Warum gibt es keinen Staat für die Palästinenser?

Seite 2: Zionismus = Kolonialismus?

Yoav Gelber macht aufmerksam auf das, was diejenigen ausblenden, die den Zionismus mit Kolonialismus gleichsetzen1:

Im Gegensatz zu den europäischen Zeitgenossen, die in Länder auswanderten, welche reich an natürlichen Ressourcen und arm an Arbeitskräften zu deren Ausbeutung waren, kamen die jüdischen Immigranten in ein Land, das nicht einmal seine eingeborene Bevölkerung ernähren konnte. Palästinenser wanderten gegen Ende des Osmanischen Reiches nach Amerika und Australien aus.

Die zionistische Ideologie und der Import von privatem und nationalem jüdischem Kapital glichen den Mangel an natürlichen Ressourcen aus und beschleunigten die Modernisierung. Ideologie und Kapitalimport sind zwei Faktoren, die anderen Kolonialbewegungen völlig fehlen.

Imperialistische Mächte beuteten ihre Kolonien in der Regel zum Vorteil des eigenen Vaterlandes aus und investierten nicht über das zur Ausbeutung notwendige hinaus. Im Gegensatz dazu floss aus Palästina keinerlei materieller Vorteil an das jüdische Volk oder Großbritannien.

Zu der Tatsache, dass die Zionisten bis 1948 Land in Palästina kauften und nicht eroberten, gibt es ebenfalls keine Parallele in kolonialen Bewegungen. Auf der Liste der Verkäufer steht jeder bekannte Clan der palästinensisch-arabischen Elite, die trotz ihrer radikal antijüdischen politischen Haltung der Versuchung steigender Grundstückspreise im Gefolge jüdischer Einwanderung nicht widerstehen konnte. Die Palästinenser machten für gewöhnlich ausländische Grundbesitzer für die Vertreibung der Pächter verantwortlich und verschleierten die Rolle der einheimischen Oberschicht bei den Grundstückstransaktionen mit den Zionisten.

Wenigstens insofern handelt es sich um einen Konflikt zwischen verschiedenen Klassen.

In Bezug auf die Gegenwart heißt es kritisch gegenüber dem Vorwurf, Israel sei ein Apartheitsstaat:

Das Hauptinteresse Israels ist Sicherheit, und für die politische Rechte zudem die territoriale Expansion in das Westjordanland. Die palästinensische Bevölkerung wird als Sicherheitsrisiko und Störfaktor für den jüdischen Charakter des Landes gesehen, nicht als Gegenstand von Ausbeutung auf Basis von "Rassentrennung".

Würdemann 2023)

Diese Kritik an der Vorstellung von Israel als Apartheitsstaat enthält zugleich eine brisante Mitteilung ("Störfaktor"). Sie ist keineswegs dazu geeignet, die Sympathie für die herrschende Politik in Israel zu erhöhen.

Die Diskriminierung der arabischen Israeli durch den israelischen Staat

Die Frage "Warum gibt es keinen eigenen Palästinenser-Staat?" ist alles andere als selbstverständlich. Nicht jedes Volk muss oder will einen eigenen Staat haben. Jüdische Menschen und Palästinenser könnten in einer Nation zusammenleben. Sonderlich wahrscheinlich ist das aber nicht. Das Verhältnis der israelischen Regierungen zu den palästinensischen Bürgern Israels zeigt:

Es gab nie eine Absicht zur Assimilation oder Integration für die Minorität der arabischen Bevölkerung in Israel. […]

Palästinenser und arabische Israelis werden strukturell durch eine schlechtere Teilhabe an wesentlichen Dienstleistungen (Soziale Dienste, Bildung, Infrastruktur) benachteiligt. Die Qualität der Schulen ist häufig niedriger. Die Indikatoren für Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, generelle Sterblichkeit, Diabetes, Übergewichtigkeit und weiterer Gesundheitsfaktoren sind schlechter als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Diskriminierung betrifft insbesondere die Beduinen in Israel. Deren Siedlungen mit rund 100.000 Bewohnern in der Negev-Region wurden bisher von den israelischen Behörden nicht als legal anerkannt und haben folglich unter anderem keinen Anschluss an die Strom- und Wasserversorgung erhalten. […]

2012 ermittelte die Menschenrechtsorganisation Adalah, dass 30 Gesetze in Israel direkt oder indirekt die Palästinenser benachteiligten.

