Warum wir ein Bündnis für eine terrestrische Zukunft brauchen

Über die Coronapandemie, unsere Freiheit und eine notwendige neue Politik der Nähe (Teil 1)

Auch wenn "Klimaschutz" mittlerweile zum (wohlfeilen) Kanon des politischen Diskurses gehört, flüchten sich Wähler und Gewählte bezüglich der fortschreitenden Zerstörung der Biosphäre weiterhin in Verdrängung und Illusionen. Darum ist es Zeit für eine neue politische Kraft, die den Mut aufbringt, eine der Wirklichkeit angemessene politische Programmatik in den breiten öffentlichen Diskurs zu tragen. Es ist Zeit für Wahrhaftigkeit und eine neue Politik der Nähe und planetarischen Vernunft.

Um dies auszuführen, werde ich zunächst eine Analyse der deutschen Corona-Politik vornehmen. Deutlich wurde hierbei, wie plötzlich, schnell und tiefgreifend gesellschaftlicher Wandel politisch durchgesetzt werden kann – da dieser im Glauben an das Gute, an Solidarität und den Schutz des Lebens von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen wurde. Doch dieser Glaube beruht tragischerweise auf irrigen Vorannahmen, Widersprüchen und einem ethischen Missverständnis.

Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ermöglicht eine Analyse der Widersprüche und doppelten Unverhältnismäßigkeit der Corona-Politik eine Offenlegung der tiefgründigeren Verstrickungen und Pathologien der fortgeschrittenen Moderne und bietet die Chance, zu einem Freiheitsverständnis zu gelangen, mit dem das Leben auf dem Planeten tatsächlich geachtet und geschützt wird.

Die breite Unterstützung der Corona-Politik innerhalb der Funktionseliten und die vorgebrachte ethische und rechtliche Legitimation der Grundrechtseinschränkungen basiert in erster Linie auf der Vorannahme, dass mit den Einschränkungen noch größere Einschränkungen und Schädigungen verhindert wurden.

Doch dabei handelt es sich eben um eine Vorannahme, die alles andere als eindeutig und unstrittig ist. Denn Vergleiche zwischen Ländern mit starken und weniger starken Einschränkungen lassen keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen sogenannten "nicht-pharmazeutischen Interventionen" und Infektionsgeschehen erkennen.1

Während die Evidenz für eine signifikante Verhinderung von Schädigungen durch die Maßnahmen also mindestens strittig ist, ist die Evidenz für bereits eingetretene und noch kommende Schädigungen als Folge der Maßnahmen erdrückend.

Denn wissenschaftlich unstrittig ist, dass Angst, Armut, Isolation, Unsicherheit und Stress das Risiko von Erkrankungen erhöhen und die Lebenserwartung reduzieren. So fand in Deutschland "Triage" etwa nicht hinsichtlich der Verfügbarkeit von Krankenhausbetten aufgrund von Covid-19, sondern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgrund der Politik der Regierung statt.

Anerkannt werden müsste deshalb, dass wir uns bezüglich Corona in einem ethischen Dilemma befanden und auch weiterhin befinden werden, falls Therapeutika keinen dauerhaften Schutz vor einer schweren Covid-19-Erkrankung bieten. Denn erstens kann in einer globalisierten Zivilisation ein sich offenbar derart effektiv über die Atemwege verbreitender Erreger nicht ausgerottet werden – und war "Zerocovid" von Beginn an eine Fiktion.

Zweitens bedeutet dies, dass jeder früher oder später mit dem Virus in Kontakt kommen wird und die Vermeidung von Ansteckung und möglicher Erkrankung – Therapeutika ausgeklammert –, nur zum Preis der Vermeidung von menschlichem Kontakt und totaler Überwachung, also nur zum Preis von Gesundheit, Freiheit und Menschsein zu haben ist.

Und drittens ist deshalb die Suggestion, es handle sich im Falle von Corona und zu treffenden Maßnahmen um eine Abwägung zwischen Gesundheit und Freiheit – namentlich Art.2 Abs.1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) und Art.2 Abs.1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) –, schlichtweg falsch.

Welche Folgen hatte die Lockdown-Politik?

Denn die Lockdown-Politik hat Angst, Armut, Stress, Hunger und Krankheit erzeugt und damit nicht nur in die freie Entfaltung der Persönlichkeit, sondern auch in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Würde des Menschen eingegriffen. Und somit führt die von Unterstützern der Grundrechtseinschränkungen hochgehaltene deontologische Ethik, derzufolge man keine Menschenleben miteinander verrechnen darf, ebenfalls in die Irre.

Denn indem aus der Lockdown-Politik resultierende, erst in fernerer Zukunft eintretende mögliche vorzeitige Tode niedriger gewichtet wurden als die Vermeidung von Infektionen von älteren Menschen und die damit möglicherweise erzielte Vermeidung in näherer Zukunft eintretender vorzeitiger Tode, wurden Menschenleben miteinander verrechnet. Und auch wenn wir dies in der Theorie des kantischen Ideals nicht dürfen, tun wir dies in der Praxis des Lebens ständig: Politik ist nichts anderes als die kontinuierliche Verrechnung von Lebenschancen.

So werden etwa in der Praxis der gegenwärtigen europäischen Wirtschafts-, Steuer- und Handelspolitik die Lebenschancen junger und künftiger Generationen vielfach niedriger gewichtet als die Lebenschancen heutiger und älterer Menschen.

Und damit näheren wir uns dem Kern des Arguments. Denn die Frage, die sich hier stellt und von einer kritischen Öffentlichkeit hätte gestellt werden müssen, lautet: Warum unternehmen wir bei durch Unterernährung, verunreinigtes Trinkwasser, Luftverschmutzung, Kriege oder die Folgen des Klimawandels erzeugten vorzeitigen Todesfällen nicht mindestens ebenso viel, um sie zu verhindern, obwohl genannte und sonstige Krankheits- und Todesursachen in der Summe weitaus mehr Leid, Kranke und Tote fordern – und ohne radikalen Wandel vor allem noch fordern werden – als Covid-19?

Würde diese Frage gestellt werden, würde die doppelte Unverhältnismäßigkeit der gegen Covid-19 getroffenen Maßnahmen noch frappierender zu Tage treten. Und diese wiegt umso schwerer, als dass es einen entscheidenden Unterschied gibt: Denn während akzeptiert werden müsste, dass es trotz aller moderner Weltaneignungs- und Kontrolltechniken nach wie vor Geschehnisse und Zusammenhänge gibt, über die wir nicht vollständig verfügen können und es schlicht Krankheiten gibt, die wir (zumindest noch) nicht vollständig beseitigen können, befinden wir uns bei genannten anderen Ursachen für Krankheit und Tod nicht in einem ethischen Dilemma, sondern wäre es möglich, die Kranken und Toten infolge von Unterernährung, verunreinigtem Trinkwasser, Luftverschmutzung, Kriegen oder den Folgen des Klimawandels zu verhindern, ohne Grundrechte auszusetzen und Menschen zu schädigen.

Im Gegenteil: Die Bekämpfung dieses Leids und Sterbens wäre erst eine Ermöglichung von Grundrechten, die wir mit unserem Handeln und Nichthandeln einschränken. Im Gegensatz zu Covid-19 – die Laborhypothese und die möglicherweise durch menschengemachte Zerstörung von Ökosystemen begünstigte Zoonose von Sars-CoV-2 ausgeklammert – sind diese Todesursachen keine Naturgewalt, sondern gründen auf menschengemachten Verhältnissen und sind deshalb veränderbar.

Von "Eigenverantwortung" und "Freiheit" in der Corona-Pandemie

Endgültig als Fiktion dekonstruiert werden müsste in diesem Zusammenhang der vulgäre Freiheitsbegriff der die letzten Jahrzehnte dominierenden ("neoliberalen") Ideologie. Das eigentlich Erstaunliche an der politischen Reaktion auf Corona war, dass die politisch-medialen Eliten die Fiktionalität dieses Freiheitsbegriffs indirekt eingestanden – diese Steilvorlage aber von der politischen Linken nicht genutzt wurde.

Denn eingestanden wurde im Falle von Corona, dass die Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen individuellen Handelns immer auch kollektive Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen haben und wir alle intersubjektiv in einem großen Netz des Lebens miteinander verbunden sind und voneinander abhängen. In vielen anderen Fällen wurden und werden Einschränkungen individueller Freiheit zum Schutz der Freiheit anderer jedoch massiv bekämpft, geleugnet und verhindert.

So war der Diskurs der letzten Jahrzehnte von Appellen nach "Eigenverantwortung" und der Negation sozialer Bedingungen und Folgen individuellen Handelns geprägt und wurde mittels dieses invertiert-pervertierten Freiheitsbegriffs die Illusion aufrechterhalten, es handle sich bei einem Flug nach Teneriffa, Kauf eines SUVs oder Verzehr eines Schnitzels um eine "freie" individuelle Entscheidung, die in keinerlei Bezug zu den Freiheitsmöglichkeiten und Rechten anderer Lebewesen stünde.

