem noch stärker als bisher in die Konfrontation mit den USA hineingezogen. Das ist insofern besorgniserregend, da seit dem Austritt der Vereinigten Staaten aus dem Nuklear-Deal unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump – ein Abkommen, das mit dem Iran im Jahr 2015 geschlossen wurde – Teheran begonnen hat, Uran anzureichern, um es damit für den Bau von Atomwaffen nutzbar zu machen, während man bei zentralen Fragen der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mauere.
Auch die atomare Expansion Pakistans und Indiens sowie die Bestrebungen der Biden-Regierung in den USA, Saudi-Arabien bei seinen nuklearen Ambitionen gegen den Iran zu helfen, erhöhen die schwelenden Gefahren eines Atomkriegs.
"Doomsday Machine": Ellsbergs Warnungen
Der berühmte Whistleblower des Vietnamkriegs und Nuklearplaner, der im letzten Jahr verstorbene Daniel Ellsberg, wies in seinem 2017 erschienenen Werk "The Doomsday Machine" darauf hin, dass die Auslöschung durch einen Atomkrieg heute eine ebenso große und wahrscheinliche Bedrohung darstellt wie während des Kalten Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, als sich die Welt viel stärker auf diese Gefahr konzentrierte:
Keine Politik in der Geschichte der Menschheit hat es mehr verdient, als unmoralisch angesehen zu werden. Oder als wahnsinnig. Die Geschichte, wie es zu dieser verhängnisvollen Konstellation gekommen ist und wie und warum sie seit über einem halben Jahrhundert anhält, ist eine Chronik des menschlichen Irrsinns.
Der gefährlichste Moment der modernen Geschichte
Das Bulletin of the Atomic Scientists fordert die Regierungen und die Bürger weltweit auf, die Warnungen erst zu nehmen und wie in einem Notfall entschlossen zu handeln – so, also ob heute der "gefährlichste Moment der modernen Geschichte" sei. Denn das könnte der Fall sein.
Vor allem die drei globalen Großmächte USA, China und Russland müssten dringend in einen Dialog treten, um die Menschheitsbedrohung Atomkrieg, aber auch die Klimakrise, auf höchster Ebene zu bannen.
Sie haben die Fähigkeit, die Welt vom Rande der Katastrophe zurückzuholen. Sie sollten dies tun, mit Klarheit und Mut und ohne Aufschub. Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht.