Was Hänschen lernt

Wie wird man Patriot? (Teil 5 und Schluss)

Der fünfte und letzte Teil fragt sich, wie Heranwachsende zu Patrioten werden

Wenn Heranwachsende patriotische Aussagen und Einstellungen sukzessive übernehmen, dann folgen sie der Form nach den Vorgaben, für die Erwachsene in Familie, Bildungseinrichtungen und Öffentlichkeit zuständig sind. Der Nationalismus wird ihnen auch informell vorgelebt. Man kann das "Sozialisation" nennen, sollte aber den Denkfehler vermeiden, der oft mit dem Begriff verbunden ist. Dass neue Generationen etwas von den älteren übernehmen, ist noch keine Erklärung, wie es die Redeweise von der "erzieherischen Prägung" oder der "gesellschaftlichen Determiniertheit" der Jugend durch die Erwachsenenwelt zu sein meint.

Der Nachwuchs will es bekanntlich oft anders und besser machen als die Eltern, Jugendbewegungen zeigen solche Brüche deutlich an, manche kehren der bürgerlichen Welt dauerhaft den Rücken - und wenn bei den meisten am Ende doch der "Ernst des Lebens" obsiegt, dann deshalb, weil sich die Heranwachsenden die gleichen Urteile einleuchten lassen, die bei den Vorgängern den Patriotismus so fest verankert haben.

Die erziehungswissenschaftlichen Betrachtungen zum Patriotismus, wie sie im dritten Teil Thema waren, setzen die nationalistische Anpassung an Ökonomie und Herrschaft entweder, wie Brezinka, schlicht als gegeben, funktional und notwendig voraus oder beschreiben, wie Piaget, dieselbe als menschlichen Naturprozess. Dabei haben sie den stummen und auch den vernehmbaren Zwang der Verhältnisse auf ihrer Seite, der dafür sorgt, dass "der junge Mensch einsieht, dass die eigentliche Funktion seiner Überlegung nicht darin besteht zu widersprechen"1 (Piaget). Das Phänomen, von dem die Volksweisheit sagt, der jugendliche Idealismus müsse sich "die Hörner abstoßen", macht solche apologetischen Aussagen plausibel. Sie bleiben aber falsche, ideologische Rechtfertigungen der Wirklichkeit, was an der Genese des Patriotismus noch einmal gezeigt werden soll.

"Praktisches Gefühl"2

Die nachwachsenden Generationen, sind, dem Lebensalter geschuldet, noch nicht oder nur vermittels der Eltern durch die Erfahrung beschädigter Interessen hindurchgegangen und ihr Verstand hat die Fehlschlüsse des erwachsenen Bewusstseins noch vor sich. Weil oder insofern die Welt der Kinder in der Regel von sorgenden Erwachsenen - nach Maßgabe ihrer Mittel - eingerichtet und geordnet wird, enthält sie noch wenig Gegensatz zum Interesse und kann als eine erscheinen, in der sich der kindliche Materialismus - überschaubar, wie er ist - bedient und beheimatet fühlt.

Bei Kindern kommt überdies die unmittelbare Gestimmtheit, ihr praktisches Gefühl, zur ausgiebigen Betätigung, das Erwartung und Umstände ganz vordergründig taxiert und als genehm oder unangenehm unterscheidet. Nicht dass dieses Vergleichen auf die Kleinen beschränkt wäre. Als verspürte oder vermisste Zufriedenheit, als gute oder schlechte Stimmung, auch als Laune betrifft dieses gefühlte Urteil jeden, der sich ins Wettergeschehen, in die U-Bahn, ins Büro, vor eine Schulklasse, zum Vorgesetzten etc. begibt. Auch die Eindrücke nach einem Umzug oder am neuen Urlaubsort gehören hierzu.

Vielen Mitbürgern verschafft dieses Gefühl sogar während der Abendnachrichten Ärger. Kinder halten aber die positive Gestimmtheit ihres Gemüts und ihr Vergnügen für besonders wichtig, oft streben sie vor aller Reflexion danach und fordern dabei nicht selten unvernünftige oder die Mittel der Eltern übersteigende Dinge. Auch ihren diesbezüglichen "Begründungen" und "Kritiken" merkt man die Herkunft aus dem Urteil dieses praktischen Gefühls an. Der vernünftige Hegel, zeitweise auch Lehrer, bemerkte dazu: "Das Vergnügen ist etwas Subjektives und bezieht sich bloß auf mich als einen Besonderen. Es ist deshalb kein Maßstab, womit eine Sache beurteilt werden kann."3 "Bei wichtigen Dingen erscheint daher der Umstand, dass mir etwas angenehm oder unangenehm ist, als höchst gleichgültig", weil das "gefühlte Urteil nur ein ganz zufälliges sein" 4 kann.