Da dies aber nicht der Fall ist, werden wir für die Realisierung und den Erhalt der Freiheitsmöglichkeiten aller jetzigen und künftigen Lebewesen auf dem Planeten nicht um Einschränkungen individueller Freiheiten in den Industriegesellschaften herumkommen. Darauf wird zurückzukommen sein. Doch zunächst lautet die Frage, warum im Falle von Corona diese doppelte Unverhältnismäßigkeit existiert, in den Leitmedien nicht thematisiert wurde und warum die getroffenen Entscheidungen zur (vermeintlichen) Eindämmung von Sars-CoV-2 trotz ihrer epistemischen und ethischen Uneindeutigkeit von einer jeglichen Widerspruch mit Furor bekämpfenden Mehrheit der Funktionseliten als scheinbar einzig moralisch richtige und rationale Antwort auf Corona unterstützt wurden.

Ich möchte hierfür fünf Gründe anführen, die miteinander zusammenhängen, die doppelte Unverhältnismäßigkeit der Corona-Politik erklären und den Blick für eine umfassendere Analyse der Pathologien der entwickelten Moderne weiten. In mehrerer Hinsicht haben diese mit Abstraktion und Entfremdung sowie mit Machtverhältnissen und Interessen zu tun.

Warum gab es kaum Debatten über Alternativen?

Erstens wurde und wird der politische und leitmediale Konsens in Bezug auf die scheinbare Alternativlosigkeit und moralische Richtigkeit der Corona-Politik von Funktionseliten getragen, die von den Schädigungen und Einschränkungen der Lockdowns deutlich weniger betroffen war als weite Teile der Bevölkerung. Ein von Geschäftsterminen, Ausstellungseröffnungen und Opernbesuchen bereinigter Terminkalender konnte zunächst gar nicht als Schädigung, sondern als Befreiung empfunden werden.

Für einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung hingegen gab es weder die Möglichkeit zum Homeoffice noch eine geräumige Altbauwohnung oder ein Haus auf dem Land, um sich "sozial zu distanzieren" und dennoch weiterzuarbeiten. Oder wie es der Autor und Kunstkritiker J.J. Charlesworth in einem Tweet auf den Punkt brachte:

There was never any lockdown. There was just middle-class people hiding while working-class people brought them things.

Zweitens bedeutete die Lockdown-Politik für die besonders Vermögenden nicht nur eine weniger gravierende Erfahrung von Einschränkungen, sondern ein historisch einmaliges Wachstum von Vermögen. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, hält fest, dass "2020 für die Hochvermögenden das finanziell erfolgreichste Jahr in der Menschheitsgeschichte" war: Milliardäre konnten ihre Vermögen während der Pandemie um fünf Billionen Dollar steigern, was einem Anstieg um rund 60 Prozent innerhalb eines Jahres auf 13 Billionen US-Dollar entspricht.2

In einer noch vor Corona verfassten Studie aus dem Januar 2020 kam Oxfam zu dem Ergebnis, dass die reichsten 2.153 Personen mehr Vermögen besitzen als 60 Prozent der Weltbevölkerung.3 Die politische Reaktion auf Corona hat diese horrende Macht- und Vermögensungleichheit noch mal massiv verschärft. Der beispiellose Anstieg der Vermögen der Superreichen erklärt sich vor allem mit den gigantischen Anleihekaufprogrammen der Zentralbanken.

Die amerikanische Notenbank kaufte zeitweise mehr als eine Million Dollar Staatsanleihen pro Sekunde,4 mittlerweile sind es weiterhin 120 Milliarden Dollar pro Monat für Staatsanleihen und hypothekengesicherte Wertpapiere. Das bis März 2022 laufende "Pandemic Emergency Purchase Program" (PEPP) der Europäischen Zentralbank beläuft sich insgesamt auf 1,850 Milliarden Euro.

Während von dieser unvorstellbaren Geldschwemme hauptsächlich Besitzer von Aktien und sonstigen Vermögenswerten, also Reiche und Superreiche profitierten und mit ihr die sich zuspitzenden Widersprüche des Kapitalismus und die Agonie des Finanzsystems noch einmal bemäntelt werden konnten,5 schätzt die Weltbank, dass 2020 durch die Pandemiepolitik weltweit 111 bis 149 Millionen Menschen in absolute Armut gefallen sind.6 Und in einem Bericht vom November 2020 bezifferte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen die Zahl der Menschen, die akut zu verhungern drohen, auf rund 272 Millionen Menschen, was einen Anstieg von 121 Millionen infolge der Pandemiemaßnahmen bedeutet.7 Allein dies würde genügen, um die Verhältnismäßigkeit der Lockdown-Politik massiv in Frage zu stellen.