Warum wir unsere Alliierten ausspionieren
James Woolsey, ehemaliger CIA-Direktor, sagt in Reaktion auf Duncan Campbells Bericht den "kontinentaleuropäischen Freunden" noch einmal, was Sache ist und warum die US-Geheimdienste geradezu einen moralischen Auftrag haben
Erst kürzlich hatte James Woolsey ausländischen Journalisten im Foreign Press Center erklärt, warum der CIA auch Unternehmen ausspioniert, aber keine Industriespionage in dem Sinn betreibt, dass die Informationen an US-amerikanische Konkurrenten zur Erlangung eines Wettbewerbsvorteils weiter gegeben werden. Ansonsten fand er die Aufregung der Europäer über Echelon weitaus übertrieben, zumal es keine wirklichen Belege für den Vorwurf der Industriespionage in dem Bericht "Interception Capabilities 2000" vorgelegt worden seien.
In einer Anhörung zum Thema "Die europäische Union und der Datenschutz" Ende Februar vor dem Europäischen Parlament hatte Duncan Campbell seinen Bericht vorgestellt (Die Echelon-Debatte geht jetzt erst richtig los). Die französische Regierung hat als Konsequenz eine Kommission zur Überprüfung der Vorwürfe eingesetzt, und die Grünen im Europaparlament forderten darauf hin die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, um den Behauptungen, die USA würden mit dem Echelon-System Industriespionage zugunsten amerikanischer Unternehmen betreiben, nachzugehen. Angeblich haben die Grünen bereits die Zustimmung von 130 Abgeordneten erreicht. Für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses ist allerdings die Zustimmung von 160 der insgesamt 626 Abgeordneten notwendig.
"Echelon, ein völlig unkontrolliertes und illegales Lauschsystem, das von den USA, Großbritannien und einigen anderen Staaten betrieben wird, stellt eine deutliche Gefahr für die Bürgerrechte und die EU-Wirtschaft dar", sagte Paul Lannoye von der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament in einer Presseerklärung. "Es ist schockierend, dass die USA und ihre Verbündeten nach dem Kalten Krieg ihre Hightech-Lauschsysteme gegen die Mitgliedsstaaten der EU gerichtet haben."
Aufgrund einer Anfrage der Grünen muss sich am 30. März der EU-Kommissar im Europäischen Parlament dazu äußern, warum die Existenz von Echelon offiziell noch immer abgestritten wird: "Entweder ist der Kommissar nicht ausreichend informiert, weil die Existenz von Echelon bereits nachgewiesen wurde, oder er betreibt ein Verdunkelungsspiel", sagte Lannoye. Heidi Hautala von den Grünen warf vor allem Großbritannien vor, an Echelon beteiligt zu sein: "Großbritannien muss sich entscheiden, zu welcher Wertegemeinschaft es gehören will. Zu derjenigen, die eine unkontrollierten Abhörung der Kommunikation ihrer Bürger zulässt, oder zu derjenigen, die auf der Achtung der grundlegenden Datenschutzrechte basiert."
Am 16 März hatten 393 Abgeordnete bei 38 Gegenstimmen und 76 Enthaltungen eine Entschließung gebilligt, die eine kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik der EU fordert und den Europäischen Rat aufruft, dafür eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Auch ein Zusatz wurde angenommen, der betont, dass "das Recht auf Privatsphäre mit großer Sorgfalt angesichts des illegalen Einsatzes neuer Technologien geschützt werden muss, wie dies durch Berichte über den Echelon-Fall anschaulich wird."
Der Ex-CIA-Direktor James Woolsey ist im Rahmen einer Pressekonferenz bereits am 7. März den Vorwürfen der Europäer entgegentreten. Die amerikanischen Geheimdienste würden zwar auch Unternehmen belauschen, aber lediglich aus dem Grund, um gegen die in Europa herrschendende Kultur der Bestechung vorzugehen. Die durch Abhören gewonnenen Informationen - Woolsey vermied es, direkt auf Echelon Bezug zu nehmen -, würden aber nicht amerikanischen Unternehmen zugespielt werden, um diesen Vorteile gegenüber europäischen Konkurrenten zu verschaffen. Das wäre auch schon deswegen sinnlos, so Woolsey, weil die Amerikaner technisch sowieso überlegen seien, so dass sie kaum von Europa profitieren könnten. Damit suchte er plausibel zu machen, warum keine Wirtschaftsspionage von amerikanischen Geheimdiensten betrieben werde.
Offenbar fanden seine Ausführungen Gefallen, denn jetzt durfte er sie noch einmal in Form eines Artikels am 17. März für das Wall Street Journal ausbreiten, um zu erklären, was der Grund für die ganze Aufgeregtheit sei: "Ja, meine kontinentaleuropäischen Freunde, wir haben euch ausspioniert. Und es stimmt, dass wir Computer benutzen, um die Daten nach Schlüsselbegriffen zu durchsuchen." Aber man frage in Europa nicht nach den Gründen, denn der Vorwurf einer Wirtschaftsspionage sei absurd: "Stellt euch auf den Boden der Tatsachen. Sicher ist die europäische Technologie in wenigen Gebieten der amerikanischen überlegen, aber, um dies so nett wie möglich zu sagen, die Zahl dieser Gebiete ist sehr, sehr, sehr klein. Die meiste europäische Technologie lohnt den Aufwand gar nicht, sie zu stehlen."