Die Sonne scheint nicht zu meinem Spaß; der Job fällt nicht leichter, die Firma zahlt nicht besser, die Corona-Impfung kommt nicht schneller, bloß weil mir das passen würde. Hier muss die Reflexion darüber einsetzen, was in meinem Interesse zu ändern wäre oder aus welchen Gründen nicht zu ändern ist. Damit allerdings ist die Ebene der zufälligen Passung und des Empfindens definitiv zu verlassen - vor allem, wenn das Interesse bemerkt, wie wenig es auf seine Kosten kommt. Wenn also die Kritik und der Wille zur Änderung nicht nur die nervige Nachbarschaft, den öffentlichen Nahverkehr oder die Atmosphäre am Arbeitsplatz betreffen, sondern so etwas wie ein gesellschaftliches Verhältnis, von dem Schaden droht und ausgeht.

Dann wären theoretische Anstrengungen angezeigt, die zugleich die populären Befunde über verantwortungslose Unternehmer, volksferne Politiker, faule Sozialbetrüger oder den Verlust der Heimat hinter sich lassen. Diese Art von Kritik weiß erstens selber, wie wenig sie bewirkt, und rechnet sich ohnehin nur die Chance aus, einen Politiker zu finden, der sie in Wahlstimmen verwandelt. Dafür reicht zweitens das oberflächliche Urteilsvermögen des praktischen Gefühls durchaus hin, denn über Bebilderungen der verspürten Unzufriedenheit gehen die Befunde gar nicht hinaus.

Bei Heranwachsenden würde man hier von einer "Motzkultur" sprechen. Zum Dritten bekräftigen solche fehlerhaften Urteile die Überzeugung von Patrioten, dass ihre Interessen in den Zwecken der Nation eigentlich gut aufgehoben sind. Wer bloß moniert, dass die Zuständigen eine Sache immer nur schlecht verwalten, kritisiert diese Zuständigkeiten nicht und schon gleich nicht die Sache, sondern unterschreibt beide.

Davon sind Kinder noch ziemlich entfernt. Die Prüfung der Lebensumstände durch ihre unmittelbare Gestimmtheit kann, das entsprechende Elternhaus gegeben, den Eindruck hinterlassen, als könnten die Umstände zum Bedürfnis passen. Polizist, Feuerwehrmann oder Fußballprofi werden zu wollen, belegt auf Seiten der Jungs den naiven Zusammenschluss von Ich und Welt, in dem ein kindlicher Gemeinsinn geradeso aufgehoben sein kann wie eine Tagträumerei. Mädchen möchten aus demselben Grund Krankenschwester, Lehrkraft oder Pferdezüchterin werden. "In der Jugend traut man sich zu, dass man den Menschen Paläste baut", sagt Goethe zum Sturm und Drang, den sich Halbwüchsige in gewissen Grenzen leisten können.

Erziehung und Bildung

Die Erwachsenen sind gemeinhin intelligent und lebenserfahren genug, um im Prozess der Erziehung eine Menge von Unwissen, Unbedachtheit, fehlgehenden Urteilen oder auch Sperrigkeiten des kindlichen Gemüts zu korrigieren, und das Kind, so gut sie es verstehen, auf vernünftige Gleise zu setzen. Die Kinder lernen sich waschen und kämmen, essen zunehmend auch Gemüse, gehen nur bei Grün über die Ampel, gewöhnen sich ans Stillsitzen und überwinden mit und ohne "Trotzphase" manchen Unwillen gegenüber solchen Notwendigkeiten.

Auch die sog. Kulturtechniken und andere lebenspraktische Kompetenzen kriegen bürgerliche Eltern im Verbund mit staatlich beauftragten Pädagogen beim Nachwuchs hin. Letztere übernehmen zunehmend die Teile der Ausbildung, die das Elternhaus nicht liefert, die Erwerbsarbeit in einem fortgeschrittenen Kapitalismus aber erfordert. Kindliche Träumer und jugendliche Rebellen kann die Erziehung durchaus zu "Realisten" machen. In einer wesentlichen Hinsicht allerdings bekräftigt die versammelte Erwachsenenwelt das praktische Gefühl des Kindes als Ratgeber beim Urteilen, statt es wie sonst zu korrigieren. Und zwar genau da, wo sie erst selber lernen müsste, über ihren Schatten zu springen: In den substanzielleren Fragen von Gesellschaft, Ökonomie und Staat reicht die Bildung über eine Vermittlung von Moral nicht hinaus.

