Was die Änderung des Infektionsschutzgesetzes bringt – und wo nachjustiert werden muss

Seite 2: Verhältnis zu §§ 28, 28a IfSG: Welcher Inzidenzwert greift?

Die Verbotsbestimmungen in § 28b IfSG-E haben faktisch aber auch erheblichen Einfluss auf die Schutzmaßnahmen der Länder und kommunalen Körperschaften. Denn sie sind freilich weiterhin zur Pandemiebekämpfung im Rahmen der §§ 28, 28a IfSG berufen.

Nun knüpft § 28b IfSG-E maßgeblich an die Überschreitung von Inzidenzwerten an. Wird in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz von 100 überschritten, so gelten dort ab dem übernächsten Tag die in § 28b IfSG-E genannten Maßnahmen.

§ 28a Abs. 3 IfSG sieht hingegen vor, dass bereits bei einer Überschreitung des Inzidenzwertes von 50 "umfassende Schutzmaßnahmen", bei über 35 "breit angelegte Schutzmaßnahmen" zu ergreifen sind.

Nun enthält § 28a Abs. 1 IfSG aber eine Reihe von Regelbeispielen, die sich mit den Verboten des § 28b IfSG-E überschneidet.

Das wirft unweigerlich die Frage auf, welche Schutzmaßnahmen bei den jeweiligen Inzidenzwerten noch zu ergreifen sind, wenn eine Vielzahl der bislang bekannten Maßnahmen (etwa Ausgangsbeschränkungen, Schließung von Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen etc.) offensichtlich erst bei einem Inzidenzwert über 100 eingreifen sollen. Jedenfalls wird durch den neuen § 28b IfSG-E bundesweit ein gewisses Mindestniveau an Schutzmaßnahmen sichergestellt, das die einzelnen Länder und Kommunen nicht mehr unterschreiten können.

Die Exklusivität des Inzidenzwerts hat ausgedient

Dabei wäre es generell an der Zeit, die Exklusivität des Inzidenzwertes als Richtschnur der Pandemiebekämpfung aufzugeben. Es kann nämlich schon aus rechtlicher Perspektive nicht überzeugen, wenn zunehmend relevante Kennziffern ausdrücklich keine Beachtung finden.

Dabei ist es gewiss keine epidemiologische Fachfrage, sondern trägt allgemeineren Grundsätzen umfassender Sachverhaltsermittlung Rechnung, dass erst die Betrachtung und Bewertung aller verfügbaren wissenschaftlicher Erkenntnisse, namentlich aller tonangebender Parameter – zu denen auch etwa die Einbeziehung der Teststrategie, des Immunisierungsstatus der Bevölkerung, des Reproduktionswerts, des Impffortschritts sowie der Intensivbettenkapazität zählen – die Tatsachenbasis möglichst präzise abbilden kann, auf derer infektionsschutzrechtliche Ge-/Verbote angeordnet werden.

Es versteht sich in gewisser Weise von selbst, dass bei einem über 35 bzw. 50 liegenden Inzidenzwert tatsächliche Anhaltspunkte für eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit bestehen. Doch je mehr etwa die vorstehend genannten Parameter auf die Lebenswirklichkeit einwirken, desto weniger eignet sich der starre Inzidenzwert als Direktive, das "Ob" der in Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrags notwendigen Schutzmaßnamen zu bestimmen. Letztlich sei nicht unerwähnt, dass auch die Bundesärztekammer zunehmend deutliche Kritik an der Festlegung auf die Sieben_Tages_Inzidenz als alleinig relevanten Wert äußert.