Warum es gefährlich ist, ukrainische Kriegsopfer herunterzuspielen
Seite 2: Die verzerrte Berichterstattung unterminiert Diplomatie
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Die jüngsten Entwicklungen bei der ukrainischen Mobilisierung offenbaren ein ähnlich düsteres Bild. Seit Beginn des Krieges gab es Berichte über ukrainische Männer, die bei der Flucht aus dem Land ertappt wurden, um der Einberufung zu entgehen.
Währenddessen wächst der öffentliche Protest gegen die immer aggressiveren militärischen Rekrutierer. Mehr als 26.000 Ukrainer haben im vergangenen Jahr eine Petition unterzeichnet, in der ein Ende der Praxis gefordert wird, an Kontrollpunkten, Tankstellen und auf der Straße militärische Einberufungen durchzuführen.
Weitere 25.000 Menschen unterzeichneten eine Petition gegen ein im Januar verabschiedetes Gesetz, das die Strafen für Desertion und Ungehorsam verschärft – ein weiteres Zeichen für die Unzufriedenheit der Soldaten in den eigenen Reihen. In einem aufsehenerregenden Fall erhielt ein Mann, der ohne Hände geboren wurde, einen Einberufungsbescheid und erfuhr bei seiner Ankunft auf dem Meldeamt, dass er trotzdem diensttauglich sei.
Nichts von alledem deutet auf einen endlosen Nachschub an willigen Kämpfern hin, die die meisten Presseberichte der US-Öffentlichkeit zu suggerieren versuchen.
Das soll nicht heißen, dass die Lage auf der anderen Seite rosig ist. Berichten zufolge hat Russland bei seiner Kriegsführung mit den gleichen Problemen zu kämpfen – von massiven Verlusten auf dem Schlachtfeld und der Vermeidung von Einberufungen bis hin zum Mangel an Artillerie und Anzeichen von Verzweiflung bei der Anwerbung, sodass nun Gefängnisinsassen gnadenlos durch den Bachmut-Fleischwolf gedreht werden.
Aber mit einer Bevölkerung, die mehr als dreimal so groß ist wie die geschätzten 41 Millionen Einwohner der Vorkriegsukraine, kann Russland solche militärischen Verluste besser verkraften, auch wenn Milley sie zu Recht als "Katastrophe" bezeichnet. Hinzu kommt, dass die Ukraine seit der Invasion etwa ein Fünftel seiner Einwohner als Flüchtlinge an andere europäische Länder verloren hat.
Die demografische Realität ist wahrscheinlich noch düsterer, denn in dieser Vorkriegszahl sind die rund zwei Millionen Einwohner der illegal annektierten Krim und weitere Millionen im Donbass enthalten, während die Bevölkerung der Ukraine nach einigen Schätzungen seit der letzten Volkszählung im Jahr 2001 um 40 Prozent auf rund 30 Millionen oder weniger geschrumpft ist.
Mit anderen Worten: So katastrophal die Verluste für Russland sind, umso schlimmer sind sie für die Ukraine, deren Bevölkerung, die ohnehin schon kleiner ist als die Russlands, seit dem Krieg erheblich geschrumpft ist, und in hohem Maße weiter darauf angewiesen ist, einfache Bürger zum Kämpfen zu verpflichten – eine Tatsache, die die zunehmend aggressive Einberufungspraxis des Militärs erklären könnte.
Die mediale Berichterstattung stellt jedoch stets die russischen Verluste in den Vordergrund, während die vergleichbaren und wohl verheerenderen ukrainischen Verluste weitgehend heruntergespielt werden.
Eine Umfrage vom Oktober verweist auf die Implikationen einer derartigen Berichterstattung. Sie ergab, dass jene US-Amerikaner, die von einem Sieg der Ukraine überzeugt sind, eher die Fortsetzung der Militärhilfe und sogar die Entsendung von US-Truppen befürworteten – und umgekehrt.
Das fehlende öffentliche Bewusstsein für die ukrainischen Opferzahlen wirft eine Reihe von heiklen Fragen auf: Sind die häufigen Vorhersagen eines sicheren ukrainischen militärischen Sieges eher Phantasie als Realität? Wird die amerikanische Öffentlichkeit dazu verleitet, ein eskalierendes militärisches Engagement unter falschen Vorwänden zu unterstützen?
Hat sich die ukrainische Führung infolgedessen dazu verleiten lassen, unrealistische militärische Ziele zu setzen, die dazu beitragen, dass Tod und Zerstörung für die ukrainische Bevölkerung noch länger andauern? Und hat die Ausblendung ukrainischer Opfer dazu beigetragen, in den Vereinigten Staaten ein politisches Klima zu schaffen, das diplomatischen Lösungen entgegensteht?
Wir werden es vielleicht bald herausfinden. Nach Angaben der Washington Post zweifeln selbst ukrainische Offizielle inzwischen an der Fähigkeit ihrer Streitkräfte, nach den erlittenen Verlusten eine erfolgreiche Gegenoffensive zu starten, da viele der erfahrensten Kämpfer dauerhaft vom Schlachtfeld verschwunden sind.
In einem Krieg, in dem Informationen zu einer Waffe geworden sind, können solche Aussagen nicht einfach für bare Münze genommen werden. Aber es gibt viele Anzeichen dafür, dass sie nicht weit von der Realität entfernt sind.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.