Was den Ukraine-Krieg zur globalen Gefahr macht

Seite 2: Militärische Automatismen

Allerdings geschieht das Gegenteil. Es besteht nicht bloß darin, dass wir keine ernsthaften Verhandlungen anbieten und den Rest den Launen Putins überlassen.

Viel schlimmer noch: Wir sind aktive Provokateure im Vorlauf zu einer möglichen Katastrophe. Indem wir uns eskalierend Schritt für Schritt jener rote Linie annähern, die schließlich zum russischen Ersteinsatz von Nuklearwaffen führen könnte, reduzieren wir unsere eigene Sicherheit möglicherweise bis auf null.

Wir stimulieren und animieren den Gegner, indem wir ihn etappenweise bis an jene Schwelle drängeln, an der er die Selbstbeherrschung verliert oder an der schon lange der atomare Ersteinsatz geplant war. Letzteres wäre der Punkt, an dem sich seine Militärmaschine selbständig macht.

Strategische Planungen haben die Tendenz, im Krisenfall ein Eigenleben zu entwickeln. So unterlag der Beginn des Ersten Weltkriegs Automatismen, die Jahrzehnte vorher festgelegt worden waren und in die aktuelle Situation kaum mehr passten. In Deutschland gehörte der Schlieffen-Plan dazu. Dann handeln nicht mehr Politiker, sondern Militärs, die glauben mögen, ein Nuklearkrieg sei nun unumgänglich, weil dafür Pläne vorliegen.

Der Politik- und Risikoanalyst Alexander Dubowy beschreibt in der Berliner Zeitung sehr gut, wie der Westen zurzeit verfährt. Er betreibe ein "Spiel aus Versuch und Irrtum. Damit kann jede beliebige Handlung des Westens von Wladimir Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden."3

Es ist also Putins Sache zu entscheiden, wann er eine Grenzüberschreitung feststellt, die ihn zum Einsatz von Atomwaffen motiviert oder wann die in militärischen Planungen gezogene Grenze überschritten worden ist. Der Westen testet aus, verstärkt seine Provokationen und wartet.

Objektiv ist es ein kaltblütiges Spiel mit dem Leben der Menschen. Geht Putin nicht in die atomare Offensive, hätte der Westen gewonnen, andernfalls aber ist das Schicksal Europas und vielleicht auch der Welt besiegelt.

Brinkmanship

Dieses Verfahren ist nicht neu. Es gehört zum klassischen Werkzeug einer Außenpolitik, die ehemals den sowjetischen Kommunismus zurückdrängen und notfalls mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte. Sie beruhte – so der US-Außenminister John Foster Dulles – auf der "Fähigkeit, bis an den Rand eines Krieges zu gehen, ohne in einen Krieg zu geraten. (…) Wenn man Angst davor hat, bis an den Rand des Abgrunds zu gehen, ist man verloren."4 "Brinkmanship", eine Politik am Abgrund, wurde das genannt.

Brinkmanship fand vor allem während der Kuba-Krise statt. Präsident Kennedy und seine Berater waren sich vollkommen bewusst, dass man den Konflikt absichtlich so weit trieb, bis man das Weiße im Auge des Gegners sah und sich direkt in der Todeszone befand.

"Wir werden nicht verfrüht oder unnötigerweise einen weltweiten Nuklearkrieg riskieren, (…) aber wir werden vor diesem Risiko auch nicht zurückschrecken, wenn wir ihm gegenüberstehen", so John F. Kennedy am 22. Oktober 1962 vor 100 Millionen Fernsehzuschauern und Radiohörern.5

Im Gegensatz zu heute war das eine ehrliche Ansage. Heute dagegen betreibt man Brinkmanship und leugnet es zugleich. Man baut auf der verbreiteten Naivität und dem Unwissen der Bevölkerung auf, die sich unter dem Atomkrieg nichts mehr vorstellen kann oder bereit ist, die Gefahr einfach auszublenden.