Wikipedia

Der Artikel weist auf zahlreiche Belegtexte für diese Feststellungen hin.

Die israelische Verfassungsrechtlerin Suzie Navot schreibt2:

Israel ist zuerst ein jüdischer, dann ein demokratischer Staat. Und das ist die richtige Reihenfolge.

"Die politische Vorherrschaft des jüdischen Volkes ist fester Teil der israelischen Verfassungswirklichkeit", heißt es in der FAZ (Würdemann 2023).

Ultrarechte Minister in der israelischen Regierung radikalisieren diese Position. Der gegenwärtige Polizeiminister Ben-Gvir sagte: "Mein Recht, das Recht meiner Frau und meiner Kinder, sich in Judäa und Samaria zu bewegen, ist wichtiger als die Bewegungsfreiheit der Araber" (Die Zeit, 26.8. 2023).

Bezalel Smotrich, der gegenwärtige israelische Finanzminister, stellte 2017 einen "Unterwerfungsplan" vor, mit dem Ziel, "jegliche nationale Hoffnung der Palästinenser auszulöschen". Der Plan bietet den Palästinensern drei Wahlmöglichkeiten: das Land zu verlassen; mit dem Status von "Ausländern" in Israel zu leben; oder Widerstand zu leisten, "und dann wird die israelische Armee schon wissen, was zu tun ist".

Zu dem Status als "Ausländer" bemerkte Smotrich: "Nach dem jüdischen Gesetz muss immer eine gewisse Minderwertigkeit bestehen." Zu der Möglichkeit des Widerstandes und auf die Frage, "ob er beabsichtige, ganze Familien samt Frauen und Kindern auszurotten", sagte Smotrich: "Krieg ist Krieg." (zitiert nach dem Wikipedia-Artikel Bezalel Smotrich).

Die lange Geschichte der Unterdrückung und Demütigung von arabischen Bürgern in Israel und von Palästinensern im Westjordanland rechtfertigt nicht Terroraktionen gegen israelische Bürger, trägt aber dazu bei, dass israelfeindliche und judenfeindliche Ideologien entstehen.

Den Worten folgen Taten. Diese wiederum werden von Fanatikern auf der jüdischen Seite bereitwillig aufgenommen, um ihrerseits die Eskalation des Konflikts weiter zu verschärfen.

Die fixe Idee

Auch die Hamas reagiert keineswegs auf negative Erfahrungen mit ihrem Gegner oder verarbeitet sie spontan-kurzschlüssig.

Sowohl die Ultrarechten in der israelischen Regierung und die israelischen Siedler im Westjordanland als auch die Hamas verhalten sich instrumentell zu schlechten Erfahrungen, die sie mit der Gegenseite machen. Sie interpretieren entsprechende Zumutungen mit einer getrennt von diesen Erfahrungen existierenden, recht speziellen Sorte von Ideologie.

Das gesamte Selbst- und Weltbild kreist um eine überwertige oder fixe Idee. Ihr zufolge wäre alles gut, wenn es den Feind (ob nun der Staat Israel oder die Palästinenser) nicht mehr gebe.

Der Feind hat kein Existenzrecht

Wer so denkt, ordnet folgerichtig alle anderen Anliegen dem Zweck unter, dem Feind in Theorie und Praxis sein Existenzrecht zu bestreiten. Der Hamas ging es nicht um die Verbesserung der Lebensbedingungen im Gaza-Streifen, sondern darum, möglichst viel Raketen und Tunnel zu bauen.

"Müssen wir einen Preis zahlen? Ja, und wir sind bereit, es zu zahlen. Wir werden eine Nation von Märtyrern genannt, und wir sind stolz darauf, Märtyrer zu opfern" – so das Statement von Ghazi Hamad, einem Mitglied des Hamas-Politbüros in einem Interview mit dem libanesischen Sender LCBI am 24. 10. 2023.

Der israelische Minister für das Kulturerbe, Amichai Elijahu, bezeichnete den Einsatz einer Atombombe im Kampf gegen die Hamas in einem Radiointerview als "eine Option". Seine Empfehlung für die Bevölkerung in Gaza lautet:

"Sie können nach Irland oder in die Wüste gehen, die Monster aus Gaza sollen selbst eine Lösung finden" (Frankfurter Rundschau, 7. 11. 2023).

Das mit der Atombombe war selbst Netanjahu zu viel, der Rest nicht.