Also, noch einmal, die Amerikaner spionieren europäische Unternehmen aus, weil sie zur Bestechung greifen, und das natürlich aus gutem Grund: "Die Produkte eurer Unternehmen sind gegenüber denen der amerikanischen Konkurrenten meist teurer, technisch nicht so fortgeschritten oder beides zusammen." Manche Regierungen arbeiten deswegen auch mit den Unternehmen zusammen, indem sie Bestechungsgelder von der Steuer absetzen lassen. Die Amerikaner würden sich aber mit den Informationen zur Bestechung lediglich an die Regierungen der betreffenden Länder wenden, nicht aber den amerikanischen Unternehmen Informationen geben, die sie ja, siehe oben, gar nicht notwendig haben. Neben der Bestechung seien die Lauschaktivitäten ansonsten auf den Export von Rüstungsgütern oder anderen "dual-use"-Techniken wie Supercomputern oder Chemikalien beschränkt, die etwa zur Herstellung von Massenvernichtungsmitteln eingesetzt werden können. Überprüft würde auch, inwieweit Sanktionen etwa gegenüber dem Irak oder Serbien eingehalten werden.
Die amerikanischen Geheimdienste sind, wie Woolsey sie darstellt, eigentlich von einem moralischen Auftrag der Weltverbesserung angetrieben, der ihre Aktivitäten auch rechtfertigt. Die Praxis der Bestechung ist gewissermaßen nur die oberste Spitze eines an sich verderbten Systems, das notwendigerweise auf solche Maßnahmen zurückgreifen muss. Irgendwie scheint sich jetzt der Kalte Krieg auf die neuen Gegensätze zwischen dem wirtschaftsdirigistischen Europa und den wirtschaftsliberalistischen Vereinigten Staaten verlagert zu haben, zumindest aber haben die USA auch in Sachen Ökonomie einen Sendungsauftrag.
"Warum bestecht ihr? Nicht, weil eure Unternehmen immanent korrupter sind, und auch nicht, weil ihr immanent weniger für die Technologie begabt seid. Der Grund ist, dass eure ökonomische Leitfigur noch immer Jean Baptiste Colbert ist, während dies bei uns Adam Smith ist. Trotz einiger kürzlich erfolgter Reformen beherrschen eure Regierungen noch weitgehend die Wirtschaft, weswegen ihr viel größere Schwierigkeiten als wir habt, innovativ zu sein, die Mobilität der Arbeit zu fördern, die Kosten zu reduzieren, Kapital für die sich schnell bewegenden jungen Unternehmen und schnell sich an veränderte ökonomische Bedingungen anzupassen." Anstatt weniger "dirigisme" auszuüben - man sieht, Woolsey hat es vor allem nicht mit den Franzosen -, greift man zum Ausgleich eben zur Bestechung.
Den Angehörigen der französischen Echelon-Kommission rät er ironisch zu einer Reise nach Washington. Man könnte für sie zwei Seminare veranstalten. Das eine, um zu zeigen, wie effektiv die Amerikaner gegen Bestechung vorgehen, und das andere, das den verbohrten Franzosen zeigen soll, warum Smith einfach besser als Colbert ist. Dann könne man ja auch über Wirtschaftsspionage sprechen: "und unsere Besucher könnten erklären, wenn sie dabei nicht rot im Gesicht werden, dass sie keine Wirtschaftsspionage betreiben."
Viele Freunde wird sich Woolsey mit seinen Ausführungen, die nicht nur als überheblich verstanden werden können, sondern auch als Ausdruck der Führungsrolle, die den USA wirtschaftlich, ökonomisch, technisch und politisch zusteht, wohl nicht machen. Freilich, mit den Attacken gegen die "kontinentaleuropäischen Freunde" nimmt er die Briten aus der Schusslinie, was möglicherweise den Dialog innerhalb der EU auch nicht verbessern wird, da dadurch eher Vermutungen über die Verwickeltheit Großbritanniens in die Lauschaktivitäten verstärkt werden.
Wahrscheinlich werden die meisten Europäer es aber auch nicht gerne hören, dass sie einfach alles so machen müssen, wie die Amerikaner es ihnen vormachen: "Werdet realistisch, Europäer. Hört auf, uns zu beschuldigen, und reformiert eure eigene statische Wirtschaftspolitik. Dann können eure Unternehmen effizienter und innovativer werden, und dann müssen sie nicht mehr auf Bestechung im Wettbewerb zurückgreifen. Und dann ist es auch nicht mehr nötig, euch auszuspionieren."