Aus dem berufenen Munde von Elternhaus, Kiga und Grundschule vernimmt das Kind, den Bäcker gebe es (dies die didaktische Reduktion der Wirklichkeit von Brotfabriken) wegen der Sesambrötchen. Warum der Schneider nach Bangladesch umgezogen ist, lässt sich den Kleinen noch nicht so recht erklären. Dass Ausländer (aber nicht zu viele) "uns" die Müllabfuhr machen oder bei der Obsternte helfen dürfen, versteht sich schon eher. Polizei und Armee würden die Bösen auf Abstand halten, und Politiker sich um das Ganze kümmern, weil die Bäcker und Polizisten (wie der Papa auch) dafür keine Zeit hätten - was sich der kindliche Verstand am Beispiel der Berufsfeuerwehr irgendwie einleuchten lässt.

Die weiterführenden Schulen, deren Selektion auf die Hierarchie der Berufe mit ihrer Basis in der Lohnarbeit vorgreift und vorbereitet, und der Arbeitsmarkt selbst, wo man sich später einen halbwegs passenden Job in Konkurrenz zu anderen ergattern muss, präsentieren sich als offenes Angebot an adoleszente Neigungen, "Begabungen" und Wünsche. Ähnliches gilt für die marktwirtschaftliche Warenwelt, wo der Youngster, seinem Jargon zufolge, kein neues Handy kauft, sondern sich eines "holt". Stets weisen die gediegenen Fehlurteile des Patriotismus dem fehleranfälligen Denken der Kinder und Jugendlichen die Richtung. Die erwachsene "Motzkultur" tut ein Übriges, um die ersten schlechten Erfahrungen aus den zu befolgenden "Sachzwängen" in Schule und Ausbildung verarbeiten zu helfen.

Da Kritik dieser Art auf dem falschen Bewusstsein beruht, es mit dem Heimatland und seinen Einrichtungen im Prinzip gut getroffen zu haben, stellt sich bei aller Beschwerde immer auch die selbstkritische bis selbstzweiflerische Frage ein, ob man im Falle seines Pechs und Schadens nicht selber ein gehöriges Maß an Schuld trägt, weil man als seines Glückes Schmied vermeintlich versagt hat.

"Schmerzhafter Übergang"

Die Indienstnahme des heranwachsenden Verstandes für einen Nationalismus, der "in den gewöhnlichen Lebensverhältnissen das Gemeinwesen als substantielle Grundlage" (Hegel s.o.) anzunehmen lernt, verläuft nicht immer reibungslos. Hegel redet immerhin von einem "schmerzhaften Übergang", in dem "der Friede, in welchem das Kind mit der Welt lebt, gebrochen" wird und ein "Widerwillen gegen die Wirklichkeit" zu überwinden ist.5 Das kommt eben daher, dass dieser kindliche Frieden, den die Erwachsenen zunächst praktisch arrangiert und theoretisch bekräftigt haben, vom Alltag einer Konkurrenzgesellschaft eingeholt wird. Es mag sein, dass jeder gesellschaftliche Erziehungsprozess sich mit den selbstbewusster formulierten Interessen von Heranwachsenden reiben kann, aber der "Widerwillen gegen die Wirklichkeit", um den es hier geht, ist weder "natürlich" noch "menschlich". Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind beobachtbar und gehen auf gesellschaftliche Rollenbilder zurück.

Auch eine soziale Staffelung ist offensichtlich, was z.B. Lehrkräfte bemerken, wenn sie es mit dem "Widerwillen" von Klienten zu tun kriegen, denen der Status von "Hauptschülern" zugewiesen wurde und die dergestalt mitkriegen, welches Spektrum von Lebensumständen auf sie wartet. Jugendliche Delinquenz gehört auch in diesen Kontext.

In der Regel aber leistet die Konkurrenz in der Ausbildungs- und Arbeitswelt ihren zuverlässigen Dienst für eine Anpassung, die Pädagogen dann "unentbehrlich", "automatisch" und "vernünftig" nennen. Dabei ist es nur die Überführung des kindlichen und heranwachsenden Sollens in ein erwachsenes Wollen, das eine bürgerliche Klassengesellschaft benötigt. Dabei lassen sich dann auch Jugendliche die paar Stücke Weltanschauung einleuchten, die zum Nationalismus gehören und der Gewöhnung an missliche Lebensverhältnisse einen Sinn geben.